Die Grünen wollen die „Gleichstellung und rechtliche Integration des Islam“. Einige Muslime reagierten kritisch. Ein Überblick von Sulaiman Wilms

„Die Voraussetzung für die Etablierung islamischer Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes (…) sind: Bekenntnisförmigkeit der Gemeinschaft, umfassende Erfüllung religiöser Aufgaben, Nachweis theologischen Sachverstands, mitgliedschaftliche Organisation und Verfassungstreue.“ (Grüne Roadmap, 26.6.2012)

„Alle Parteien – einschließlich die Grünen – stecken daher in einem Argumentationsdilemma. Und genau diese Indifferenz und rhetorische Verunsicherung ist diesem Papier abzulesen.” (Kamuran Sezer, auf Facebook)

(iz/KNA). Kontrazyklisch zur diesjährigen Sommerpause erneuerte die grüne Bundestagsfraktion mit ihrem Fraktionsbeschluss bezüglich einer „Grünen Roadmap zur Gleichstellung und rechtlichen Integration des Islam in Deutschland“ (vom 26.6.) die politische Debatte. Auf einer Pressekonferenz erklärten führende Politiker der Partei, sie wollten damit „Druck machen“ – sowohl auf Bund und Länder als auch auf die muslimischen Verbände. Notwendig sei unter anderem ein Neustart der 2006 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) begonnenen Deutschen Islamkonferenz (DIK). Unter seinem Nachfolger Hans-Peter Friedrich sei sie „in eine Sackgasse gefahren“. Generell begrüßten die Grünen den Grundansatz dieses Gremiums.

Aufgabe der Muslime sei die Gründung einer Religionsgemeinschaft, die die vom Grundgesetz geforderten Kriterien erfülle, meinte die Fraktionsvorsitzende Renate Künast. Der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck erklärte, eine von den Verbänden gewünschte Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei schon deshalb kein praktikables Modell, weil sie sich nicht nach Bekenntnissen, sondern nach Sprache, Kultur oder Herkunftsland organisierten. Zudem sei es etwa problematisch, dass der türkisch-muslimische Dachverband Ditib faktisch eine Unterorganisation der türkischen Religionsbehörde sei. Es sei nicht Sache des Staates, sich in die Gründung muslimischer Organisationen einzumischen. Diese könnten sowohl die Form einer Einheitsgemeinde – wie die Juden – wählen oder sich nach unterschiedlichen Bekenntnissen zusammenschließen.

Anerkennung der Realitäten
Zu Beginn ihres, eher skizzenhaften Papiers erkennen die Grünen (was keine große Überraschung ist) die Realität des Islam in Deutschland an. Der historische Wandel der religiösen Landschaft in der Bundesrepublik habe auch zu einem „Bedeutungswandel vom Staatskirchenrecht hin zum grundrechtszentrierten Religionsverfassungsrecht vollzogen“. Die rechtliche Gleichstellung von Muslimen ist für die Grünen die logische Folge „einer erfolgreichen Integration ihrer Religion in das deutsche Religionsverfassungsrecht“. Für die Partei habe dieser Vorgang einen offenen Ausgang. Die grüne Bundestagsfraktion ist sich (so eine Fußnote) bewusst, dass mit „den Muslimen“ in Deutschland lediglich die religiösen gemeint seien – unabhängig davon, ob organisiert oder nicht.

Während sich das Papier stellenweise als Verlangen nach ergebnisorientierten Konzepten liest, finden sich an anderen Stellen altbekannte Vorstellungen. Dazu gehört auf der allgemeinen Ebene nicht nur der, mehrfach wiederholte Verweis auf mutmaßliche verfassungsfeindliche Bestrebungen; nicht nur bei Salafisten, sondern auch bei einzelnen, ungenannten Mitgliedsverbänden des KRM, die in Verfassungsberichten auftauchen sollen. Eine kritische Reflexion, die dieser – durch den NSU-Skandal in Mitleidenschaft gezogene – Inlandsgeheimdienst in Sachen Begriffsbestimmung und Politikberatung – im Umgang mit Deutschlands Muslimen – spielte, wird hier schmerzlich vermisst. Die grünen AutorInnen kamen auch leider nicht ohne den unwissenschaftlichen Begriff des „Islamisten“ (S. 3 der Roadmap) aus.

Organisatorische Fragen
Das Fraktionsdokument dominieren weniger inhaltliche Fragen, sondern vor allem organisatorische. Zwar sei der 2007 gegründete Koordinationsrat der Muslime „ein richtiger und bedeutender“ Schritt, aber er fungiere selbst nach eigenem Verständnis nicht als alleiniger Ansprechpartner des Staates (S. 3). Mit Verweis auf die Alevitische Gemeinde Deutschlands sind die Grünen der Ansicht, dass das Recht für „weitere Religionsgemeinschaften“ offen sei. Hier unterscheidet sich das Papier von früheren Vorstellungen, wonach die muslimischen Gemeinschaften eine alleinige Vertretung in Deutschland bräuchten. Dieser Wunsch der Politik führte in der Vergangenheit zur Verzögerungen und Blockaden bei Verhandlungen.

Die zwei Klein-Vereine (des „Liberal-Islamischen Bundes“ und des „Verbandes demokratisch-europäischer Muslime“) will die grüne Roadmap gemeinsam mit „verbandsunabhängigen Moscheegemeinden“ in die Herausbildung islamischer Religionsgemeinschaften einbeziehen, sofern diese in der Lage seien, „eine dem deutschen Religionsverfassungsrecht entsprechende Organisationsform zu finden“. Im Rahmen „differenzierender islamischer Religionsgemeinschaft“ (S. 8 des Papiers) könnte durch etwaige liberale Strukturen „daneben oder parallel Neugründungen eines reformierten Islam erfolgen“. Dieser Punkt dürfte gewiss Anlass für Kritik an der Roadmap bieten. Man kann sich die Frage stellen, ob die Grünen ausschließlich die rechtliche Integration des organisierten Islam anstreben, oder ob sie auch die politische Förderung, genehmer Religionsgemeinschaft herbeiführen wollen.

Zweifel an bestehenden Strukturen
Grundsätzlich verweist die Roadmap auf zwei „rechtliche Erscheinungsformen für religiöse Gemeinschaften“: einerseits die im Grundgesetz vorgesehene Religionsgemeinschaft und andererseits die Körperschaft des öffentlichen Rechts. Konkret erfüllten die „vier großen muslimischen Verbände“ nicht die an eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes geknüpften Voraussetzungen. Deren unterschiedliche Existenz ergäbe sich nicht aus theologischen Differenzen, sondern aus ihren „nationalen, sprachlichen und/oder politischen“ Zusammenhängen der jeweiligen Herkunftsländer. Hier seien noch wichtige Fragen offen. „Ein zentrales Problem ist, dass die bestehenden muslimischen Verbände bislang anders als die Kirchen nicht klar darlegen können, wer zu ihren Mitgliedern zählt.“ Zudem sei fraglich, ob die muslimischen Verbände die Vorgaben für eine „allseitigen Religionspflege“ erfüllten.

Die Grünen gehen davon aus, dass es Jahren brauche werde, bis es zur Herausbildung einer oder mehrerer muslimischer Religionsgemeinschaften in Deutschland kommt. Allerdings könnten weder die Muslime, noch die Gesellschaft so lange warten. „Auf dem Weg zu dauerhaften Regelungen brauchen wir Zwischenlösungen.“ Man stünde vor einer Vielfalt von Aufgaben.

Religionsunterricht und Imam-Ausbildung
Allerdings ist auch den Grünen bewusst, dass sich diese „Zwischenlösungen“ als „fragil“ erweisen können. In Nordrhein-Westfalen – im Rahmen der Einführung eines bekenntnisorientierten Islamischen Religionsunterricht – beispielsweise bestehen diese in der Einsetzung so genannter Beiräte, an denen unter anderem Vertreter muslimischer Dachverbände beteiligt sind. Insbesondere, wenn Verbände oder Einzelpersonen juristisch gegen sie vorgehen würden, könne es zu Schwierigkeiten kommen.

Es ist nicht ganz ohne Ironie, dass das grüne Konzept der Einführung und Realisierung dieses Religionsunterrichts und der – damit in Zusammenhang stehenden – Gründung islamisch-theologischer Lehrstühle zur Ausbildung muslimischer „Theologen“, Religionslehrer und Imame einen ähnlich hohen Stellenwert beimisst wie es die Mitgliedsverbände des „organisierten Islam“ tun. Auch hier begrüßen die Grünen die Einbindung „der verbandsunabhängigen Muslimas und Muslime“.

Wohin soll die Reise gehen?
Für die Grünen ist ein „Neustart der Deutschen Islamkonferenz (DIK)“ notwendig. Dessen Aufgabe müsse „eine Wegbeschreibung zur rechtlichen Integration der religiös orientierten Muslimas und Muslime durch die Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaft(en)“ sein.

So bestimmt die Roadmap sowohl Aufgaben des Staates als auch die der Muslime. Auf Seiten des Staates sieht das Papier Folgendes vor:
1. Erleichterung und Unterstützung der Etablierung von Religionsgemeinschaft(en),
2. Einbindung verbandsunabhängiger Moscheegemeinden sowie „liberaler Muslimas und Muslime“,
3. Zügige und breite Einführung vom Islamunterricht,
4. „Verfassungsfeste Übergangslösungen“ und
5. Maßnahmekonzept gegen Islamfeindlichkeit.

Obwohl das Papier an mehreren Stellen betont, dass „Gründung, Struktur und theologische Ausrichtung“ der Religionsgemeinschaften „alleinige Angelegenheit der Gläubigen“ seien, haben die Grünen klare Vorstellungen davon, was Deutschlands Muslime zu leisten hätten:

1. Neugründung einer gemeinsamen und alle Strömungen umfassenden muslimischen Gemeinde. „Sie sollte eine klare mitgliedschaftliche Struktur nach innen und theologische Vertretung nach außen benennen können, um über Fragen der Lehre der Gemeinschaft verbindlich Auskunft zu geben.“
2. Etablierung mehrerer, sich nach Glaubensvorstellungen differenzierender islamischer Religionsgemeinschaften.
3. Die (bereits oben erwähnte) Neugründung eines „reformierten Islam“.

Erste Kritik – „das untaugliche Starkreden von nicht repräsentativen Randgruppen“
Während die grünen Forderungen ein gewisses Medienecho hervorriefen, gab es bisher nur begrenzte Reaktionen von Seiten muslimischer Repräsentanten. Einzig die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) setzte sich – wenn auch kritisch – mit dem Inhalt dieses Konzepts auseinander. Mustafa Yeneroglu, stellvertretender Vorsitzender der IGMG, bezeichnete das Fraktionskonzept als „äußerst enttäuschend“. Bei näherer Betrachtung erkenne man, dass es sich hierbei „im Wesentlichen um CDU-Positionen“ handle.

Kernelemente dieser Politik, so der IGMG-Vize Yeneroglu, seien „die Relativierung der großen islamischen Religionsgemeinschaften (…), das untaugliche Starkreden von nicht repräsentativen Randgruppen, die unkritische Übernahme der Positionen des Verfassungsschutzes und nicht zuletzt der Versuch der Negierung des verfassungsrechtlichen Anspruches der Muslime auf Gleichbehandlung“.

Anstatt auf die eigenen Erfahrungen aus dem langjährigen Dialog mit den islamischen Religionsgemeinschaften zu vertrauen, „wird die den eigenen Erfahrungen entgegengesetzte Sprache des Verfassungsschutzes sogar noch gesteigert“. An einer kritischen Hinterfragung „der tendenziösen und die Politik bevormundenden Arbeit des Verfassungsschutzes“ fehle es in dem Papier leider völlig.

„So bleibt das Papier weit hinter den Erwartungen, die man den Grünen stellen kann, aber auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem verfassungsrechtlichen Anspruch zurück.“ Mit den sicherheitspolitischen „Weisheiten“ der letzten zehn Jahre, denen sich seit Langem sogar die Grünen untergeordnet hätten, erscheine ein Fortschritt in weiter Ferne.

„Ob auf der Grundlage einer solchen Roadmap tatsächlich ‘Gleichstellung und rechtliche Integration des Islam’ erfolgen kann, ist stark anzuzweifeln“, ist die Einschätzung des Juristen.

Individuelle Reaktionen – „gibt es Roadmaps auch in der deutschen Innenpolitik?”
Auch auf Blogs und von Seiten muslimischer Foristen waren die ersten Reaktionen alles anderes als durchgehend begeistert. Einige muslimische Stimmen reagierten kritisch. „Die Grünen (…) sammeln die immer wichtiger werdenden Stimmen der muslimischen Minderheit und halten ihre Versprechen am Ende nicht. So auch geschehen mit dem Versprechen der doppelten Staatsbürgerschaft“, meinte ein Forist auf Facebook. Ein weiterer sieht eine Bringschuld der Partei: „Es gibt Bundesländer in denen die Grünen Regierungsverantwortung tragen. Da haben sie Gelegenheit, ihre Aufrichtigkeit zu beweisen.“

Der Journalist und Blogger Kamuran Sezer reagierte differenziert auf das Papier: „Alle Parteien – einschließlich die Grünen – stecken daher in einer Argumentationsdilemmata. Und genau diese Indifferenz und rhetorische Verunsicherung ist diesem Papier abzulesen. Die Wordings ‘großen Verbände’ und ‘verbände-unabhängigen Moscheegemeinden bzw. der liberalen Muslimas und Muslime’ klingen wie der verzweifelte Versuch, die Heterogenität der muslimischen Gemeinde korporatistisch zu akkumulieren.”

Andere begrüßten die so genannte Roadmap. „Seid doch froh, dass sich eine Partei mal ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, ohne gleich die üblichen Phrasen zu dreschen. Weder CDU und schon gar nicht die SPD sind da wirklich interessiert – von FDP und Linke rede ich gar nicht erst. Kritik ist immer OK, solange sie weiter führt”, schrieb ein anderer Muslim auf Facebook.”