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Die vergessene Prioritätenlehre

Ausgabe 247

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(iz). Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Es gab keinen Propheten vor mir, der nicht die Pflicht gehabt hätte, sein Volk zu dem zu führen, was er als das Beste erkannte, und es vor dem zu warnen, von dem er wusste, dass es das Schlimmste war.“ Das Streben nach dem Besten und die Vermeidung des Schlimmsten gehört zu den vorrangigen Zielen des prophetischen Rechts. Der herausragende Rechtsgelehrte Al-’Izz Ad-Din ‘Abdassalam fasste die Gesamtheit des Islam in einem Satz zusammen: „Nutzbringendes zu sichern und Schaden abzuwehren.“
Die Konzentration auf Vor- und Nachteile gehört zum prophetischen Erbe. Deshalb stellen sie eine kategorische Verpflichtung dar. Das Verständnis der Bedeutung von Prioritäten ist ein notwendiges operationelles Prinzip. Obwohl es offenkundig erscheint, übersehen es viele Muslime in der Praxis.
Zur Sicherung des sozialen Wohlergehens finden sich im islamischen Recht drei absteigende Grade von Priorität, die Nutzen und Schaden entsprechend ihres Schweregrades bewerten: Notwendigkeiten, Bedürfnisse und Ergänzungen. Diese drei unterscheiden die verschiedenen Aspekte des prophetischen Rechts. Sie bewerten dasjenige als am wichtigsten, was für das allgemeine Wohlergehen am entscheidendsten ist. Durch Prioritäten sind Muslime in der Lage, ihre Interessen am besten in guten wie in schlechten Zeiten zu beachten. So können sie Zeit und Ressourcen auf die entscheidenden Aufgaben verwenden, anstatt sich in unwichtigen Fragen zu verlieren.
Die arabischen Worte Masalih (Nutzen) und Mafasid (Schaden) haben im Arabischen eindrücklichere Bedeutungen als ihre Übersetzungen in andere Sprachen. Masalih meint das, was Ganzheit, Gesundheit und Wohlergehen bringt. Sofort fallen dazu essentielle und hilfreiche Bedürfnisse ein. Mafasid ist der begriffliche Gegensatz, die Erwähnung des einen führt das andere vor Augen. Sprachlich bedeutet es dasjenige, das Verderben und Verfall bringt. Damit verbunden sind grundlegender Schaden und schwerwiegende Beeinträchtigungen.
Vor- und Nachteile sind weder universal noch abstrakt. Sie sind untrennbar verbunden mit konkreten Umständen und Realitäten. Ebenso sind die Imperative des islamischen Rechts nicht gleichwertig in Bezug auf Zwecke und die zugrunde liegende Logik. Ohne Prioritäten werden die höchsten Zwecke des Islam verschleiert und von ihrer sozialen Absicht getrennt. Das Bestimmen von Schwerpunkten macht schwierige Urteile über den Wert verschiedener Vor- und Nachteile notwendig. Das betrifft sowohl unterschiedliche Kontexte als auch den Rang der korrespondierenden Elemente des Rechts. In der islamischen Jurisprudenz wird das Fach, welches solche Bewertungen studiert, die Wissenschaft der Abwägung genannt. Der bekannte Gelehrte Asch-Schatibi gehörte zu den Führern auf diesem Feld.
Entsprechend einer Hierarchie der legalen Ziele bestimmt das islamische Recht drei Prioritäten. Die höchsten sind die fünf wichtigen Ziele (Al-Maqasid Al-Khamsa Al-Kubra): Bewahrung der Religion, des Selbst, der Vernunft, der Kinder und des Eigentums. Manche Gelehrte führten noch das Ansehen von Person und Familie als sechstes an.
Diese fünf Ziele stellen eine allgemeine, alles umfassende Begründung für den Islam dar. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt, um den sich die meisten individuellen und gesellschaftlichen Verpflichtungen formieren. Die vorrangige Absicht der islamischen Jurisprudenz besteht in der Sicherung dieser Ziele, bevor nachrangige Prioritäten eine Rolle spielen. In der theoretischen Rechtslehre gelten sie als entscheidend für die Wohlfahrt aller menschlichen Gesellschaften – ungeachtet ihrer Religion. Die Erosion auch nur eines dieser Grundsätze bedroht die Fortdauer der Gesellschaft als Ganzes.
Bewahrung der Religion
Hierunter fällt, welche Dinge für ein korrektes Verständnis und die Praxis des Islam nötig sind. Jedes der fünf operativen Prinzipien fällt unter den Imperativ der Bewahrung der Religion. Teil dessen ist beispielsweise die Schaffung einer vielfältigen Forschung sowie Publikationen zum Islam. Zu nennen wären Übersetzungen, Kommentare und Literatur, die für diesen Ort und diese Zeit angemessen sind. Hier zählt zur Bewahrung des Dins die Gründung von einheimischen Bildungseinrichtungen.
Bewahrung des Selbst – Hier handelt es sich um den Schutz des Lebens vor Gewalt, Krankheit, Hunger und allem anderen, was es bedrohen könnte. Angemessene Unterkunft, Sicherheit und Gesundheitsversorgung gehören zu den Prioritäten, die damit verbunden sind.
Schutz der Vernunft – Benötigt wird hierfür die Bewahrung des Verstandes vor Schädlichem wie Unwissenheit, Wahnsinn sowie Alkohol- und Drogensucht. Im positiven Sinne ist damit die volle Entwicklung der menschlichen Vernunft gemeint, wie positive Stimulation und gute Erziehung.
Erhalt der Kindheit – Dieses Ziel fokussiert sich auf Kinder, beinhaltet aber alles, was entscheidend für das Wohlergehen der Familie ist. Beispiele dafür sind Ehe, Elternschaft, Sorge um Pflegebedürftige usw. Benötigt für dieses Ziel ist der Schutz vor sozialen Übeln wie Missbrauch von Kindern, Ehepartnern und den Älteren.
Eigentum und Besitz – Ein Ziel ist die Schaffung von erlaubtem Wohlstand, sein Wachstum sowie Schutz. Es platziert ökonomische Entwicklung ins Zentrum des sozialen Projekts im Islam. Hierzu gehört auch die Sicherung vor Verschwendung, Zerstörung und Verlust durch Diebstahl, Betrug und andere Verbrechen.
Wie bei gesellschaftlichen Obligationen greifen diese fünf Ziele auf andere Sorgen im Rahmen des folgenden Prinzips aus: „Was notwendig ist, um eine Pflicht zu erfüllen, ist selbst Pflicht.“ Wie dokumentiert erfordert die Bewahrung der Religion, dass diese korrekt gelehrt wird. Das ist nicht möglich ohne kompetente religiöse Gelehrte. Solche können nicht hervorgebracht werden ohne entsprechende Einrichtungen für die Bildung.
Wie oben angeführt hat das islamische Recht drei Stufen der Priorität: Notwendigkeiten, Bedürfnisse und Ergänzungen. Notwendigkeiten sind untrennbar mit den fünf Zielen verbunden. Sie stehen in direktem Zusammenhang zur Aneignung unverzichtbarer Vorteile und der Entfernung entscheidender Schäden. Notwendigkeiten sind Angelegenheiten, ohne die Personen und Gesellschaften nicht fortbestehen können. So ist es in kalten Klimazonen erforderlich, grundsätzliche Unterbringung mit warmem und kaltem Wasser zu haben. Die Feststellung dessen, was eine Gemeinschaft braucht, macht es möglich, die drängendsten sozialen Aufgaben zu bestimmen.
Bedürfnisse stellen die nächste Ebene von Prioritäten dar. Dazu gehören nachgeordnete Vor- und Nachteile. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Notwendigkeiten, denn sie stärken Erstere und machen es leichter, sie zu erfüllen. Anders als Notwendigkeiten sind Bedürfnisse zweitrangig und verzichtbar. Eine Gesellschaft, die sie nicht erfüllt, kann überleben. Allerdings wird die von ihr angebotene Lebensqualität weniger befriedigend sein. Ein Beispiel dafür wäre die Anwesenheit eines Geschirrspülers in der dringend benötigten Unterkunft.
Ergänzungen nennt man auch „Verschönerungen“ (Tahsinijat) und „Ausschmückungen“ (Tazinijat). Betroffen sind kleinere Vor- und Nachteile. Ihre Beziehung zu den Bedürfnissen entspricht der, die Letztere mit den Notwendigkeiten haben. Sie betreffen die Qualität des Lebens, da sie es mit Eleganz und Verfeinerung schmücken. Hierzu gehört die Entfernung kleinerer Ärgernisse wie Unhöflichkeit. Sie sind der Schmuck einer zivilisierten Gesellschaft. Sie manifestieren das private, familiäre und soziale Leben in ihrer perfektesten Form.
Da Notwendigkeiten unverzichtbar sind, müssen sie immer Vorrang haben. Die besten Mittel und größten Anstrengungen müssten aufgewandt werden, um sie zu sichern. Sie sind die Hauptstützen der Gesellschaft. Bedürfnisse unterstützen sie. Diese wiederum werden durch Ergänzungen gestärkt. Die Erfüllung vorrangiger Ziele darf nicht durch die Erlangung nachgeordneter behindert werden. Das Setzen von Prioritäten im islamischen Recht bedeutet auch das Aufstellen von Hierarchien, damit die niedrigeren nicht den höheren im Wege stehen.
In idealen Situationen existieren alle drei Seite an Seite. Die Realitäten des Lebens hingegen sowie die Entwicklung von Gemeinschaft machen es aber oft unmöglich, alle gleichermaßen zu gewährleisten. In solchen Fällen muss das Bedeutungslose dem Wichtigem weichen. Es ist immer entscheidend, dass die Hierarchien der Prioritäten beachtet werden. Bedürfnisse und Ergänzendes müssen für Notwendigkeiten aufgegeben werden, wenn es unmöglich sein sollte, sie alle gleichzeitig zu gewährleisten.
Menschliche Aktivitäten treten selten ohne die Möglichkeit auf, dass es zeitgleich zu Vor- und Nachteilen kommt. Treten beide zusammen auf, verbietet die Hierarchielehre des islamischen Rechts einen Akt, dessen Nutzen geringer oder gleichwertig zu seiner potenziellen Schädlichkeit ist. Die relevante rechtliche Maxime besagt: „Der Schutz vor Nachteilen hat Vorrang vor der Aneignung von Vorteilen.“ Ist der potenzielle Nutzen größer als der Schaden, dann ist die Handlung zulässig und – in einigen Fällen – empfehlenswert oder verpflichtend. Rast ein Krankenwagen ins Hospital für die Rettung eines Menschenlebens, riskiert der Fahrer einen Unfall. Hier überwiegt der Pluspunkt der Rettung eines Patienten den Schaden eines etwaigen Unglückes, das durch überhöhtes Tempo entstehen könnte.
Gelegentlich gibt es keinen Ausweg, einem größeren Fehler aus dem Weg zu gehen, außer durch die Akzeptanz eines geringeren. Ist dies der Fall, wird er erlaubt und manchmal zur Pflicht. Der Verzehr von Aas ist gesundheitsschädlich und im islamischen Recht strikt untersagt, aber Hungertod ist ein größeres Übel und stärker verboten.
Falsche Prioritäten sind ein häufiger Stolperstein. Oft entstehen sie aus einem falschen Bewusstsein darüber, dass verschiedene Dringlichkeiten Teil der islamischen Religion sind. In einigen Fällen entstehen sie aus dem Transfer von tradierten Lebensgewohnheiten in den Westen, ohne dass ihre Nützlichkeit im neuen Kontext bewertet wird. Der Vorwurf, die offene Rede über die Probleme der Gemeinschaft sei beschämend oder stelle einen Angriff auf den Islam dar, ist tief in den Vorstellungen von Scham und Ehre aus der alten Welt verwurzelt.