Beitrag: Das Umfeld des NSU im Untergrund ist von mindestens zwei Dutzend Kontaktpersonen durchsetzt gewesen

Erstaunliche Entwicklungen sind vor allem aus dem zuständigen NRW-Innenministerium bekannt. Berichten zufolge meldete das Landeskriminalamt kurz nach dem Anschlag, dieser sei als “terroristische Gewaltkriminalität” einzustufen. Keine 30 Minuten später wies das Ministerium das Landeskriminalamt an, den Begriff “terroristischer Anschlag” aus dem Schriftverkehr zu streichen.

(GFP.com). Eineinhalb Jahre nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bleibt die Aufklärung über die Position staatlicher Stellen gegenüber der Nazi-Terrorgruppe weiterhin aus. Mittlerweile ist bekannt, dass nicht nur die Ursprungsorganisation des NSU zahlreiche V-Leute diverser Geheimdienste in ihren Reihen hatte. Auch das Umfeld des NSU im Untergrund ist nach aktuellem Recherchestand von mindestens zwei Dutzend Kontaktpersonen staatlicher Stellen durchsetzt gewesen.

Eine Einschätzung des Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen, der NSU-Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 in Köln habe einen “terroristischen” Hintergrund, wurde innerhalb nur einer halben Stunde auf Anweisung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums kassiert. “Der Kern des NSU” sei de facto “von bezahlten Kontaktpersonen der Behörden umstellt” gewesen, urteilt Paul Wellsow, Mitautor mehrerer Publikationen zur Thematik und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag, mit Blick auf die V-Leute im Umfeld der Terrororganisation. Es sei “unglaubwürdig”, einfach “nur ‘von Pleiten, Pech und Pannen’ zu reden”. Man müsse die Frage stellen, “welche Beziehungen zwischen den Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der extremen Rechten in Deutschland tatsächlich bestehen”.

V-Leute im Umfeld des NSU
Aktuelle Recherchen belegen, dass sogenannte V-Leute diverser staatlicher Behörden von Beginn an in engem Kontakt zum “harten Kern” des NSU standen. Bereits kurz nach dem Auffliegen des Terror-Trios war bekannt geworden, dass der “Thüringer Heimatschutz” – die Neonazi-Truppe, der die drei Anfang 1998 abgetauchten Neonazi-Terroristen entstammten – nicht nur in beträchtlichem Maße von Geheimdienst-Spitzeln durchsetzt, sondern auch unter Nutzung von Verfassungsschutz-Honoraren in sechsstelliger Höhe aufgebaut worden war.

Auch nach dem Abtauchen des NSU waren V-Leute verschiedener Behörden im Umfeld des Terror-Trios platziert – mindestens “zwei Dutzend”, wie es in einem aktuellen Überblick heißt. Ein V-Mann habe den Untergetauchten Geld zukommen lassen, ein weiterer habe ihnen zunächst Sprengstoff und später ihre erste Untergrund-Wohnung beschafft. Die Baufirma eines dritten V-Mannes habe schließlich “im Zeitraum zweier Morde, die dem NSU zugeschrieben werden, Fahrzeuge angemietet” – ein Zusammenhang zu den Taten sei dabei, heißt es, nicht auszuschließen. “Der Kern des NSU war also de facto umstellt von bezahlten Kontaktpersonen der Behörden”, resümiert Wellsow.

Zurückgepfiffen
Bemerkenswerte Leistungen in Sachen Nicht-Aufklärung des Neonazi-Terrors haben im Laufe der Jahre verschiedenste staatliche Stellen vollbracht. Ein Beispiel bietet der Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004, bei dem 22 Menschen verletzt wurden – teilweise schwer. Jüngst haben Berichte für Aufmerksamkeit gesorgt, dass unmittelbar nach der Tat zwei Polizisten in Zivil am Tatort waren; dass es nur “ein Routineeinsatz” gewesen sei, sei “unwahrscheinlich”, äußert der CDU-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, Clemens Binninger, ein Ex-Polizist, und schließt nicht aus, es habe eventuell “vage Hinweise” gegeben, dass “etwas passieren” könne.

Erstaunliche Entwicklungen sind vor allem aus dem zuständigen NRW-Innenministerium bekannt. Berichten zufolge meldete das Landeskriminalamt kurz nach dem Anschlag, dieser sei als “terroristische Gewaltkriminalität” einzustufen. Keine 30 Minuten später wies das Ministerium das Landeskriminalamt an, den Begriff “terroristischer Anschlag” aus dem Schriftverkehr zu streichen. Nur einen Tag später dekretierte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) offiziell, die Tat habe keinen Terror-Hintergrund.

Gegenteilige Einschätzungen aus dem Verfassungsschutz, die sich auf identische Nagelbomben-Anschläge von Neonazis in migrantisch geprägten Straßen in London aus dem Jahr 1999 stützten, die auch in der deutschen Neonazi-Szene mit Aufmerksamkeit registriert worden waren, wurden von den Innenministern Nordrhein-Westfalens sowie des Bundes ignoriert. Clemens Binninger urteilt, die Terroristen hätten, da es aus Köln eine Videoaufnahme der Täter gab, durchaus gefasst werden können, hätte man die Möglichkeit eines Terror-Hintergrundes nicht ausgeschlossen.

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Zu den bemerkenswerten Fällen der Nicht-Aufklärung gehört auch der Kasseler NSU-Mord vom 6. April 2006, bei dem Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, in seinem Geschäft mit zwei Kopfschüssen umgebracht wurde. Laut den polizeilichen Ermittlungen hielt sich Andreas Temme, ein V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, zur Tatzeit in dem Internet-Café auf. Der Mann, der als Waffen-Spezialist gilt, will den “dumpfen Knall” nicht wahrgenommen haben, den die anderen Anwesenden hörten; er will eine Münze auf die Ladentheke gelegt haben, hinter der – unmittelbar zuvor – Yozgat erschossen wurde, ohne Blutspritzer oder die Leiche gesehen zu haben. Kurz vor seinem Besuch in dem Internet-Café hatte Temme mit einem seiner V-Männer telefoniert, einem Neonazi mit Kontakten nach Thüringen. Kurz nach dem Mord an Yozgat traf er sich mit einer weiteren “Quelle”, die ihn als ungewöhnlich “nervös” empfand. Seine Befragung durch die Polizei, die ihn im Verdacht hatte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, wurde vom hessischen Innenministerium verhindert; dabei war mittlerweile bekannt, dass der Mann privat sowohl Waffen wie auch Nazi-Devotionalien besaß. Bekannte hatten ihm den Spitznamen “Klein Adolf” verpasst.</b

Die NPD gestärkt
Bemerkenswert sind neben der Nicht-Aufklärung verschiedenster Umstände der NSU-Morde und -Anschläge auch die Aktivitäten rechter V-Leute in den letzten Jahren jenseits von Terror-Milieus. Ein Beispiel bietet Kai-Uwe Trinkaus aus Erfurt, der sich letztes Jahr selbst enttarnte: Er hatte von 2006 bis 2007 als V-Mann für den thüringischen Verfassungsschutz gearbeitet – und war dafür mit einer fünfstelligen Summe bezahlt worden. Wie aus einer Recherche der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag hervorgeht, übernahm Trinkaus kurz nach seiner Verpflichtung durch den Verfassungsschutz den Vorsitz des NPD-Kreisverbandes Erfurt-Sömmerda.

Schon bald nahmen die Aktivitäten der Erfurter NPD deutlich zu. Während seiner Zeit als V-Mann setzte Trinkaus laut der Recherche “auf eine enge Kooperation der NPD mit den militanten ‘Freien Kameradschaften’ und mit dem gewalttätigen Hooligan-Milieu”. Zudem engagierte er sich in diversen Organisationen wie etwa im Erfurter Bund der Vertriebenen (BdV). Schließlich versuchte er während seiner Zeit als V-Mann, einen Spitzel in die Fraktion DIE LINKE einzuschleusen, und zielte darauf ab, einige ihrer Abgeordneten zu denunzieren und zu verleumden.

Wie Wellsow im Gespräch mit dieser Redaktion berichtet, gibt Trinkaus auch an, persönliche Daten von Nazi-Gegnern von seinem V-Mann-Führer erhalten zu haben, die er dann auf der Website der NPD publizierte. Die Daten waren wenige Tage zuvor bei einer Polizeikontrolle in die Hände der Behörden gelangt.

Einen Schritt weiter
Fälle wie dieser belegten einmal mehr, dass sich die Geheimdienst-Praktiken etwa in Thüringen in den Jahren nach 2000 nicht von den Praktiken der 1990er Jahre unterschieden, erklärt Wellsow. Diese aber hatten den Aufbau des “Thüringer Heimatschutzes” und letztlich des NSU erst möglich gemacht. Die Vorgänge um den NSU jedoch hätten ein Ausmaß erreicht, “das es unglaubwürdig macht, einfach nur von ‘Pleiten, Pech und Pannen’ zu reden”, urteilt Wellsow. So sei der Informationsstand über den NSU zumindest “in den ersten Jahren nach dem Abtauchen” des Trios gut gewesen: “Alles, was man für eine erfolgreiche Fahndung benötigt hätte, war tatsächlich vorhanden.” Auch seien “Warnsignale”, da könne sich “etwas in Richtung Rechtsterrorismus bewegen”, den Behörden “bekannt” gewesen.

Angesichts dessen müsse man bei der Aufarbeitung der NSU-Morde einen Schritt weiter gehen – und die Frage stellen, “welche Beziehungen zwischen den Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der extremen Rechten in Deutschland tatsächlich bestehen”.