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„Die letzten Deutschen“

Ausgabe 245

„Es fällt bei der Lektüre auf, dass die Möglichkeit ‘deutsch’ und ‘Muslim’ zu sein, für den Intellektuellen nicht wirklich denkbar scheint. Weder spricht er von der Präsenz und dem Einfluß ganzer Generationen von Muslimen, die in Deutschland geboren sind, noch geht er auf die Wirklichkeit europäisch-islamischer Geschichte ein. Es fehlen insoweit leider Anspielungen zu Goethe oder Nietzsche, geschweige denn Bezüge auf die Philosophie eines Ibn Al-‘Arabis oder Ibn Ruschds.“
(iz). Die Flüchtlingskrise in Europa spaltet nicht nur die Europäische Union, sondern auch in Deutschland geht längst ein Riss durch die Gesellschaft. Zweifellos erleben wir in diesen Tagen eine starke Polarisierung und eine Erstarkung der Extreme. Die Ideen über die neuen Rahmenbedingungen des Landes reichen von der Phantasie völliger Abschottung bis hin zu einer völligen Abschaffung von Grenzen überhaupt. Gefragt ist in diesen Tagen zweifellos Orientierung und wohl auch eine kritische Diskussion über die viel zitierte Aussage der Kanzlerin: „Wir schaffen das!“ Ob Sie mit ihrer Einschätzung Recht hat, darüber gibt es auch innerhalb der Eliten der Republik einigen Streit.
Es gibt sie ja, die klugen Köpfe unseres Landes; die zur Differenzierung fähig sind und in keiner geistigen Abhängigkeit zu einer dumpfen Dialektik argumentieren. Der „SPIEGEL“ publizierte in den letzten Wochen eine exemplarische Auseinandersetzung, die sich nicht nur um Zahlen und Obergrenzen der Zuwanderung drehte oder um die Bewertung der Flüchtlinge als potentielle Arbeitskräfte, sondern viel mehr Grundsätzliches berührte. In den Diskussionen geht es um Identität, Kultur und die neuen Maxime eines friedlichen Zusammenlebens.
Zunächst erklärte sich Anfang Oktober der Schriftsteller Botho Strauß zum „letzten Deutschen“. Einem Landsmann also, der sich nicht nur in der Überlieferung der großen Literatur des Landes sieht, sondern sich selbst, als einer der letzten großen Beitragenden, zu den spärlich gewordenen Feierstunden der deutschen Sprache, verstanden wissen will.
Der Dichter rief in seinem Text zur Verteidigung „unserer“ geistigen Identität auf, also einer reflektiven Lebenspraxis, die noch Wurzeln hat in der Geschichte, Literatur und Philosophie und noch einen „Geistesfunken außerhalb von Wirtschafts- oder Geldpolitik“ in sich tragen soll. Strauß hat dabei Sorge, dass eine „Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen“. Etwas einfacher ausgedrückt: Strauß befürchtet neue Parallelgesellschaften, die im besten Fall ein von der Mehrheit abgewandtes Eigenleben konstituieren.
Der Einwurf korrespondiert so durchaus praxisbezogen mit den Ängsten vieler Deutscher, die sich fragen, ob eine jährliche Zuwanderung um die Millionengrenze, bei allen Möglichkeiten, die die Zuwanderung mit sich bringen könnte, auch ein reiches Land überfordern kann. Etwas spöttisch wirft der Dichter die Frage auf: „Nun, was kann den Deutschen Besseres passieren, als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden?“
Der Islam, oder besser die Muslime, erscheinen auch Botho Strauß zunächst eher als eine Herausforderung. Er steht unter dem Eindruck von Gläubigen, die in der Moderne vor allem im „Kleid der Technik“ (E. Jünger), in Parteien und Organisationen auftreten und zudem in den Kriegszonen in ihrer ideologischen Erscheinungsform äußerst brutal agieren. Trotz dieser Widrigkeiten, die letztlich gerade zur Flucht vieler Muslime nach Deutschland geführt haben, erkennt Strauß aber auch die alten, unveränderten Formen muslimischer Lebenspraxis. Dafür hat er als nachdenklicher Konservativer durchaus etwas übrig. Den Muslimen an sich wünscht er dann auch weder einen Identitätsverlust, noch versteht er unter ihrer Säkularisierung ein bedeutsames Zeichen erfolgreicher Integration.
Strauß spricht in diesem Zusammenhang zwar nicht von Toleranz, wohl aber klingt in dem Beitrag eine Art Respekt vor den Gläubigen an, vor allem gegenüber ihrer ungebrochenen Bereitschaft in Traditionen zu leben. Für den Dichter ist dieses Leben in Traditionen und Geistesgeschichte unverzichtbar. „Was aber Überlieferung ist,“ schreibt er „ wird eine Lektion, vielleicht eine Wichtigste, die uns die Gehorsamen erteilen.“
Es fällt bei der Lektüre auf, dass die Möglichkeit „deutsch“ und „Muslim“ zu sein, für den Intellektuellen nicht wirklich denkbar scheint. Weder spricht er von der Präsenz und dem Einfluß ganzer Generationen von Muslimen, die in Deutschland geboren sind, noch geht er auf die Wirklichkeit europäisch-islamischer Geschichte ein. Es fehlen insoweit leider Anspielungen zu Goethe oder Nietzsche, geschweige denn Bezüge auf die Philosophie eines Ibn Al-‘Arabi oder Ibn Ruschd.
Überhaupt ermangelt es dem Philosophen Strauß, zumindest in diesem Gedankengang, an einer Reflexion über das Phänomen Immigration hinaus, zum Beispiel auf das islamische Einheitsdenken oder eine Beachtung der ökonomischen Seite der Offenbarung, das heißt ihre implizite Mäßigung der Finanztechnik, die für Europäer durchaus Anregung sein könnte. Strauß reiht sich so in die Schar der Beobachter ein, für die die Aktualität des Islam in erster Linie nur aus Gewalt oder kopftuchtragenden Muslimas besteht. Es fehlen ihm für eine echte Begegnung wichtige Sinnzusammenhänge und damit Aufhänger für ein intelligentes Gespräch im Kontext der islamischen Überlieferung, eine Offenbarung, die eben auch, aber nicht nur, Flüchtlinge verkörpern. Weiß er überhaupt davon?
Mitte Oktober beantwortete Nils Minkmar dann den Kulturpessismus des Schriftstellers – ebenfalls im „SPIEGEL“ – mit einer anderen Art „deutscher Zuversicht“. Minkmar steht dabei auf ganz andere Weise unter dem Eindruck der Überlieferung. Während Strauß um die Zukunft deutscher Nationalliteratur bangt, begrüßt Minkmar vielmehr die „Erosion der weltanschaulichen Bastionen“ unserer Zeit. Der Autor glaubt fest an das neue, politisch gefestigte Deutschland und sieht auch in der „Prophezeiung einer baldigen Machtübernahme durch den totalitären Islam nur eine Fortschreibung deutscher Paranoia“. Überhaupt scheint Religion für ihn zwar nicht bedrohlich, aber auch keine wirkliche Rolle mehr zu spielen, sie ist in der Vergangenheit verortet und bestenfalls Privatsache.
Der Graben zwischen diesen Positionen könnte also kaum tiefer sein. Während Strauß die deutsche Geistesgeschichte verteidigt („zum Missbrauch kann alles dienen!“), sieht Minkmar die deutsche Überlieferung dauerhaft durch „Antisemitismus, Militarismus und Hass auf westliche Werte“ vergiftet. Dieser Gegensatz des Geschichtsverständnisses und des Umgangs mit Begriffen wie Volk und Nation ist somit auch hier eine Fortsetzung typisch deutscher Nachkriegsdebatten.
In der Konsequenz ist für Minkmar dann auch die Suche nach einer spezifisch deutschen Identität nur noch eine Art Phantasterei. So kann auch die Zuwanderung wohl zu Problemen, aber nicht, wie es Strauß ausführte, zu einer Existenzkrise der geistigen Grundlagen der Bundesrepublik führen, da – so meint zumindest Minkmar – diese Republik gerade mit ihrer eigenen Geschichte als Nation längst bewusst gebrochen hat.
Für Minkmar ist so endgültig die Zeit gekommen, auch „den Staatsbürger endgültig unabhängig von der Abstammung zu definieren“. Damit baut er eine Brücke für Hunderttausende in Deutschland lebende Menschen, die aber nicht in die Nation, sondern in eine völlig andere gesellschaftliche Realität hineinragt.
Es wundert dann nicht, dass aus Sicht des Positivismus Minkmars heute die (politische?) Kultur blüht, während er Strauß nur noch am Rande, negativ gestimmt in einer „privaten Privatrechtsgesellschaft“ verortet. Minkmar spielt so auf den schwindenden Einfluss der Nationaldichter an, deren Werke wohl auch kaum ein Pegida-Anhänger auf dem Nachttisch liegen hat. Der fundamentale Gegensatz zum Verehrer der deutschen Nationalliteratur gipfelt wohl in dem Satz: „Große Männer sind weder gefragt, noch nötig.“
Nils Minkmar beruhigt es, dass weder große Geister, noch Dichter, sondern Bürger das Land übernommen haben, die ihre Tatkraft gerade in der Flüchtlingskrise bewiesen hätten. Natürlich hat er dabei Recht, dass gerade die Rolle des Bürgers als „ehrenamtlicher Helfer“ gebührenden Lob finden sollte. Inwieweit der Bürger allerdings seine Position und sein Recht in der Atmosphäre der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte und unter dem Eindruck rasanter technischer Innovation bewahren kann, wäre eine andere Frage. Immerhin hat auch in der aktuellen Flüchtlingskrise nicht nur der Staat Recht außer Kraft gesetzt, sondern auch wichtige Entscheidungen, wie eben die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen, gerade nicht demokratisch von seinen Bürgern legitimieren lassen.
Vielleicht wäre es nun interessant, diese dialektische Debatte mit einer anderen wichtigen Stimme zu verknüpfen. Feridun Zaimoglu ist nicht nur ein ­anerkannter deutscher Schriftsteller, er gehört inzwischen auch zu den wichtigen deutschen Stimmen, die auch die Situation der in Deutschland lebenden Muslime genau kennt. Feridun Zaimoglu schätzt auch Strauß als einen deutschen Genius und bewundert seine Bezüge zur Romantik, aber, er kann, wie er in einem Interview auf der Frankfurter Buchmesse erklärt „mit dem Kulturpessimismus des letzten Deutschen wenig anfangen“.
Der Autor erkennt als feiner Beobachter durchaus auch die von Strauß beschriebene „Deutschlanddämmerung“, die er aber als ein Phänomen des Wandels der Zeit positiv akzeptiert und beschreibt. Damit hat Zaimoglu gleichzeitig die entscheidende Schwäche aller konservativen Kräfte bestimmt: den Mangel an positiver Vision.
Zaimoglu definiert sich als Deutscher und Muslim zwar nicht in einem ­Gegensatz zum Islam, er ist aber zu einer Selbstkritik in der Lage, die auch nicht die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Muslime verschont. In einem Interview mit der Deutschen Welle legt er hier den Finger in die Wunde: „Es wäre damit viel erreicht, wenn man ­diesen folkloristischen Heimat-Kitsch – damit meine ich die Türkischstämmigen – brechen könnte. Ich finde, man muss davon wegkommen, sich als Heimatvertriebener zu fühlen.”
Zaimoglu ruft so zu einem anderen Deutschland auf, einem offenen Land, dass eine neue Kultur stiftet, sich aber auch nicht mit der Multikulturalität von Speisekarten begnügt.
Das Phänomen Glaube hat in diesem Kontext durchaus Bedeutung und die islamische Lebenspraxis wird darin als Phänomen anerkannt, das eben nicht nur als „Fremdes” einer bestimmten Kultur zuzuordnen ist. Damit wird Zaimoglu auch für die Deutschen, die sich angesichts großer Flüchtlingswellen bereits als künftige „Heimatvertriebene” wähnen, zum wichtigen Denkanstoß.
Vielleicht ist es sogar denkbar, dass verschiedene Quellen der Überlieferung und der Dichtung in einem neuen Land gemeinsame Heimat, Symbiosen und konstruktive Dialoge finden.