Islam ist keine Ideologie

Ausgabe 226

(iz). In meinem Blog habe ich über Ägyptens „Revolution“ [im März 2011, Anm.d.Red.] geschrieben: „Islam ist keine politische Ideologie und bietet daher keine politische Lösung per se an.“ Das verursachte bei einigen Fassungslosigkeit und es kam zu einigen groben Bemerkungen auf meine Aussage.
Im Interesse der Begriffsklärung möchte ich mich mehr mit dem Thema von Islam und Politik beschäftigen. Politik als vielfältige Angelegenheit zu negieren, die Teil des Islam ist, hieße, eine reichhaltige Tradition des Gelehrtentums (namens „Sijasa Schari’ijja“) zu verleugnen. Aber zu behaupten, dass Politik entscheidend für die Lebenspraxis eines Individuums wäre, kommt der Leugnung eines Hadithes in der Sammlung von Imam Al-Bukhari gleich. Darin sagte der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, seinem Gefährten Hudhaifa, dass er sich im Falle des Fehlens einer deutlichen islamischen Autorität „von allen Sekten fern- und an einem privaten Islam festhalten soll“. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, unterwies auch einen Beduinen, dass dieser, würde er nur die fünf Säulen des Islam praktizieren, das Heil erlangen würde.
Aus den Kommentaren scheint sich zu ergeben, dass die meisten Leute Schwierigkeiten mit dem Satz wegen meines Gebrauches von „Ideologie“ hatten, da dieser Begriff verschiedene Bedeutungen in sich trägt. Ein arabischer Dichter schrieb einmal: „Nur der Träger weiß, was unter seinem Mantel ist. Und nur ein Autor kennt die Bedeutung seines Buches.“ Viele Leute antworteten zustimmend auf meine Aussage und zeigten mir, dass sie verstanden hatten, was ich mit dem Begriff beabsichtigte.
Für andere jedoch scheint eine Begriffsbestimmung nötig zu sein. Das Wort „Ideologie“ leitet sich aus einem französischen Begriff ab, der in der revolutionären Periode aufkam. Damit war eine neue Denkweise gemeint, die nicht mit Metaphysik, Religion oder Tradition beladen war. Napoleon bezog sich herabwürdigend auf die Vertreter einer Ideolo­gie als „Ideologen“. Während es auch eine neutrale Bedeutung – wie in Weltanschauung – gibt, würden die meisten im Westen das Wort als negativ betrachten. Islam ist Wahy, eine Offenbarung von Gott und keine Ideologie.
Islam hat keine Gemeinsamkeiten mit dem, was als Ideologie bezeichnet werden könnte, wenn wir sie sowohl etymologisch, als auch in ihrem modernen Gebrauch verstehen würden. Es gibt viele islamfeindliche Webseiten, die heute behaupten, unser Din sei keine wahre Religion, sondern nur eine Ideologie.
Darüber hinaus findet sich nicht einmal ein Wort im klassischen Arabisch, das die Bedeutung von „Ideologie“ in sich trägt. Es findet sich nicht in Ibn Manzurs maßgeblichem Wörterbuch des klassischen Arabisch, Lisan al-Arab, und mit Sicherheit nirgendwo im Qur’an oder in den Hadithen. Weder die Salaf [die ersten, normativen Generationen des Islam], noch die Gelehrten der letzten 1.300 Jahre des Islam benutzten den ­Begriff. Eigentlich fand er erst dann weite Verbreitung, nachdem Ideologen in der islamischen Welt – beeinflusst durch das marxistische Denken – damit anfingen, den Islam als eine koloniale und nachkoloniale Widerstandsbewegung zu reformieren.
Da die Araber nicht einmal ein Wort für das Phänomen in ihrer klassischen Sprache hatten, mussten sie eines erfinden, um seine Idee auszudrücken. Suchen wir nach „Ideologie“ in einem modernen arabischen Wörterbuch, dann stoßen wir auf „Idiolodschijjah“. Versuchen wir jedoch, das Wort ins klassische Arabisch zu übertragen, dann wäre „mandhur fikri“ eine ziemliche Annäherung. „Fikr“ ist keine Eigenschaft Allahs. „Mufakkir“ ist keiner der 99 Namen Allahs und anders als „tafakkur“, dem im Qur’an eine positive Bedeutung zugeschrieben wird, hat „fikr“ auch einen negativen Unterton: „Er hat ja nachgedacht und abgewogen. Tod ihm, wie er abgewogen hat!“ (Al-Muddattir, 18-19)
Islam ist keine Idee, selbst wenn einige moderne Publizisten den Begriff „fikr ­Islami“ (islamisches Denken) benutzten. Einer meiner Lehrer in Mauretanien, ein Meister des Arabischen und des Islam, sagte mir einmal: „Was ist fikr Islami? Ich habe es nirgendwo in den alten Büchern des Islam gefunden.“ Als ich meinem Lehrer seine Bedeutung erklärte, sagte er: „Das unterscheidet sich stark von dem, wie die Salaf den Islam verstehen würden.“
Ein Leser sollte sich bemühen, die Begriffe eines Textes zu verstehen, denn Autoren nutzen Worte, die unausweichlich mehrdeutig sind, um ihre beabsichtigte Bedeutung zu vermitteln. Nach dem „Adab al-Bahth wa al-Munadharah“, einem Buch über islamische Höflichkeit in Forschung und Diskussion, ist es eine Vorbedingung, wenn in eine Debatte mehrdeutige Begriffe eingeführt werden, dass jemand eine Definition einfordert. Daher leitete sich auch die Tradition der Fußnoten und der Kommentare zu den Fußnoten ab. Als ich das Wort „Ideologie“ nutzte, bezog ich mich auf etwas, das sich aus einem Denken mit einer allumfassenden absoluten Weltanschauung ableitet, wie sie im Marxismus zu finden ist. Wenn Sie jemals eine politische Diskussion mit einem Marxisten hatten, dann verstehen Sie genau, was „Ideologie“ bedeutet. Islam ist auf der anderen Seite viel nuancierter als jede Ideologie.
Dieses Wort zur Beschreibung unserer Religion zu benutzen, ist noch schlimmer, da viele „Ideologie“ im negativen Sinne verwenden. In seinem politischen Wörterbuch beschreibt William Safire „Ideologie“ wie folgt: „Ursprünglich ein Ideen-System für politische oder soziale Aktion; bei heutigen politischen Attacken eine mentale Zwangsjacke oder starre Regeln für die philosophisch Engstirnigen.“ Im gleichen Eintrag findet sich später ein Zitat von Ronald Reagan: „Ich denke, ‘Ideologie’ ist ein Angstwort für die meisten Amerikaner.“ Raymond Williams erwähnte, dass Marx das Wort im negativen Sinne gebrauchte und dieser meinte, Ideen seien „nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse (…). Scheitern, diese hervorgebrachte Ideologie zu erkennen, eine auf den Kopf gestellte Version der Wirklichkeit (…) Ideologie ist dann abstraktes und falsches Denken, in direkter Beziehung zum ursprünglichen konservativen Gebrauch stehend (…)“. Konservative und Marxisten benutzten Ideologie jeweils ursprünglich im negativen Sinne.
Lenin verabschiedete sich vom Marx­schen Gebrauch des Wortes. Später wurde es zu einem gebräuchlichen Begriff des linksradikalen Vokabulars, mit dem eine politische Weltanschauung beschrieben wurde. Geert Wilders behauptete in einem Buch, Islam sei keine Religion, sondern eher eine Ideologie. Und „Ideologie“ ist das Wort, dass er für den Islam verwendete. Unglücklicherweise kann er auf eine Vielzahl ungebildeter Muslime verweisen, die Wilders mit Zitaten versorgen, die seine Thesen stützen. Und wir werden auch weiterhin von den Verleumdern des Islam hören, die sich auf ihn als Ideologie, und nicht als Religion, beziehen. [Der Prediger] Pat Robertson meinte: „Diese islamische (…) ich möchte sagen, Religion, aber es ist keine Reli­gion. Es ist ein politisches System“, das heißt, eine Ideologie.
Nachdem ich feststellte, dass Islam keine Ideologie ist, sagte ich, dass er daher keine „politische Lösung per se“ offeriere. Jeder, dem die Bedeutung von „per se“ entgeht, verpasst die Bedeutung des ganzen Satzes. Ein Kommentator bat darum, die „Wortklauberei beiseite“ zu lassen. Wortklau­berei jedoch ist nötig, um die Bedeutung zu erkennen. „Per se“ bedeutet „an sich oder schlechthin, von sich aus oder aus sich heraus“.
Daher bedeutet es im Kontext des von mir geschriebenen Satzes, dass ohne die grundlegende Moralität des Islam jedes politische System – ob islamisch oder nicht – nicht funktionieren wird. Ein Beispiel dafür findet sich in der ägyptischen Verfassung: Eine politische Lösung für das Problem der präsidialen Korruption besteht darin, dass ein Präsident kein Geld außerhalb seiner staatlichen Einkünfte verdienen darf. Als solche ist das eine vernünftige politische Lösung, aber ohne die moralische Grundlage im Herzen des Präsidenten wird sie scheitern. Eine Person mit einem korrupten Herzen wird sich niemals an die Regeln irgendeiner Verfassung halten. Daher bestand der Fokus des Islam niemals auf der Verbesserung des Staates, sondern auf der Verbesserung der Seelen, die den Staat ausmachen. „Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.“ (Ar-Rad, 11) Wir brauchen eine islamische Geistesverfassung dringender als eine islamische Verfassung.
In einem meiner Lieblingsbücher, „Die Leuchte der Herrscher (Siradsch Al-Muluk)“ sagt Imam At-Tartuschi: „Die Eigenschaften in unserer Religion, die für ein islamisches Gemeinwesen nötig sind, bestehen aus drei Elementen: Güte und keine Härte gegenüber der Bevölkerung, gegenseitige Beratung und keine Machtpositionen an jene zu übertragen, die sie wollen oder nach ihnen verlangen.“ Würden diese drei Eigenschaften realisiert, gebe es nicht die so genannten Revolutionen, um den Status Quo zu ändern. Anstatt, dass sie den Menschen dienen, haben sie die Menschen zu ihren Dienern gemacht.