Aus dem Alltag

Ausgabe 253

Foto: John | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Ich hatte mein Fahrrad abgestellt und wollte den Eingang zur Öffentlichen Bücherhalle öffnen, als von der Treppe, die zum Kundenzentrum des Ortsamtes Barmbek führt, heftiger Lärm zu hören war. Zwei Männer, offenkundig Mitarbeiter der Dienststelle, hatten eine renitente ältere Frau fest in den Griff genommen und drängten sie ziemlich unsanft aus dem Gebäude. Die Frau protestierte lauthals dagegen, dass sie von Amts wegen vor die Tür gesetzt wurde. Die Beamten ließen nicht mit sich spaßen. „Hausverbot!“, wurde ihr eingeschärft. „Sie haben bei uns vier Wochen Hausverbot!“
Die Rausgeworfene gab keine Ruhe. Sie schrie ihre Verzweiflung ungehemmt heraus. Die Umstehenden schüttelten den Kopf. Dann entdeckte die empörte Frau plötzlich mich. Sie trat zornesbebend auf mich zu und schrie mich an: „Sie, Sie! Sie sind ein berühmter Mann! Alle kennen Sie, der Bürgermeister kennt Sie, Udo Lindenzwerg kennt Sie …“ Ich musste bei mir selbst lachen: Ja, bei denen, die nichts haben, und bei den Verrückten, da bin ich vielleicht berühmt. Die Rebellin ließ nicht locker. „Helfen Sie mir! Gehen Sie mit mir zum Bürgermeister! Beten Sie nicht nur, schreiben Sie nicht nur Gedichte! Tun Sie was!“ Offenbar kannte mich die Frau. Ich kannte sie nicht. Sie stellte sich vor mir auf und ruderte mit dem rechten Arm, als wollte sie im nächsten Moment auf mich einschlagen. Mir war die Situation peinlich, nicht zuletzt der Gaffer wegen, die in Erwartung eines Dramas neugierig stehen blieben.
Ich schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Lieber Gott, hilf mir raus aus dieser Verlegenheit! Mach mich nicht zum Gespött der Leute! „Tun Sie was!“, lag mir die Frau in den Ohren. Ein Wort aus dem Qur’an kam mir in den Sinn: Böses sollst du mit Gutem vergelten! Und ich nahm mir ein Beispiel an Jesus: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt … Voller guter Absichten ging ich auf die Frau zu. Wie zum Gruß erhob ich meine Hand und streichelte ihr dann mehrere Mal über das Gesicht. Die Wirkung stellte sich auf der Stelle ein. Die Gepeinigte entspannte und beruhigte sich von einem Augenblick zum anderen. Ich umarmte sie. Sie bedankte sich. „Was soll ich tun?“ „Beten Sie!“, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Meinen Sie?“ „Ja, versuchen Sie es, laut oder besser leise. Gott hört Sie!“
Ein Polizeibeamter kam auf uns zu. Die fremde Frau suchte ihr Heil in der Flucht und rannte herüber zur U-Bahnstation. Der Polizist wandte sich an mich: „Kennen sie diese Dame?“ Ich verneinte. „Waren Sie nie mit ihr verheiratet oder befreundet?“ „Nein“, sagte ich. „Und warum sind Sie ihr dann so nahe gekommen?“ „Ich habe dabei an Jesus gedacht.“
Der Beamte war ratlos: „Sind Sie Mitglied einer Sekte? Oder einer Religionsgemeinschaft?“ Ich nickte mit dem Kopf: „Ich bin Muslim.“ „Muslim, und dann kommen Sie mir mit Jesus?“ „Ja, Jesus ist auch mein Prophet!“ In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, dass der Ordnungshüter auch in mir einen geistlich Verwirrten gesehen hat. Er verabschiedete sich kopfschüttelnd.