Die Krimtataren zwischen europäischer Ignoranz und russischem Chauvinismus

(iz). Die Tataren auf der Halbinsel Krim wehren sich verzweifelt gegen eine Einverleibung durch die Russische Föderation, den Rechtsnachfolger des Deportationsregimes aus ihrer Vergangenheit. Sie schauen auf eine wechselvolle, oft schmerzhafte Geschichte zurück. Nach der Eroberung des islamischen Krim-Khanats 1783 durch Katharina II. war der endgültige Einschnitt in das Leben dieses Volkes die komplette Deportation am 18. Mai 1944 durch das Sowjetregime Stalins. Seit Glasnost und Perestroika sind über 300.000 Krimtataren auf ihre Insel zurückgekehrt. Seit Beginn der Repatriierung verfolgen sie einen strikt gewaltfreien Kurs auf Demokratisierung der Ukraine und eine Assoziierung mit der EU.

Eskalation durch Provokation
Ali Khamzin, Außenbeauftragter des Nationalrates der Krimtataren Milliy Medschlis, kommt in den letzten Tagen kaum zum Schlafen: Gestern früh war Stadtzentrum ist gesperrt, Ministerrat und Parlamentsgebäude wurden von irregulär bewaffneten Russen besetzt, niemand weiß, wer diese Männer wirklich sind. Die Flaggen Russlands wurden auf den Gebäuden gehisst. Es heißt, sie seien mit Lkw aus der vorwiegend von Russen bewohnten Stadt Sewastopol gekommen, wo seit Tagen verstärkt russische Pässe und Waffen vergeben werden und prorussische Demonstrationen stattfinden. Khamzin und die Führung des Medschlis, dass sich die krimtatarische Bürgerbewegung jedoch nicht provozieren lässt und hofft, dass sich die Zentralregierung in Kiew so schnell wie möglich und intensiv um diese Eskalation kümmert. Jedoch gibt es dort im fernen Kiew erst seit zwei Tagen eine Regierung und diese hat mit sich selbst zu tun. Genau dieses Vakuum haben anscheinend die russischen Besetzer in Simferopol ausgenutzt für ihre gestrige Nachtaktion.

Erschreckend ist teils die Überforderung der Medien vor Ort. Es brauchte einige Zeit, bis realisiert wurde, dass die EuroMaidan-Kräfte auf der Krim vor allem die Tataren sind. Weder bei NTV noch anderen großen Stationen schien aufzufallen, dass die Plakate keine Parolen in kyrillischer Schrift enthielten, sondern in lateinischer Schrift. Also kein Russisch, kein Ukrainisch, aber was dann?

Krimtatarisch eben, die Sprache der größten ProEuropa-Kraft der Krim: Die Krimtataren, exzellent organisiert, beharrlich gewaltfrei aber strikt ukrainisch integrativ. Oder wie es Prof. Dr. Kerimov gerne ausdrückt: „Die besten Ukrainer auf der Krim sind die Tataren.“ Er leitet das Forschungszentrum für Sprache, Geschichte und Kultur der Krimataren an der KIPU-Universität Simferopol und verweist auf die komplizierte Gemengelage auf der Krim. Durch jahrhundertelange Repression und gezielte Ansiedlung von Slawen auf der Krim, seien die indigenen Nationalitäten der Krimtataren, Karaimen und Krimtschaken eine numerische Minderheit im eigenen Land geworden. Neben rund 60 Prozent Russen leben nur knapp 15 Prozent Ukrainer und 15 Prozent Tataren auf der Krim – neben Dutzenden kleinen Volksgruppen wie den Krimdeutschen, Ungarn, Karaimen …

Wenn in Umkehrung aller Tatsachen sogar der deutsche staatliche Sender Phönix live berichtet „dass die Krim eigentlich schon immer russisches Gebiet war“ und mutmaßt, „wenn die Tataren jetzt die Regierungsgebäude eingenommen haben, und dabei Menschen ums Leben gekommen sind, weiß man zunächst einmal nicht, wie es hier weiter geht“, zeigt dies die Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit deutscher Osteuropa-Korrespondenten. Doch auch Politiker offenbaren ihre eurozentristische Weltsicht und völlige Ahnungslosigkeit.

Ahistorisch behauptete etwa Phillip Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU: „Die geostrategische Frage der Krim ist für Moskau sehr emotional, da es sich historisch um den Kernbereich Russlands handelt.“ Kernbereich Russlands? Schon immer russisches Gebiet? Diese frappanten Äußerungen stehen stellvertretend für zwei grundsätzliche Probleme: Die fehlende mediale Vertretung ausländischer Presse in der Ukraine generell und zweitens die Ignoranz oder Mainstream-Westeuropa-Perspektive auf die Geschichte Osteuropas durch hiesige Eliten in Medien und Politik.

Der weiße Fleck Ukraine in europäischer Wahrnehmung
Dass die Ukraine ein eigener Staat mit durchaus langen Traditionen und Teil Europas ist, setzt sich nur langsam im Bewusstsein der deutschen Allgemeinheit durch. Und dass die Krimtataren eines der ältesten islamischen Völker Europas sind mit traditionell engen Verbindungen in die Türkei und nach Deutschland, ist trotz einiger Zeitungsberichte der letzten Jahre in Deutschland nahezu unbekannt. Prof. Dr. Andreas Umland von der Nationalen Universität Mohyla-Akademie in Kiew schreibt dazu in seinem Artikel „Weißer Fleck. Die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit“, während sich in Moskau Dutzende Korrespondenten tummeln würden, ließen sich die mehr oder minder kontinuierlich in Kiew arbeitenden deutschen Journalisten an einer Hand abzählen: „Die ohnedies spärliche deutsche Ukraine-Berichterstattung findet zumeist von Warschau und Moskau aus statt. Spezialisierte deutsche Informationsdienste wie die Ukraine-Analysen (Bremen) oder Ukraine-Nachrichten (Kiew) werden – im Gegensatz zu vergleichbaren Internetprojekten wie den Russland-Analysen (Bremen) oder Russland-Aktuell (Moskau) – nur von einem engen Interessentenkreis genutzt.“

Dem abzuhelfen, kann zumindest ein positiver Nebeneffekt der jetzigen Umwälzungen sein: Viele Veranstaltungen zur Situation in der Ukraine finden derzeit in Deutschland statt. Auch die Krimtataren finden so mehr Erwähnung als in der Vor-Maidan-Zeit. Wie viel davon letztendlich nachhaltig den Bekanntheitsgrad des kleinen Volkes steigern kann, bleibt abzuwarten, denn die Reporter-Karawane wird weiter ziehen, die Probleme vor Ort bleiben.

Traumatische Geschichte europäischer Muslime
Um diese Probleme verstehen zu können, muss man sich wohl oder übel die Mühe machen und in die europäische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zurück schauen. Über tausend Jahre, ab dem siebten Jahrhundert u.Z., dominierten Turkvölker das Gebiet zwischen dem heutigen Usbekistan und Moldawien. Nach den Reichen der Awaren, Chasaren, Kiptschaken und Bolgaren prägten die Tataren über drei Jahrhunderte den nördlichen Schwarzmeerraum. Erst Katharina die Große brach mit der russischen Annexion der Krim im Jahre 1783 diese lange Geschichte. Durch Repression, Russisch-Osmanische Kriege und die Revolution der antireligiösen Bolschewiki, deren Rotem Terror und dem Hunger-Genozid Holodomor in den 1930 Jahren schmolz die tatarische Bevölkerung auf die Größe einer Minderheit.

Der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, wurde das ganze Volk dann 1944 in Viehwaggons gen Osten deportiert. Russisches Kernland ist die Krim nie gewesen, jedoch in der russischen Idee des dritten Rom als Legimitation der Macht spielte sie immer eine große Rolle. Mit den vielen griechischen Hinterlassenschaften und der subtropischen Südküste war sie seit der Eroberung „Die Perle des Imperiums“. Erst Nikita Chrustschows Schenkung der Krim als Freundschaftsbeweis der Russen an die Ukrainische SSR machte die Krim zu einer ukrainischen Gebietseinheit, was zu UdSSR-Zeiten kaum jemanden störte oder eine Rolle spielte, avancierte nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Zankapfel zwischen Moskau und Kiew. Immer dazwischen: die Krimtataren.

Deutsch-Krimtatarische Beziehungen älter als Deutschland
Historisch eng sind die Beziehungen der Krimtataren zu Deutschland beziehungsweise vorher zum Ordensstaat der Kreuzritter, zu Brandenburg-Preußen und Sachsen seit den 1420er Jahren. Belegt sind über ein Dutzend Gesandtschaften, angestrebte Militär-Allianzen sowie und Anwerbung krimtatarischer Reiter für die Preußische Armee, „Durchlauchtigster Bruder, Herrscher der Europäischen Tataren“ nannte den Krim-Khan der Große Kurfürst. Trotz der Annektierung der Krim bewahrten sich die Krimtataren durch Zaren- und Sowjetzeit hindurch ihre Religion, den Islam, ihre Sprache und Kultur. Aufgrund der massenhaften Auswanderung gibt es heute Krimtatarische Gemeinden fast überall auf der Welt, vor allem in der Türkei (2 bis 4 Millionen), Usbekistan, Rumänien, Bulgarien und Deutschland.

Der Weltkongress der Krimtataren hält die Fäden international zusammen und jedes Jahr zum Tag der Deportation am 18. Mai gibt es eine zentrale Kundgebung in Gedenken an den Genozid, die Hälfte des Volkes wurde 1944 ermordet oder kam an Hunger, Entkräftung und Kälte zu Tode. Aus jeder Diasporagemeinde ist mindestens ein Vertreter in den Weltkongress gewählt und auch der Milliy Medschlis (Nationalrat) der Krimtataren auf der Krim selbst hat Diasporaabgeordnete in seinen Reihen. In Deutschland ist der Journalist Ahmet Özay zuständig für krimtatarische Belange. In den letzten Monaten gab es da viel zu tun. Gespräche mit Abgeordneten, Politikern im Auswärtigen Amt, mit der Presse und Politikern des EU-Parlamentes galt es zu organisieren und zu moderieren.

Die geschürte Angst der Russen auf der Krim sei völlig unbegründet, so Ahmet Özay: „Wir nehmen niemandem etwas weg. Wir haben nur diese eine Heimat und möchten dort friedvoll mit allen Nachbarn wohnen. Es gab nie Rückgabeansprüche an ukrainische und russische Menschen auf der Krim, die nach der Deportation in unsere Häuser einzogen.“ Die deutsche Politik jedoch müsse Jenseits von Lippenbekenntnissen aktiver bei der Unterstützung der Krimtataren werden. Willensbekundungen wie im Brief von Hans Joachim Gauck vom November 2013 oder bei Gesprächen im Auswärtigen Amt vor drei Wochen reichten hier nicht aus.

Die deutsch-krimtatarischen Beziehungen werden seit Jahren auf dem Gebiet Wissenschaft und Kultur vertieft. Im letzten Jahr gab es allein in Deutschland vier Konferenzen dazu und 2014, aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Krimtataren wird es ebenfalls Symposien, Vorträge und Kulturveranstaltungen in Deutschland geben, maßgeblich unterstütrzt durch die Initiative „Deutsch-Krimatatrischer Dialog“ (http://qirimdialog.wordpress.com).

Die „großen Brüder“ Türkei und Tatarstan
Viele Treffen von Ministerpräsident Erdoğan und ukrainischen Politikern in der Vergangenheit fanden zusammen mit Vertretern der Krimtataren statt. Sie sind die Mittler zwischen den Nachbarn am Schwarzen Meer und haben der krimtatarischen Diaspora in der Türkei als auch staatlichen Institutionen dort sehr viel zu verdanken.

Umso enttäuschter war jetzt Ali Khamzin, Außenbevollmächtigter des Milliy Medschlis, von der Note des türkischen Außenministers Davutoğlu, die er gestern Abend mit dem Präsidenten der russischen Teil-Republik Tatarstan verfasste. Über Allgemeinplätze zur Beruhigung der Lage ging das Statement nicht hinaus. Und warum gerade mit Tatarstans Präsident Minikhanov?

Er ist zwar Tatare, aber Wolga-Tatare, mit den kleinen Brüdern auf der Krim hat die wolga-tatarische Politik jedoch so ihre Schwierigkeiten, sind die Krimtataren doch strikt gegen jede russisch-imperiale Attitüde und kämpferisch im Auftreten für die eigenen Rechte. Die Wolgatataren jedoch sind – aufgrund ihrer zentralrussischen Siedlungssituation seit Jahrhunderten russischer Politik direkt untergeordnet und immer zu Kompromissen genötigt. Auch zu den wolga-tatarischen Bewohnern der Krim ist das Verhältnis eher kühl. Sind dies doch meistens ehemalige Sowjetoffiziere und Geheimdienstler.

Der Aufruf von Minikhanov und Davutoğlu zeige jedoch den großen Einfluss der Weltpolitik auf den Regionalkonflikt auf der Krim und die Bedeutung der Krim in internationaler Geostrategie.

Hoffnung und Engagement
Professor Kerimov hofft, dass die Eskalation der letzten zwei Tage schnell überwunden wird und die Arbeit an Universitäten und Akademien der Krim wieder aufgenommen werden kann. Er arbeitet derzeit an Projekten zu deutsch-krimtatarischer Geschichte und geplant sind Konferenzen, Bücher und Dienstreisen nach Deutschland. Auch Dschemile Umerova-Ibragimova, sie studiert Regierungsmanagement an der Taurida-Universität Simferopol, hofft, dass sich die Polizei neutral verhält und die separatistischen Bestrebungen und Losungen wieder aufhören. Schließlich leben auf der Krim über 100 Nationalitäten und bisher habe man auch friedlich zusammen gelebt.

Der krimtatarische Nationalrat Milliy Medschlis hat zusammen mit Staatsanwaltschaft und Sicherheitsbehörden der Krim einen gemeinsamen Krisenstab gegründet um den separatistischen Parlamentsbesetzern konzertiert entgegentreten zu können. Der neue ukrainische Innenminister, Arsen Awakow, erklärte auf seiner Facebook-Seite, man werde diese Besetzung nicht hinnehmen. Miliz und Truppen des Innenministeriums seien in höchster Alarmbereitschaft.

Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen Terrorismus ein. Übergangspräsident Turtschinow bezeichnete die Besetzer als „Verbrecher“. Er habe den ukrainischen Sicherheitskräften befohlen, die Gebäude zurückzuerobern.

Zur gleichen Zeit in Brüssel: Emine Bozkurt, EU-Parlamentsabgeordnete der Niederlande, verlangte dort heute: „Wir müssen heute klar Stellung beziehen, dass Demokratie und Menschenrechte für alle Ethnien in der Ukraine gelten müssen. Die Achtung der Identität und Sprache der Minderheiten und die nationale Integrität der Ukraine sind strikt zu achten… Die Krimtataren, die sich ihre Rechte auf Bildung, Muttersprache, eigene Kultur und Landbesitz mühsam erkämpft haben, stehen jetzt vor dem Risiko diese Errungenschaften wieder zu verlieren! Den Unruhen auf der Krim dürfen wir nicht den Rücken zuwenden!“

Auch die Intellektuellen auf der Krim bangen um die Zukunft ihrer Insel. Der Hauptdarsteller des Films „Haytarma“ (Heimkehr), Achtjom Seytablayev, sagte zur Situation auf der Krim: „Wir haben keine andere Heimat, dies ist unser Mutterland, wir möchten frei in der Ukraine leben.“ Haytarma ist der erste abendfüllende krimtatarische Spielfilm, seine Uraufführung in Deutschland fand im Herbst 2013 in Berlin statt, mit dabei waren krimtatarische Studierende aus Deutschland, der ukrainische Botschafter und Gäste von der Krim, Temur Kurshutov und Ismail Kerimov vom Forschungszentrum an der KIPU-Universität.

Ob und wann die deutsch-krimtatarische Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft weitergehen wird, ist momentan ungewiss. Erst einmal muss sich die Lage auf der Krim beruhigen und stabilisieren, so Ali Khamzin vom Nationalrat in Aqmescit/Simferopol. „Und dafür brauchen wir auch Deutschland!“

* Der Autor ist Direktor des Institutes für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien Magdeburg.