Erinnerung an das Massaker von Kandahar

(Emran Feroz’s Blog). Genau vor einem Jahr geschah eines der schrecklichsten Massaker seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes. Siebzehn Menschen wurden in einem Dorf in Kandahar kaltblütig ermordet. Bei ihnen handelte es sich überwiegend um Frauen, Kinder und Greise. Als Täter wurde den Medien ein US-Soldat namens Robert Bales vorgestellt. Diesem Mann wird bald sicherlich eine Strafe widerfahren, doch mit Gerechtigkeit wird sie nichts zu tun haben.

Robert Bales wird als alkoholkrank und psychisch labil beschrieben. Nachdem seine Ehe scheiterte, zog er in den Irak-Krieg. Diesen verließ er traumatisiert. Dann wurde er nach Afghanistan geschickt. Dort erlebte er, wie sein Kamerad ein Bein verlor. Die Nacht darauf schlich er sich aus dem Lager und begab sich in das nahe gelegene Dorf, um dort Amok zu laufen. Nachdem Bales mehrere Menschen im Dorf ermordet hatte, ging er wieder ins Hauptquartier. Dieses verließ er kurze Zeit später ein zweites Mal, um in ein anderes Dorf zu gehen und noch einmal zu morden. So lautet bis heute die offizielle Version.

Sie steht im krassen Gegensatz zu den Zeugenberichten aus Kandahar. Schon vor einem Jahr hatte ich geschrieben, dass die Dorfbewohner etwas anderes erzählten. Sie sprachen keineswegs von einem Einzeltäter, sondern von mehreren Soldaten, die womöglich unter Alkoholeinfluss standen. Diese Aussagen bestätigten die Angehörigen der Opfer auch während einer offiziellen Anhörung, die von Präsident Hamid Karzai geleitet wurde. Das afghanische Untersuchungsteam kam ebenfalls zu einem Schluss, welcher der amerikanischen Version widerspricht. Shakeba Hashimi, eines der Mitglieder der damaligen Kommission, ist bis heute der Meinung, dass mindestens fünfzehn bis zwanzig Soldaten an dem Massaker beteiligt waren.

Währenddessen will man in Washington und anderswo nichts davon wissen. Stattdessen “entschädigte” man die Hinterbliebenen mit 50.000 US-Dollar und begann damit, Bales den Prozess zu machen. Selbstverständlich begann dieser Prozess in den Vereinigten Staaten und nicht am Hindukusch. Nachdem man den Medien vor einem Jahr Bales als Sündenbock verkauft hatte, flog man ihn so schnell wie möglich aus Afghanistan aus.

Hinterbliebene wie Mohammad Wazir, ein einfacher Bauer, verlangen Gerechtigkeit. Wazir verlor in jener Nacht elf Familienmitglieder. Heute ist er weder Vater, noch Sohn, noch Ehemann. Auch einer seiner Brüder sowie dessen Frau und Kind wurden in jener Nacht getötet. Mit 50.000 Dollar kann er seinen Sohn und seine fünf Töchter nicht wieder zum Leben erwecken. Er verlangt eine gerechte Strafe, obwohl er weiß, dass er und alle anderen Hinterbliebenen machtlos sind.

Die Offiziellen im Weißen Haus wollten von Anfang an die wahren Hintergründe des Massakers vertuschen. Damit waren sie erfolgreich, denn kein einziger Zeuge aus Kandahar hat bis jetzt persönlich vor dem Gericht ausgesagt. Es kam lediglich zu Befragungen via Videoübertragung. Die westlichen Medien sowie die amerikanische Regierung zeigen bislang nur mäßiges Interesse an den Geschichten der Opfer. Warum sollten sie auch? Sie haben im labilen Robert Bales einen perfekten Sündenbock gefunden, den man ohne Weiteres als „verrückt“ abstempeln konnte.

Mohammad Wazir fragt sich, warum man einem angeblich „Verrückten“ eine derartig große Verantwortung überlasst. Warum gibt man diesem „Verrückten“ eine Waffe und was wäre gewesen, wenn er seine eigenen Kameraden ermordet hätte? All diese Fragen werden wohl lange, wenn nicht sogar für immer unbeantwortet bleiben. Das Einzige was zurückgeblieben ist, sind Trauer und Schmerz. Auch über das geringe Interesse der Weltöffentlichkeit bezüglich dieses Falles kann man nur klagen.

Die Deutsch-Afghanin Lela Ahmadzai hat die Opfer des Massakers besucht und dazu einen Kurzfilm gedreht. Er zeigt nicht nur die unvorstellbare Trauer dieser Menschen, sondern auch ihren Stolz, mit erhobenem Haupt weiterzuleben.

Emran Feroz ist ein junger Autor und Blogger, der über den Nahen Osten, Islam und Migration schreibt. Er veröffentlichte unter anderem in renommierten Medien wie “zenith-online”, “Freitag” oder der “jungen Welt”. Dieser Beitrag wurde im „Hintergrund” veröffentlicht.