Der Historiker Thomas Weiberg führt in die deutsch-osmanische Freundschaft ein

Ausgabe 234

(iz). Aber wer im Okzident kennt unsere Geschichte? Wer unterzieht sich der Mühe, sie kennenzulernen?“ Mit diesem Stoßseufzer rätselte schon Sultan Abdul Hamid II (1842-1918) vor 100 Jahren über die Bereitschaft Europas, sich mit dem damaligen Osmanischen Reich fair auseinanderzusetzen. Natürlich sind diese Fragen heute noch aktuell, man denke nur an die, von türkischer Seite oft als unfair empfundenen, Debatten über die Rolle der modernen Türkei oder die mediale Begleitung der Politik des neuen „Sultans“ von Ankara, dem türkischen Präsidenten Tayyib Erdogan.

Es ist das Verdienst des Historikers Thomas Weiberg, in seinem neuen Buch einen Versuch der Objektivierung der Debatte um den berühmten osmanischen Regenten vorzulegen. Auch mit der Absicht, wie der Autor im persönlichen Gespräch versicherte, die heutigen Kontroversen um die Türkei und den Islam besser auszuleuchten. Seinen Beitrag versteht Weiberg dabei nicht etwa als Romantisierung der Vergangenheit, sondern als den Versuch, die geschichtlichen Grundlagen heutiger Probleme zu verdeutlichen. Weiberg zitiert dabei treffend den türkischen Romancier Ahmet Tanpinar: „Die Vergangenheit, das heißt die Geschichte, ist für die Gesellschaft, was das Gedächtnis für das Individuum ist“.

In dem vorliegenden Buch geht es Weiberg darum, die Person des Sultans weder zu verherrlichen noch zu verdammen, sondern ein möglichst ausgewogenes Bild herauszuarbeiten. Dem Historiker gelingt dies, weil er nicht nur die persönlichen Erinnerungen des Regenten übersetzt und in das Buch einfügt, er auch in seinem thematischen Teil keine umfassende Biographie vorlegt, sondern sich auf die wichtigsten Fragen seiner Regierungszeit beschränkt und mit zahlreichen Quellen die unterschiedlichen Stimmen und Beurteilungen der Zeitgenossen des Kalifen für sich sprechen lässt. So entsteht ein faszinierendes Bild einer Zeit, die im Spannungsfeld der Begegnung von Islam und Technik, von Globalisierung und wirtschaftlichen Interessen, von Demokratie und persönlicher Herrschaft steht.

Wer aber war dieser Sultan Abdul Hamid II? „Man entdeckt eine autoritäre Persönlichkeit, extrem um ihre Vorrechte und Rechte besorgt, jeden Eingriff in ihre Macht zurückweisend, ein gewiegter Stratege ohne Skrupel, ein geschickter Diplomat“ zitiert Weiberg den Engländer Georgon aus seiner Bioraphie. Tatsächlich gelang es dem Monarchen, drei Jahrzehnte lang den Zerfall eines Reiches, über drei Kontinente ausgreifend, zumindest zu verzögern. Eine beinahe unmögliche Aufgabe, auf der einen Seite der Versuch, das arme Land mit Hilfe der westlichen Industriestaaten zu modernisieren, zum Beispiel durch den Bau der Eisenbahn nach Bagdad, auf der anderen Seite den Ansturm der europäischen Großmächte, die das Reich beherrschen und seiner eigenständigen Traditionen berauben wollen, abzuwehren. So agiert der Monarch und sein Hofstaat inmitten eines komplizierten Geflechts von geopolitischen Machenschaften, diplomatischen Intrigen und wirtschaftlichen Interessen. Das Wunder dabei ist, dass der beinahe „ohnmächtige“ Herrscher seine Machtposition über drei Jahrzehnte hält. Welche Mittel er dazu nötig hat, auch um innenpolitische Gegner wie die Armenier auszuschalten, betrachtet Weiberg mit der nötigen Distanz. „Bis heute scheint es daher schwierig, den Anteil, den Abdul Hamid II selbst an diesen Ausschreitungen hatte, zu bestimmen“ beurteilt Weiberg die Faktenlage eher vorsichtig. Auf der anderen Seite geht Sultan Adul Hamid auch für Weiberg als Reformer in die Geschichte ein, so begründet er nicht nur ein modernes Erziehungswesen, sondern er sorgt auch dafür, dass über einhundert Mädchenschulen in Istanbul eingerichtet werden.

Interessant lesen sich die Passagen, gerade aus heutiger Perspektive, über die Rolle der Medien im Umgang mit dem Herrscher und seiner Politik. Weiberg zeigt in vielen Zitaten, wie sich in der Betrachtung über die Osmanen immer wieder rassistische Motive und Vorurteile verbergen. Hier bringt der Historiker eine verbreitete Stimmung auf den Punkt: „Es lässt sich auch zugespitzter ausdrücken, vielen Europäern jener Epoche mag es geradezu unfassbar erschienen sein, dass es auch in den politischen Lagern außerhalb der fest gefügten europäischen Welt Menschen gab, die sich ihnen gewachsen zeigten, bei denen sie an Grenzen stießen, Menschen eben, die eine begründete Vorstellung von den Dingen hatten und dabei nicht von vornherein bereit waren, die europäische Überlegenheit bedingungslos anzuerkennen.

Natürlich schildert Weiberg in wichtigen Passagen detailliert das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Osmanen, bleibt aber auch hier dankenswerterweise seinem eher nüchternen Stil treu. Natürlich ging es bei diesem Verhältnis zweier Monarchen nicht um eine naive Männerfreundschaft, sondern in erster Linie um politische und wirtschaftliche Interessen. Sultan Abdul Hamid schreibt 1898 über das Verhältnis zu Deutschland recht lapidar: „Deutschland ist die einzige Macht, der wir mit einiger Sicherheit den Bau unserer Eisenbahnen anvertrauen können, denn wir können sicher sein, dass für Deutschland ökonomische und finanzielle Interessen vorrangig sind.“

Bei allem Geschäftssinn dürfte dabei auch hilfreich gewesen sein, dass der deutsche Kaiser dem Islam und der osmanischen Kultur durchaus offen und respektvoll begegnete. Seinem Vetter Nikolaus II schrieb er 1898 aus Damaskus unter dem Eindruck seiner Orientreise: „Meine persönliche Empfindung beim Verlassen der Heiligen Stadt war, dass ich mich tief beschämt den Moslems gegenüber fühlte, und dass ich, wenn ich ohne Religion dorthin gekommen wäre, sicherlich Mohammedaner geworden wäre.“

Man muss schlussendlich das Buch von Thomas Weiberg als Pflichtlektüre einstufen, zumindest für alle, denen es um ein vertieftes, auch geschichtlich begründetes Verhältnis zur historischen und aktuellen Türkei geht. Aber auch für das Verstehen der Rolle des Islam in unserer Zeit gibt das Buch wichtige Impulse, denn die moderne Begegnung von „Islam und Technik“, die sich in der Regierungszeit des Sultans vollzieht, ist nach wie vor eine intellektuelle Herausforderung für Muslime in aller Welt.

Thomas Weiberg, Mein Sultan möge lange leben! 528 Seiten, Simurg Verlag