Hat es mit uns zu tun?

Der folgende, bearbeitete Text des IZ-Herausgebers Abu Bakr Rieger (siehe hier seinen Kommentar zum Massenmord in Nizza auf seinem Blog) erschien nach der Anschlagsserie von Paris und Brüssel. Sein Inhalt und die luziden Argumente sind – gerade – auch nach Nizza hochaktuelle und wichtige Beiträge der europäischen Muslime zu diesem Thema.
(iz). Die Assoziationsmöglichkeiten zwischen den Verbrechen der Täter und der Lebenspraxis des Islam definieren nun zunehmend die Muslime. Unbestimmte Begriffe wie „Islamisten“ erschweren auch künftig die Differenzierung. Schon der sogenannte Islamische Staat hatte Riten und Begriffe des Islam gekapert und ­damit die Unterscheidung zwischen ­Ideologie und Islam erschwert. Auch die Tätergruppe, die offensichtlich für die Verbrechen in Frankreich verantwortlich war, beruft sich auf den Islam, nutzt islamische Symbolik und glaubt wohl tatsächlich, dass ihre Lebensweise eine mögliche Interpretation der Offenbarung sei.
Eine Sicht, die nun Islamkritiker aufnehmen und eine generelle Nähe zwischen Islam und Gewalt annehmen. Da nützt es wenig, wenn hunderte muslimische Gelehrte gerade dies mit breiter wie substantieller Argumentation in Abrede stellen. Zu befürchten ist, dass diese ­Welle gegen den Islam zum Trugschluss verleitet, wonach gegen die Radikalisierung nur ein anderes Extrem – die Esoterisierung der Muslime – helfen könne.
Ihre Polarisierung in Lager – gebildet durch zwei absolute Gegensätze, die beide nicht der herrschenden Meinung im ­Islam entsprechen und auch nicht wirklich zu lehren wären – würde aber durchaus dem Kalkül der Terror-Ideologie nutzen. Ihre Strategie ist es offensichtlich, die europäischen Gesellschaften zu spalten, die Muslime zu isolieren und den Status der hiesigen Muslime insgesamt zu gefährden.
Tatsächlich geht es jetzt um die Stärkung der Mitte. Im Gegensatz zum Fanatismus radikaler Salafisten, die nur den eigenen Weg akzeptieren, war diese immer breit angelegt. Im Islam gab es durchaus eine offene Debatte zwischen Rechtsschulen; in Form eines zivilisiert ausgetragenen Streits, wie die Muslime im Wandel der Zeit ihren Islam korrekt leben und auslegen sollen. Diese Mitte muss nun mit einer überzeugend vorgetragenen Lehre die Definitionshoheit über Theologie, Begriffe und Praxis möglichst schnell zurückerlangen.
Hierzu gehört auch die Klarheit, dass eine umfassende islamische Bildung, dafür rund um die Grundlagen des Islam (also Islam, Iman und Ihsan) unverzichtbar ist. Sie ist gleichzeitig der beste Schutz gegen Extreme. Radikalisierung beruht nicht unerheblich auf der verhängnisvollen Beschleunigung der Wissensvermittlung. Aggressive und frustrierte Menschen treffen – oft im Internet – auf entsprechende „Lehrer“.
Diese folgen wiederum einer oberflächlichen, zumeist geschichtslosen Qur’anauslegung, welche gerade diese „Aggressivität“ religiös verklären will. Ein Teufelskreis, zu dem die Lebensläufe vieler Mörder passen, die sich zumeist unheimlich schnell radi­kalisierten. Ihr Islambild ist so konfus, dass einige Gelehrte sie bereits als eine Abspaltung vom Islam begreifen.
Zu der offenen Debatte über Ferne oder Nähe zur Ideologie der Täter gehört auch ehrliche Selbstkritik. Zu lange gab es in muslimischen Zirkeln Verständnis für eine Art Ausnahmerecht in den Kriegszonen der Erde. Dort sollte, so die Logik, die Lage der Muslime so verheerend sein, dass auch „Selbstmordattentate“ und „selbstmörderische Taktiken“ verständlich seien. Damit wurden wichtige Grundprinzipien des islamischen Rechts – also die Verurteilung des Selbstmordes und des Terrors aus politischen und moralischen Gründen – langsam aufgeweicht.
Die Folgen dieser Relativierung von Grundsätzen sind fatal. In einigen Problemvierteln europäischer Städte wächst eine ortungslose Generation heran, die nur äußerlich in Europa zuhause ist und sich „politisch“ in einer Art „Weltbürgerkriegssituation“ wähnt. Sie sind anfällig für Verführer, die diese schleichende Politisierung und Moralisierung von Jugendlichen ausnutzen, um sie für geächtete Taktiken zu gewinnen.
Hier ist es nötig, jungen Muslimen aufzuzeigen, wie man sich in Europa für berechtigte, humanitäre Anliegen politisch einsetzen kann. Oft empfinden diese das Engagement der Moscheegemeinden in Sachen Solidarität mit Muslimen in aller Welt als nicht glaubhaft. Viele ­Gemeinden fürchten sich vor Politik in ihren Räumen, lassen aber auch viele ­Jugendliche mit ihren Fragen und Zweifeln alleine.
Das berühmte Bild, einer mit dem Schicksal aller Muslime verbundenen und mitfühlenden Umma überfordert dabei die jüngere Generation, die per sozialer Medien praktisch ohne Unterbrechung an dem dramatischen Weltge­schehen, den Folgen von Bürgerkriegen und geopolitischen Machenschaften teilnimmt. Mit dieser Verunsicherung beginnt das Problem. Hier müssen die Verantwortlichen in den Gemeinden ansetzen und gerade jungen Menschen Erklärungsmodelle anbieten, die weder in die gleichgültige Abstumpfung, noch in eine hypermoralische Ideologie führen. Selbstredend gehört dazu auch die Differenzierung, dass die westlichen Gesellschaften keine Kombattanten im Kriegsgeschehen sind.
Natürlich ist es in diesen Debatten auch legitim darauf hinzuweisen, dass Muslime weltweit Opfer der muslimischen Terroristen sind. Hinzu kommt die fatale Bilanz des bisherigen „Krieges gegen den Terror“. Muslime sollten insoweit selbstbewusst an der Debatte über die komplexen Hintergründe des Terrors teilnehmen. Wenn klar ist, dass diese Zusammenhänge auf keinen Fall den Terrorismus in Europas Innenstädten rechtfertigen können, dann gehört das Argument Jürgen Todenhöfers, wonach der Krieg gegen den Terror Hunderttausenden unschuldigen Muslimen das Leben gekostet hat und so selbst seinen Nährboden bildet, als sachliches Argument durchaus in die Auseinandersetzung. Die Idee jedenfalls, dass nur der Islam für das Entstehen des Terrors verantwortlich sei, ist intellektuell kaum zu halten.
Auch für die Mehrheitsgesellschaft gibt es also Gründe innezuhalten. Bedenklich stimmen die Beiträge vieler, gerade junger Muslime, die inzwischen die Distanzierung von den Verbrechen der Terroristen als sinnlos empfinden. Sie beklagen, dass die Stellungnahmen muslimischer ­Organisationen kaum gehört oder sogar bewusst ignoriert werden. Außerdem verletzt sie, dass man von ihnen, die sich zu Recht in keiner Weise dem Terrorismus verbunden oder sich gar für ihn verantwortlich fühlen, eine Distanzierung erwartet. Diese Distanzierung, so das Argument, würde bereits eine Nähe unterstellen, die es gar nicht gibt.
Es wäre tatsächlich fatal, wenn sich junge Muslime als Reaktion auf die schärfer werdenden Diskussionen in das gesellschaftliche Abseits begeben würden. Umso wichtiger ist in diesem Kontext der Frage nach dem Sinn einer „Distanzierung“, zumindest eine klare Positionierung der Muslime zu verlangen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen.
Natürlich sind diese Stellungnahmen und Aktionen auch sinnvoll, gerade dann, wenn ein wachsender Teil der Bevölkerung – ob es den Muslimen gefällt oder nicht – Angst vor dem Islam hat. Eine allgemeine Passivität und die Flucht in das Schweigen wird diese Lage jedenfalls nicht verbessern.
Beispielhaft hat der Münchner Imam Benjamin Idriz als Reaktion auf die Anschläge in Paris eine breite gesellschaftliche Bewegung auf die Beine gestellt und zu einer lokalen Demonstration aufgerufen. Ihm ging es darum, eine gesamtgesellschaftliche Position mit Beteiligung der Muslime zu erreichen.