Der unabhängige Rechtsgelehrte

Ausgabe 246

(iz). Der erste Teil dieser Reihe, die das Wirken verschiedener Gelehrter vorstellen will, widmet sich einem Gelehrten, der „der Fürst der Tabi’in“ genannt wird. Die Rede ist hier von Imam Sa’id ibn Al-Musaijab. Sein Name wird in einer anderen Lesart auch Al-Musaijib ausgesprochen, sodass wir die beiden Versionen in den Quellen finden(Dschamil, 16). Imam Adh-Dhahabi nennt ihn „Imam und Koryphäe“ (Al-Imam Al-’Alam), sowie den „Gelehrten schlechthin der Bewohner Medinas“ (’Alim Ahl Al-Madina) (Adh-Dhahabi, 4:217). Das ist eine Bezeichnung, die auf eine prophetische Aussage zurückgeführt wird und die einige Gelehrte der zwei ersten Generationen des Islams bekamen.
Imam Sa’id ibn Al-Musaijab begegnete und lernte bei zahlreichen Prophetengefährten wie ‘Uthman, ‘Ali, ‘Aischa, Zaid ibn Thabit, Ibn ‘Abbas, Ibn ‘Umar, Abu Musa, Umm Salama, Abu Huraira, der sein Schwiegervater war, sowie von zahlreichen anderen (Adh-Dhahabi, 4:218). Auch die Liste seiner Schüler ist sehr lang, da prominente Gelehrte der Zeit, die nach ihm eine wesentliche Rolle bei der Systematisierung des Fiqh und der Sammlung des Hadithmaterials spielen sollten, seine Schüler waren. Es genügt hier zu erwähnen, dass Imam Az-Zuhri, der später die Führung der Gelehrsamkeit in Medina übernehmen sollte, einer seiner Hauptschüler war (Adh-Dhahabi, 5:327).
Der Fiqh im Allgemeinen und in seiner medinensischen Auffassung im Speziellen in der Form, der wir später bei Imam Malik begegnen, wäre ohne die Vorarbeit der zwei Generationen vor ihm undenkbar. In diesem Zusammenhang spielen die „sieben Gelehrten“ aus Medina, zu welchen Imam Ibn Al-Musaijab gehörte, eine wesentliche Rolle. Sie gehörten zu jenen Gelehrten, die das prophetische Wissen direkt aus den Worten und Taten der Gefährten vermittelt bekamen. Sie waren Träger der Fackel der rechten Führung und zwar in turbulenten Zeiten, in denen die politischen Streite zwischen vielen Protagonisten ihren Höhepunkt erreichten.
Wenn wir über die Tabi’in reden, also jene Nachfolger der Prophetengefährten, dann darf man sich diese Gelehrten nicht als eine homogene Gruppe vorstellen. Vielmehr handelt es sich hier um Vertreter mehrerer Ansichten im Recht, in der Theologie oder auch in den politischen Fragen ihrer Zeit. Es lohnt sich, das Leben der Gelehrten der ersten Jahrhunderte genauer zu studieren, weil man danach feststellt, dass die Behauptung, man solle „den Islam“ nach dem Verständnis der ersten drei Generationen des Islams praktizieren, eine leere und absurde Aussage ist. Denn wessen Verständnis soll hier gefolgt werden? Es waren ja nicht wenige. Eine der Hauptaufgaben der Rechtsschulen, die ab dem Ende des zweiten Jahrhunderts entstanden sind, war das Zusammenschweißen verschiedener Positionen und Methodiken zu einem sys­tematischen Gebilde, um damit die alltägliche sowie juristische Praxis der Normen zu ­erleichtern.
Allerdings ist die wesentliche Rolle dieses Imams, Ibn Al-Musaijab, bei der Entstehung und Systematisierung des Fiqh nicht der Schwerpunkt dieser kurzen Biographie. Vielmehr möchte ich in diesem Zusammenhang einen Aspekt seines Lebens genauer beleuchten, welcher heute an Relevanz nicht verloren hat. Kennzeichnend für ihn ist seine finanzielle und politische Unabhängigkeit. Das Verhältnis zwischen Macht und Wissen war in den zwei ersten Jahrhunderten des Islams angespannt. Selbstverständlich gab es Gelehrte, die dem ‘ummaijadischen Hof nahestanden, was allerdings keine Wertung per se ist. Aber nicht alle waren machtnah, ja man könnte sogar sagen, dass die große Mehrheit sich nicht in den Machtkreisen bewegte. Pauschalisierende Behauptungen, die davon ausgehen, dass alles, was nicht zu den kharidschitischen oder frühschiitischen Strömungen gehörte, herrschernah oder gar korrupt war, sind historisch nicht haltbar.
Mit Ibn Al-Musaijab haben wir das Beispiel eines Gelehrten, der großen Wert auf die finanzielle Unabhängigkeit gelegt hat. Theologie als Beruf war allgemein hin in den ersten Jahrhunderten nicht bekannt. Ibn Al-Musaijab war ein Geschäftsmann, der hauptsächlich mit Olivenöl handelte. So wird überliefert, dass er auf dem Markt aktiv war und dass sein Geschäftskapital circa 400 Dinar betrug (Dschamil, 34). Das würde für unsere Zeit umgerechnet bedeuten, dass sein Geschäft ein Kapital von 50.000 Euro hatte. Die finanzielle Unabhängigkeit war für ihn ein wichtiger Faktor, wenn man auch politisch unabhängig sein will.
Folgendes wird von ihm überliefert: „Nichts Gutes liegt in einem, der sein Geld nicht selbst erwirbt, [ein Geld] womit er seine Schulden begleicht und seine Würde bewahrt“ (Dschamil, 34). Dieser Aspekt der Würde ist wichtig. Die Vielfalt der theologischen und rechtlichen Positionen sowie die Heftigkeit, mit welcher die theologisch-wissenschaftlichen Diskurse unter den Gelehrten verliefen, wären undenkbar, wenn es eine zentrale Macht gegeben hätte, die ihnen diktierte, was Islam sein soll.
Gelehrte wie er gewannen das Vertrauen der damaligen Muslime durch ihr Wirken und konnten eine große Anhängerschaft um sich versammeln. Dies verdankten sie nicht der Propaganda eines Herrschers oder einer politischen Macht, sondern allein ihrem Wissen, Wirken, ihrer Integrität und ihrer Unabhängigkeit von den Machthabern. In einer Zeit, in welcher viele Gelehrte mundtot gemacht wurden und sogar Prophetengefährten getötet und gekreuzigt wurden, war es notwendig, dass eine Gruppe von Gelehrten wie Ibn Al-Musaijab eine entscheidende Rolle spielten, um das Erbe des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, zu bewahren. Sie waren lebendige Beispiele für die Opferbereitschaft der Propheten, wenn es um eine gerechte Sache ging.
Die Quellen berichten uns, dass der Imam mehrmals in seinem Leben wegen seiner Position gegenüber den Machthabern geprüft wurde. Er akzeptierte weder die Herrschaft des ‘Ummaijaden-Gegners Ibn Az-Zubair noch die ‘umaijadische Herrschaft von Jazid und seinen Nachfolgern.
Unser Imam beharrte aus mehreren Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, auf seiner Position. Mehrmals wurde er ausgepeitscht, ihm wurde Geisteskrankheit vorgeworfen und ihm wurde das Lehren in der Prophetenmoschee verboten (Dschamil, 80 ff). Trotz all dieser Schwierigkeiten lesen wir bis heute seinen Namen in den Überlieferungsketten aller Hadithwerke und bis heute werden seine rechtlichen Ansichten studiert. Seine Peiniger hingegen sind in Vergessenheit geraten.
Die Geschichte von Imam Ibn Al-Musaijab lehrt uns, dass, wenn man von der Richtigkeit seiner Position überzeugt ist, man diese auch vertreten soll. Sonst ist es eine Art Verrat gegenüber dem Wissen. Zum Schluss zitiere ich Imam Abu Nu’aym Al-Isfahani (gest. 1038), der am Anfang der Biographie von Ibn Al-Musaijab in seinem Buch „Hiljat Al-Aulija“ Folgendes über ihn sagt: „Er war einer der streng Geprüften. Er wurde auf die Probe gestellt und trotzdem blieb er in der Sache Gottes standhaft. Wissend, sittsam und genügsam war er. […] Und wie es einst gesagt wurde: ‘Der Tasawwuf ist das Meistern der Dienerschaft [gegenüber Gott] und die Bewahrung der Würde.‘“ (Al-Isafahani, 2:161).