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Für eine neue Bürgergesellschaft

Gabor Steingart (rechts) im Gespräch mit dem russischen Präsidenten.
Foto: The Russian Government

Düsseldorf (dpa). Regierungen sind überfordert, die Finanzbranche zehrt die Wirtschaft aus und die Politiker haben schon lange die Übersicht verloren. Meint zumindest Gabor Steingart, Journalist, Unternehmer und Herausgeber („Handelsblatt“). In seinem neuen Buch „Weltbeben“ skizziert er eine Gesellschaft, die in Zeiten von Terroranschlägen, Flüchtlingsdebatte und EU-Krise überfordert ist. Sein Rezept für eine bessere Welt? „Respekt, Dialog und vor allem auch Abstand.“
Frage: Ihr Blick auf die Welt macht wenig Hoffnung. Wird Ihnen eigentlich beim Lesen der eigenen Zeitung morgens nicht Angst und Bange?
Antwort: Bange machen gilt nicht. Das Verändern von Wirklichkeit beginnt damit, dass ich diese zunächst zur Kenntnis nehme. Deshalb sollten wir die Wirklichkeit nicht schönreden. Das funktioniert in der Politik nicht und auch nicht bei Journalisten, wie wir ja bei der medialen Begrüßung der Flüchtlinge gesehen haben.“
Frage: Wir sind also schlicht zu naiv?
Antwort: „Nein, das würde ich so nicht formulieren. Mir ging es darum, die aktuellen Ereignisse in ihren historischen Kontext zu stellen. Es ist wichtig zu wissen, dass die Finanzpolitik der Europäischen Zentralbank bislang nicht ihre Ziele erreicht hat und dass der Islam und das Christentum sich nicht in den Twin Towers zum ersten Mal begegnet sind. Es gab einen jahrzehntelangen Vorlauf von Eingriffen der Amerikaner in der islamischen Welt.
Frage: Haben Sie ein Beispiel parat?
Antwort: Der bedeutsamste Eingriff war sicherlich die Geheimoperation Ajax des CIA, die zum Sturz der demokratisch gewählten Regierung des Iran unter Premierminister Mohammad Mossadegh führte. Die USA wollten dadurch die Verstaatlichung der Ölindustrie verhindern. Ein gewisser Ajatollah Khomeini setzte sich ins Ausland ab, die Grundlagen des heutigen Regimes in Teheran wurden damals gelegt. Mir geht es an diesem wie an anderen Beispielen darum, das geübte Denken in Schwarz-Weiß-Bildern aufzubrechen.
Frage: Da lassen Sie an den USA und auch in Ihrem Buch am westlichen Export von Werten wie Menschenrechten und Demokratie kein gutes Haar.
Antwort: Ich bin ein großer Freund der Amerikaner, ihrer demokratischen Wurzeln wie auch ihrer freiheitlichen Werte. Aber ich wünsche mir heute eine geläuterte USA, ein säkularisiertes Amerika, das sich nicht darin erschöpft, die eigene Großartigkeit anzubeten. Das Zeitalter einer multipolaren Welt erfordert ein Umdenken. Die USA aber setzen einseitig auf militärische Härte und ökonomische Dominanz. Der Krieg gegen den Terror beispielsweise ist unter Präsident Obama ausgeweitet worden, mittlerweile sind ein Dutzend Länder beteiligt, wir können hier mit Fug und Recht von einem dritten Weltkrieg sprechen, bei dem die Spirale von Schlag und Gegenschlag immer neue Gewalt hervorbringt. Wie (der frühere US-Außenminister) Henry Kissinger zu Recht feststellte, zerstört der Westen existierende Ordnungen in Libyen, im Irak und anderswo. Aus Ordnungen werden Unordnungen und die Gewalt expandiert. Westliche Werte lassen sich nicht mit vorhaltener Maschinenpistole exportieren.
Frage: Was schlagen sie also vor?
Antwort: „Ich plädiere für eine dialogorientierte Außenpolitik, um Konflikte herunterzukochen, nicht aufzuputschen. Nur besitzt der Westen im Moment in den USA, in Israel und vielen westlichen Staaten keine Politiker, die sich auf Respekt und Dialog verstehen.
Frage: Hat denn die Politik aus all den Fehlern nicht gelernt?
Antwort: Die Politik hat wenig gelernt und prallt immer an dieselbe Stelle der Wand. Nach jedem Anschlag hören wir, man müsse den Terror noch entschlossener bekämpfen. Aber die knappste Ressource unserer Zeit ist nicht Entschlossenheit, sondern Nachdenklichkeit. Die Politik des Gegenschlags ist ein Gewaltförderprogramm, das Tote produziert und neue Flüchtlingsbewegungen freisetzt.
Frage: Erwarten wir zu viel von unseren Politikern?
Antwort: Zu viel und zu wenig. Wir erwarten von unseren Politikern zu wenig, wenn wir Ihnen gestatten ihren Kurs des militärischen Weiter-So zu verfolgen. Der bisherige „Krieg gegen den Terror“ führt schnurgerade in jene Sackgasse, an deren Ende steht: kein Ausweg. Wir erwarten allerdings zu viel, wenn wir glauben, dass die Gesellschaften in Moskau und Teheran so funktionierten werden wie in Pforzheim und Flensburg. Wer diese Erwartungen hat, kann nur scheitern. Dieser Anspruch ist nicht einlösbar. Der erste Weg zur Heilung ist der zur inneren Einkehr, zur Bescheidenheit und zum Nachdenken darüber, was eigentlich erreichbar ist. Realpolitik heißt zu aller erst die Machbarkeitsfrage stellen.
Frage: Was schlagen sie noch vor?
Antwort: Die Schlüsselbegriffe einer neuen Außenpolitik lauten meiner Ansicht nach Respekt, Dialog und Abstand. Abstand in Respekt. Deshalb ist Ghettobildung in den Städten nicht nur ein Übel. Hätten wir zum Beispiel nicht Chinatown in der einen oder anderen Großstadt, könnten die Chinesen ihre Kultur nicht so ausleben wie sie das möchten. Das wäre Nährstoff für Konflikte. Ersetzen wir doch den Begriff Ghetto durch Biotop und den der Integration durch das Wort Subsidiarität. Die Menschen unterschiedlicher Kulturkreise wollen nicht dauernd in den jeweils anderen Kulturkreis integriert werden, auch nicht in Europa. Vielfalt ist zum Teil wichtiger als Vereinheitlichung.
Frage: Sie empfehlen das Modell Duisburg-Marxloh?
Antwort: „Nun, die französischen Vorstädte würde ich uns nicht als Modell empfehlen. Nicht jede Ghettobildung ist ein Vorteil, denn es kann auch Isolation und Gewalt bedeuten. Sie kann aber auch für einen klugen Rückzug stehen. Tiere zum Beispiel ziehen sich zurück und schaffen Sicherheitszonen, wenn sie nicht miteinander auskommen auf einer Koppel oder im Wald. Der Westen hat diese unsichtbaren Sicherheitszonen der Kulturkreise in der Vergangenheit leichtfertig überschritten – und die andere Seite damit eingeladen, in unsere Alltagswelten einzudringen.
Frage: Sie sprechen von einer neuen Bürgergesellschaft und von einem interessierten und engagierten Menschen. Hält dieses Bild stand, wenn man an Donald Trump und Pegida denkt?
Antwort: Lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten. Die Geschichte der Aufklärung ist ja kein abgeschlossener Prozess, sondern es findet eine immer größere Selbstbestimmung des Menschen statt. Wir haben es mit Partnerschaften zu tun, mit Teams. Alte Autoritäten verblassen, es entsteht Neues. Und es entsteht auch pubertär Neues wie Donald Trump. Demokratie ist nicht immer wohlgeordnet, das Volk ist so nicht. Aber das Volk nutzt eben nicht mehr die Toilettenwände, um mit Kritzeleien seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen. Sondern es macht ihn öffentlich und schafft sich einen neuen Politikertyp. Trump ist eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer erwachseneren Menschheit. Dieser pubertierende Poltergeist wird am Wahltag wieder in seiner New Yorker Halbwelt verschwinden.