Auf einen Tee mit Idil Baydar

Foto: Pressebild Idil Baydar

(iz). Am 04.06.16 konnte die IZ Idil Baydar Schauspielerin und Comedienne, auch bekannt als Jilet Ayse, treffen und bei einem gemeinsamen Tee, mal genauer nachhaken, um zu erfahren wer diese energiegeladene und facettenreiche Frau ist, was sie antreibt und was es mit ihrer künstlerischen Arbeit alles auf sich hat. Eine erfrischend, heitere Begegnung der es in keiner Weise an Inhalten mangelte.
Frau Baydar, in Ihrem aktuellen Programm „Deutschland, wir müssen reden!“ lernt der Zuschauer Jilet Ayse, Deutschlands Integrationsalbtraum, kennen. Wer ist Jilet Ayse und wen repräsentiert die Figur?
Jilet Ayse ist aus meiner Perspektive Deutschlands Integrationsalbtraum. Jilet Ayse repräsentiert die Narrative der Deutschen über Migranten. Ich glaube das ist etwas, was man hier klarstellen muss, es ist die Erzählung der Deutschen über die Migranten die hier leben, besonders diese Identitäten wie Jilet Ayse, die ja eigentlich in den Bereich der Jugend gehören. Es sind also Jugendliche und keine Erwachsenen in dem Sinne. Das Problematisieren findet immer da statt, wo eh schon die schwierigste Zeit eines Individuums ist, nämlich in der Pubertät. Ganz legitime Problematiken zieht ihr in einen Identitätszirkus und baut daraus ein Klischee über Migranten, das nichts mit der Realität oder mit der Wahrheit von hier lebenden Migranten zu tun hat.
Was ist die Message hinter der Figur? Was ist die Intention von Jilet?
Also, Jilet teilt sich natürlich mit in einer gewissen Form mit und versucht eigentlich der vermeintlich aussterbenden deutschen Bevölkerung sozusagen Integrationshilfe zu leisten. Da ihr ja bald aussterbt, werdet ihr ja weniger werden und das heißt ja, dass sie sich in einer Mehrheit von Migranten zurecht finden muss. Ich glaube das was Jilet unbewusst macht, ist die Rollen verdrehen, also die Positionen. Was wäre also wenn sie dann zur Mehrheitsgesellschaft gehört und ihr dann in der Minderheit seid?
Und bedient damit wieder das Klischee oder die Zuschreibung der Angst vor Überfremdung?
Natürlich. Das geht wirklich nur ausschließlich in dem Zusammenhang mit der Identität zu der man gehört. Und man muss sich fragen, in wie weit das zusammenhängt mit der deutschen Narrative. Also, mit all den Klischees und Vorurteilen mit den wir ja hier groß werden, die für uns ja schon fast identitätsstiftend sein sollen. Es ist ja schon der Eindruck von meiner Position aus: „Bleib mal schön auf Deinem Platz!“, weil mit einem gut deutsch sprechenden Ausländer kann man gar nichts anfangen. Was repräsentiert wird sind Probleme, sind Schwierigkeiten von einzelnen Individuen die kollektiviert werden. Und genau daran merkt man auch, dass die Definitionshoheit über die Identität von Migranten nicht die eigentliche Minderheit hat, sondern immer die Mehrheitsgesellschaft.
Die zweite Figur in Ihrem Programm ist Gerda Grischke, die Nazioma aus Neukölln. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Figuren Jilet und Gerda?
Ja, ich denke es ist der Machtanspruch und den Anspruch zu haben normal zu sein, so wie man ist mit dem was man denkt. Das ist eine gewisse Art von Deutungshoheit, um die die beiden kämpfen. Und, sie sind sich vielleicht auch ähnlich in ihrer Aggression. Gerda Grischke ist ja durchaus sehr aggressiv. Jilet dagegen ist gar nicht so aggressiv, zumindest erst mal. Aber Jilet sieht eben phänotypisch aggressiv aus. Es ist echt spannend, dass die eigentliche Aggression bei Gerda liegt. Jilet ist eigentlich nur aufgrund der Zuschreibungen aggressiv, denn wenn man sie mal beobachtet, wie sie in der Show damit umgeht, wenn sie zum Beispiel das Publikum fragt: „Habt ihr AfD gewählt? Wer war das? Lass mal reden!“. Und dann gab es tatsächlich Leute die den Arm gehoben haben und sagten: „Ja, ich habe die gewählt.“ Dann erwartet man von Jilet als Reaktion so etwas wie „Du Hurensohn!“. Aber was Jilet macht ist: „Ey, gib mal ein Applaus dafür das er so ehrlich war! Jetzt können wir reden.“ Das ist nicht aggressiv. Ich konstruiere also eigentlich permanent mit Jilet Ayse die Situation der Zuschreibungen und äußerlichen Merkmale, aber sie macht was ganz anderes in der Show als erwartet wird und das ist die Überraschung, denn genau da bricht es sich.
Könnten Jilet Ayse und Gerda Grische eigentlich Freunde sein? Wenn ja, wie sähe das aus?
Ich glaube, dass die beiden tatsächlich Freunde sein können und das würde so aussehen, dass Jilet bereit wäre zu akzeptieren das Gerda so ist wie sie ist und umgekehrt genau so. Ja, dass man den Zustand einfach akzeptiert, dann wäre eine Freundschaft denke ich möglich zwischen den beiden. Es muss wirklich klar sein: „Ja, Du bist ein Nazi, aber is mir egal!“ und aber auch umgekehrt: „Ja, aber Du bist och nen Integrationsalbtraum!“. Und genau deshalb spreche ich ja in meiner Show von Kartoffel und Kanake, weil uns das auf Augenhöhe bringt. Das bringt uns rein von den Privilegien her eigentlich auf Augenhöhe und ich glaube unter genau diesen Umständen, könnten die beiden auch Freunde sein.
Ihr phänomenales Comedian-Dasein wird ja auch in der Presse gefeiert. Wie kommt Ihr Schaffen innerhalb der türkischen/arabischen/muslimischen Community an?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt eben ganz große Anzahl von jungen Menschen die sich natürlich endlich mal gesehen fühlen mit dem was sie da eigentlich in ihrer Identität durchmachen. Ich bin sicher, dass sehr viele verstehen, dass das mit der Realität nichts zu tun hat, merken aber auch, dass das genau das ist womit ich mich in der Realität aber ständig auseinander setzen muss. Permanent werde ich damit übergossen und überzogen. Ich finde das sehr spannend, dass es eben teilweise sehr junge Menschen sind, die ich erreichen kann, weil ich das ganze eben einfach total überspitze. Ich bin mit Jielt dann so etwas wie eine Projektionsfläche. Man sieht das auch immer an den Kommentaren in den sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel: „Guck mal, die ist ein bisschen so wie Du.“ und dann immer auch da entsprechende Veto: „Nee, dass stimmt gar nicht“. Ich finde das echt super, dass das so aufgegriffen wird. Da ist also offenbar die Möglichkeit, dass man sich und seine eigene Identität projizieren kann und das finde ich wichtig, denn das haben sie so nicht. Sie haben gar nicht die Möglichkeit. Sie werden mit einem Thema konfrontiert, dass unglaublich sozialpolitisch ist und die wenigsten haben die Fähigkeiten damit adäquat umzugehen, weil sie in ganz anderen Lebenssituationen stecken.
Gibt es auch andere Formen der Kritik aus der Community?
Klar. Es gibt auch die die ganz klar sagen: „Ey, du blamierst uns und stellst uns so dar, als ob wir so wären.“ Das gibt es auch. Und es gibt auch die,die ganz klar sagen: „Bitte hör auf damit, denn die Leute verstehen das nicht. Das wird uns nur zum Nachteil werden und betoniert noch mehr die Vorurteile. “ Ja, diese Stimmen gibt es eben auch.
Was konkret meinen Sie mit den gerade beschriebenen Lebenssituationen von jugendlichen Migranten?
Ich wollte damit sagen, dass Jugendliche rebellieren müssen, dass ist auch ihre Aufgabe, damit ihre Entwicklung zu ihrem Vorteil von statten geht. Ich finde das echt eklatant, dass man junge Menschen in ihren Lebenssituationen ja schon fast ausbeutet mit dieser Thematik „Kanake“. Und keiner benennt das. Das ist doch echt seltsam. Das das niemand aufsteht und sagt: „Moment mal!“ Es geht immer um sozialen schwache Migranten oder um Menschen die in derart schwierigen Lebenssituationen stecken, die eigentlich dringend unsere Hilfe bräuchten. Es geht immer um die Schwächsten der Schwachen die bisher keine Möglichkeit hatten, um zu lernen wie diese Zwischensprachlichkeit dieser Gesellschaft funktioniert. Es werden die ausgeschlachtet wo es oft auch um Gewalt in den Familien geht, die mit Gewalt erzogen werden und keine Unterstützung bekommen sich damit bewusst auseinander zu setzen. Aber klar ist, dass ist eine Minderheit und nicht wie dargestellt die Mehrheit.
Glauben Sie, dass in dem Moment wo Sie damit auf die Bühne gehen, Sie ein Störgefühl hervorrufen, weil Sie damit etwas innerfamiliär unbedingt Schützenswertes aufbrechen?
Das mag vielleicht sein. Genau kann ich das aber nicht sagen, ob ich damit etwas aufbreche, denn dazu müsste ich sicherlich erst einmal Daten darüber sammeln wie jeder einzelne auf diese Figur reagiert, um so eine Einschätzung treffen zu können. Ich kann nur auf das Bezug nehmen was ich so als Feedback bekomme oder in den Kommentaren lese und auch das sind nur Ausschnitte eines Ganzen. Meine Feststellung ist allerdings interessanter Weise, dass die Kritik an meinen Inhalten nicht von einer bestimmten Gruppierung kommt, sondern sich durch alle sozialen Schichten zieht. Es gibt genau so intellektuelle Türken die das kritisieren wie andere soziale Schichten eben auch.
Es ist ja ausreichend bekannt, dass Sie sich gerade im Bereich der Jugendarbeit für sogenannte Migranten engagieren, z.B. über Vorträge oder über Projektarbeit mit Jugendlichen. Wie genau sieht Ihr Engagement aus?
Also, z.B. gehe zu Joblinge. Das ist ein ganz toller Verein der mittlerweile deutschlandweit arbeitet. Hier kommen dann die Jugendlichen mit echt schwierigen Startbedingungen hin, die so ihre 70, 80 oder über 100 Bewerbungen geschrieben haben und eben nicht so ohne weiteres einen Ausbildungsplatz bekommen. Joblinge coacht und betreut diese Jugendlichen ganz intensiv, auch während sie in ihrer Ausbildung sind, so dass das wirklich erfolgreich abgeschlossen werden kann. Und ich glaube, dass das auch die Motivation von Jilet Ayse ist: diese Unwilligkeit genau diese Jugendlichen in unsere Gesellschaft zu lassen, wird auf diese jungen Menschen einfach problematisiert. Diese Jugendlichen werden problematisiert. Wer sitzt eigentlich da und sagt: „Ich habe ein Problem damit!?“ Diese Fairness gibt es nicht einmal. Also, dass man sagt: „Nein Moment mal, da gibt es eine Situation und ist nun die Situation das Problem oder bin ich diejenige die ein Problem mit dieser Situation hat, weil ich einen ganz bestimmten ethnozentrischen Blickwinkel darauf habe?“. Es ist echt spannend, dass man sich immer versucht aus der Verantwortung „wie bewerte ICH die Dinge“ heraus zu ziehen. Also, es ist es nicht einmal wert darüber nachzudenken, wo eigentlich die Verantwortlichkeit meiner Interpretation hingehört? Es ist nämlich meine Bewertung und meine Interpretation und nicht die von meinem Gegenüber. Das ist auch der Teil den ich so anstoßen möchte, dass man die Verantwortung nicht einfach so abgeben kann. Ich bin zu tiefst überzeugt, dass alles da draußen ein Spiegel ist, der eigentlich nur dazu dienen soll, Dich zu lieben – bedingungslos.
Können Sie das noch genauer fassen was Sie antreibt sich zu engagieren? Was ist Ihre persönliche Motivation?
Ich glaube, dass ist verknüpft mit meiner eigenen Biografie, in dem Sinne, dass ich nicht in einer Familienstruktur groß geworden, sondern eigentlich in Gemeinschaften. Meine Mutter hat mich sehr früh in ein Internat gegeben, auf ein Waldorf-Internat – da war ich zehn Jahre alt. Das bedeutet, dass ich früh gelernt habe in Gemeinschaften zu denken und leben. Ich projiziere meine eigenen Lebensinhalte nicht auf eine Familiensituation sondern auf eine Gemeinschaft. Und es gibt einen weiteren persönlichen Teil in meinem Engagement, nämlich dass ich diese Konsequenz aus der Narrative erlebe. Ich erlebe das ja. Deutschland hat mich mehr oder weniger produziert in dieser Narrative über Migranten und erkennt seine eigene Produktion nicht an, sondern versucht sie zu verfremden. Auch aus mir, eine die hier geboren ist, wird versucht etwas Fremdes zu machen.
Um dann die Verantwortung für das Miteinander wieder abzugeben?
Ja, genau. Und genau das hängt mit meinem Engagement für diese Jugendlichen zusammen, zum einen habe ich ja selbst in dem Bereich viel Erfahrungen gesammelt, im Rahmen der Jugendarbeit. Und außerdem meine ich, dass das die Schwächsten sind, die geschützt werden müssen. Wer beschützt diese Jugendlichen? Wer unterstützt sie? Wer beschützt diese Mädchen, die mit einem Notendurchschnitt von 1,7 von ihrer Lehrerin zu hören bekommen, dass sie sich jetzt bei Aldi bewerben können? Wer beschützt sie eigentlich vor dieser Art der Auseinandersetzung? Das packen wir als Gesellschaft auf die rauf, als ob das erwachsene und ausgereifte Psychen sind. Deren Psychen sind aber nicht entwickelt wie die von Erwachsenen, um sich entsprechend zu wehren, um eventuell mit klarer Kommunikation zu antworten. Das ist einfach nicht der Fall. Diese jungen Menschen sind in einem absoluten Zustand der Suche und sie wissen gar nicht mehr wo oben und wo unten ist. Was gestern wahr und echt gewesen ist und gegolten hat, gilt dann heute nicht mehr in dieser Entwicklungsspanne. Das muss ja auch so sein. Sonst kann diese Bewegung, dieser Reifeprozess um in die Gesellschaft zu kommen auch nicht gelingen. Und es ist mir ehrlich gesagt auch deshalb wichtig mich zu engagieren, denn ist mein Ausdruck von meiner Liebe Deutschland gegenüber, weil ich eigentlich viel mehr von Deutschland halte, als das was da läuft. Das ist für mich nicht Deutschland und ich möchte, dass auch die Deutschen einen klareren Blick darauf bekommen und sich auch Gedanken machen und erkennen können, dass ich da gar nicht so unrecht habe. Es ist wichtig, dass sie merken, dass sie gar kein positives Bild von einem Muslim haben, wir haben da ja nur negative. Es gibt ja gar keine Geschichten die positiv muslimisch motivierte Taten erzählen oder zeigen. Die gibt es nicht.
Also, medial nicht?
Gerade das medial nicht. In der Realität ist das natürlich anders. Beziehen wir es mal rein auf das Mediale denn das Mediale prägt uns ja in unserer Meinungsbildung maßgeblich. Diesen Ansatz der Veränderung zu unterstützen, dass der andere sagt: „Mensch, stimmt ja. So habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht.“ – das ist mir echt wichtig. Auch ich projiziere ja meine eigene Wut und Verzweiflung auf eine deutsche Mehrheitsgesellschaft. Das sind aber auch alles Individuen die genau das gleiche Recht haben in ihrer Individualität gesehen und auch gefördert zu werden, genau da wo sie gerade stehen. Es ist also auch ein Teil von mir zu sagen: „Schau mal, dass läuft einfach nicht gut und bitte, bitte ändere das. Ich traue Dir das zu, Du kannst das und ich halte so viel von Dir! Es darf nie heißen, dass wenn Du mich jetzt abgewertet hast, darf ich Dich dann auch abwerten.“ Nein, ich möchte gern zeigen wie es anders funktioniert. Und wenn ich mir mein Publikum so anschaue, dann stelle ich fest, dass mittlerweile ganz viele Deutsche das auch verstehen und das macht mich echt glücklich. Weißt Du wie schön das für mich ist und was mir das bedeutet?!
Bei meinem Besuch Ihrer Show in der Bar jeder Vernunft habe ich das spüren können und es war sehr bewegend. Würden Sie sagen, dass Ihre Arbeit auch etwas Missionarisches hat?
Ja, Wahnsinn! Und wenn diese Chemie dann so zusammen kommt, das ist einfach unglaublich und ich denke mir dann so: Ja, Hammer! Viele fragen mich dann auch immer: „Warum gehst Du denn nicht zu denen die eigentlich überzeugt werden müssen?“ Also, dieser missionarische Gedanke – das ist gar nicht mein Recht. Ich stelle Dir ein Angebot und Du kannst zu mir kommen, scheiß egal wer Du bist, aber ich maße mir nicht an zu Dir zu gehen und Dich von irgendwas zu überzeugen, was Du entschieden hast zu denken. Es ist Deine freie Wahl und es liegt in Deiner Verantwortung – ich kann Dir nur das Angebot machen. Ich werde nicht hingehen und versuchen rechtsorientierte Menschen zu überzeugen, das wäre Schwachsinn. Ich will doch vermitteln, dass Leben positiv ist und das heißt nicht, dass ich zum Negativen gehe und es fertig mache. Positivität bedeutet das Positive zu stärken. Ich stärke mein Lager, in dem ich die stark mache, die diesen Kampf so oder so führen müssen. Und genau da soll die Energie hin, weil genau da trägt sie Früchte. Es ist doch meine Verantwortung wenn ich versuche einem Tauben ins Ohr zu schreien, oder nicht? Der Taube wird sagen: „Wallah, ich versteh` nicht was Du sagst!“ . Vor allem werde ich dann sauer, wenn er nicht versteht was ich sage. Das ist doch Irrsinn das zu versuchen.
Was glauben Sie brauchen wir für ein respektvolles und gelingendes Multikulti?
Ich hab neulich Exklusiv gesehen. Das schaue ich mir hin und wieder an. Es ist bunt und das kann so neben her plätschern, zum Abschalten. Als ich das aber das letzte Mal gesehen habe, habe ich mich echt erschrocken. Als ich mir das angesehen habe, war ich echt schockiert, als ich gesehen und gehört habe in welcher Art und Weise wir über einander sprechen. Das ist so was von voller Gewalt, so was von negativ. Was wir uns anmaßen so ohne weiteres die Urteile über andere zu fällen. Mich hat das echt schockiert. Ich hab die Sendung an diesem Abend das erste Mal bewusst gesehen und habe mir diese Fragestellungen auch bewusst angehört und war nur schockiert darüber, wie lieblos wir miteinander umgehen. Und ich glaube, dass das etwas ist, was wir unbedingt verändern müssen. Wir müssen die Art und Weise wir miteinander und übereinander reden verändern. Und, wir müssen grundlegend verändern wie über Menschen aus andern Kulturen sprechen. Da haben wir es wieder, Erich Fromm hat damit auch einige Bücher gefüllt, das Thema Sprache. Sprache impliziert etwas, Sprache kreiert. Es ist ein Werkzeug zum Kreieren und wenn wir gut in einer multikulturellen Gesellschaft leben wollen, dann müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass wir das was wir da als Chancengleichheit und die Ansprüche die wir als Gesellschaft an uns haben, dass wir die wirklich anfangen umzusetzen. Das Thema Rassismus zum Beispiel, ist offenbar bloß noch eine Auseinandersetzung auf dem Papier. Es werden maximal Berichte verfasst und das war es dann. Die Gesellschaft und auch die Politik nimmt ihre eigenen Ansprüche nicht ernst, denn würde sie das tun, gäbe es sofort eine Institution die sich ganz besonders gegen Rassismus durch Behörden und andere Institutionen engagiert und auch Möglichkeiten hat Dinge umzusetzen. Wir brauchen eine Institution, die z.B. Lehrer/innen checkt, um zu überprüfen ob sie aus ihrem Weltbild oder ihrer Ideologie überhaupt konform sind mit dem hier geltenden Grundgesetz. Kennen diese Menschen das überhaupt? Keiner hat eine echte Ahnung von seiner eigenen Grundlage. Wir müssen diese Grundlage erst einmal herstellen, in dem man das Wissen dafür bereithält, es zur Verfügung stellt und entsprechend die Strukturen ändert. Wir leben ja in total rassistischen Strukturen.
Gilt das für beide Seiten?
Absolut. Auf beiden Seiten! Absolut. Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist hier schon eine fortgeschrittene, weil sich hier überhaupt erst jetzt damit auseinander gesetzt wird. Das kann man gut sehen am derzeitigen Beispiel von Erdogan. Der sagt ganz klar was er will. Und sein Anspruch ist es nicht das Deutsche Grundgesetz zu leben. Und ich finde , wir können ihn auch nicht danach bemessen. Diesen eigenen Anspruch können wir nicht auf die Welt projizieren. Das ist ein Anspruch den sich Deutschland gestellt hat und das bedeutet, dass Deutschland diesen Anspruch erst einmal für sich umsetzen muss. Das ist einfach Ethnozentrismus. Wir haben uns diesen Anspruch gestellt, also dürfen wir nicht erwarten, dass andere es uns leicht machen, diesen zu erfüllen. Wieso haben wir eigentlich kein eigenes Unterrichtsfach zum Grundgesetz? Das wäre doch mal ein Anfang, um zu zeigen wie es geht. Aber keiner zeigt uns wie es geht, wir wissen es selber nicht. Es wird ja immer geschrien, dass Ausländer sich an das Grundgesetz halten sollen, aber die Deutschen halten sich selbst nicht einmal daran. Nicht einmal annähernd. Und man dennoch darf bei allem eines nicht vergessen, mein Erfolg heute ist auch ein deutscher Erfolg und das ist erster Linie. Es gab nämlich auch die Lehrer die mich unterstützt haben und mir sagten:“Großartig, Du bist sehr intelligent und das und das musst Du machen, um Erfolg zu haben.“
Warum sind Sie kein Fan von Begriffen wie Integration oder Migrationshintergrund etc.?
Also erst einmal, weil sie faktisch nichts beschreiben können, die Sachlage können sie überhaupt nicht fassen, dazu braucht es viel, viel mehr Worte. Und dann, dann bin ich ja kein Migrant, ich bin hier geboren und wieso werde ich dann dazu gezählt? Man versucht da irgendwie lieblos zu sortieren, so nach dem Motto: „Ach, interessiert mich nicht richtig, das sind einfach jetzt alles Migranten und keine Deutschen!“. Migrationshintergrund ist zum einem segregierend und zum anderen auch die Unwahrheit und sie teilt Deine Identität schon ein in eine Rolle, wo Du Dich am besten auch bitte aufhalten möchtest, nämlich Lager der Migranten.
Sind wir damit bei den vermeintlich deutschen Werten? Dem Deutschtum?
Na das kann Dir ja hier eh keiner sagen. Es ist doch echt bitter, dass das Grundgesetz nicht als deutsches Wertesystem gefeiert und gelebt wird, daraus leitet sich alles für eine stabile Gesellschaft ab. Alles! Man hat doch lange, lange versucht, im Sinne einer Vogel-Strauß-Taktik, von wegen Kopf in den Sand und so, getreu dem Motto: „Wenn wir das Wort ‘Rassismus’ einfach nicht zulassen, weder Daten erheben, ob es rassistisch motivierte Straftaten sind, dann kann man uns halt auch nicht festnageln dafür, dass wir rassistisch sind.“ Und daraus entwickelt man dann Konzepte und sagt: „Ja, aber die jungen Migranten sind ja so problematisch!“. Nein, das geht so nicht. Du bist problematisch und projizierst das aus Deinem Ethnozentrismus auf die Jugendlichen, weil sie in der Gesellschaft schwach genug sind und das machen kannst.
Im Herbst dieses Jahres dürfen wir gespannt sein auf Ihr neues Programm „Ghettolektuell“, können Sie  hier schon ein paar Dinge verraten auf die sich Ihr Publikum freuen darf?
Also, ich kann Dir auf jeden Fall verraten, dass das Thema Rassismus definitiv vertieft wird und das Thema „White-Privilege“ auch weiterhin eine Rolle spielen wird. Auch wird es darum gehen, wie Türken lieben, in Form der orientalischen Interpretation von Beziehung und Liebe. Wir Orientalen lieben nämlich auf eine echt spezielle Weise, nämlich: „Ich liebe Dich so sehr, dass ich Dich am liebsten zerreißen will!“ ohne irgendwas daran böse zu meinen. Wenn Du Dir mal den kulturellen Ausdruck von Orientalen in Bezug auf Liebe anschaust, dann hat das wirklich fast immer auch mit Schmerz zu tun. Es geht nicht so sehr um Liebe die Dich nährt, satt macht, Dir Flügel verleiht oder Dich zum wachsen bringt. Die kulturellen Verknüpfungen sind einfach ganz andere und das finde ich echt mega spannend, genau das mal zu zeigen. Es wird auf jeden Fall echt witzig und wieder super interaktiv und ich hoffe sehr, dass ich über den Humor wieder einiges aufbrechen kann, dass uns letztendlich wieder näher zusammen bringt.
Frau Baydar, wir sind nun am Ende unserer Interviewzeit und wenn Sie möchten, dann haben Sie das Schlusswort?
Oh, gerne. Das ist toll! Lass mich einen Augenblick nachdenken. Kurze Pause. Also, erst einmal danke, dass war echt ein total schönes Interview. Und dann, oh je. Ich möchte so gerne etwas sagen, dass auch so ein bisschen bleibt. Kurze Pause.Ja, mein Schlusswort ist, dass ich uns alle, mich eingeschlossen, daran erinnern möchte, dass die Welt da draußen ein Spiegel ist, in dem wir sehen, was wir selbst sind, gerade in Bezug auf unsere ethnozentrische Perspektive. Ich wünsche mir, dass wir über das Erkennen wirklich in eine Begegnung finden und das finden, was welcher Gott auch immer, uns allen mitgegeben hat, nämlich die Liebe untereinander.