Nach der Hamburger Randale: Kurden gegen Muslime?

(iz). Der Krieg in Syrien hat unlängst auch europäischen Boden erreicht. Kam es in den letzten Jahren „nur“ zu Gräben zwischen Sunniten und Schiiten, entbrennt nun ein Konflikt zwischen Kurden und … Muslimen? Angeheizt vom Drama um Kobane im türkisch-syrischen Grenzgebiet protestieren Kurden deutschlandweit gegen „das tatenlose Zusehen der Staatengemeinschaft“. Unter ihnen sind jedoch auch Radikale, oftmals Anhänger der PKK. Gefundenes Fressen für die wiederum anderen Radikalen, Anhänger der Terrorgruppe IS.

In Hamburg und Celle trafen wütende Mobs aufeinander, verletzten sich und lösten eine Welle der Empörung aus. Spannend ist dabei die Frage, wie sich innerhalb so kurzer Zeit diese Massen an Gewaltbereiten mobilisieren ließen. Doch keine Zeit für Verschwörungstheorien, es bedarf Schlichtung.

Die Community sollte jeden Import von Konflikten kategorisch zurückweisen. Denn so schnell entstehen Phrasen wie „Kurden und Muslime“, welche suggerieren, dass ein Kurde kein Muslim sein kann und ein Muslim kein Kurde. Selbstverständlich ist das Unsinn. Wird hier bewusst mit Begriffen gespielt? Die Emotionalisierung Jugendlicher erwies sich in der letzten Zeit als äußerst effektiv. Und die Medien danken es. Im Internet liefern sich Fanatiker, die sich als Verteidiger aufspielen, Wortschlachten. Jeder wirft dem anderen Manipulation und Hetze vor. Manipulation wovon?

Die Schura Hamburg, ein Zusammenschluss der muslimischen Gemeinden, berichtete, dass die so genannten „Salafisten“ (oder Wahhabiten) zum Angriff auf eine kurdische Einrichtung aufgerufen haben. In Facebook meinen die vermeintlichen Salafisten hingegen, die Al-Nur Moschee in Hamburg vor den wütenden Kurden beschützt zu haben. Es kam zum Dementi der Moscheeführung. So sollen die mutmaßlichen IS-Sympathisanten die Moschee gegen ihren Willen besetzt haben und sogar handgreiflich geworden sein. Versagt hat vor allem die Polizei.

Die Unterteilung in Kurden und Muslime ist in diesem Kontext absurd. In Syrien und dem Irak sind vor allem auch Muslime Opfer des IS. Außer Acht darf man auch nicht lassen, dass der Großteil der Kurden muslimisch ist. Und wohl jeder Muslim würde vehement verneinen, dass die Terrormiliz IS, ihre Sympathisanten und ihre barbarischen Gräueltaten repräsentativ für die Muslime sind. Aber auch in Hamburg sind die Fronten nicht allzu klar.

Deutschlandweit kam es immer wieder zu Übergriffen auf Unbeteiligte, was bei manchem den Drang weckt, sich zu solidarisieren. Den Radikalen, egal aus welchem Lager, darf kein Raum gegeben werden. Ebenso darf kein erneuter türkisch-kurdischer Konflikt entstehen, schon gar nicht auf deutschem Boden. Kurdisch- und türkischstämmige Muslime in Deutschland sind Geschwister. Man muss es wiederholen, so selbstverständlich das auch klingen mag. Die deutsch-muslimische Community sieht sich eigenen Herausforderungen gegenübergestellt und sollte nicht die politischen Konflikte aus dem Ausland adaptieren.

Eine starke muslimische Gemeinschaft in Deutschland könnte glaubwürdiger Vermittler für Krisenherde außerhalb werden. Es bleibt nur der Aufruf zu Besonnenheit. Außenstehende sollten sich nicht instrumentalisieren lassen. Geschädigte sind letzten Endes erneut Muslime im Allgemeinen.

Eskalation in St. Georg: In Hamburg kam es zu Randale und gewaltsamen Ausschreitungen

Hamburg (dpa/iz). Das derzeitige Drama im syrisch-türkischen Grenzgebiet hat nach Ansicht deutscher Muslime das Potenzial, zu Spannungen innerhalb der muslimischen Community sowie zwischen unterschiedlichen Exilgruppen zu führen beziehungsweise bestehende noch zu steigern. In den sozialen Netzen dominierte der Wunsch nach Harmonie innerhalb der Gemeinschaft sowie das Verlangen, dass es nicht zu einem Überschwappen der Konfliktes nach Deutschland kommt.

Aktueller Anlass waren Ausschreitungen am Abend des 07. Oktobers in Folge einer friedlichen Spontandemonstration von Kurden in der Hamburger Innenstadt gegen den wahrscheinlichen Fall der syrischen Stadt Kobane an Kämpfer des syrisch-irakischen Islamischen Staates. Später zogen Demonstranten in den Stadtteil St. Georg weiter. Zu einer Eskalation kam es, nachdem radikalisierte, mutmaßliche Sympathisanten der PKK auf ebenso aufgeheizte, mutmaßliche „Salafisten“ trafen. Das ganze spielte sich unter anderem vor der Al-Nur-Moschee in St. Georg ab, wie ein Sprecher der Polizei am Mittwoch sagte.

Dort stellten sich ihnen den Angaben zufolge etwa 400 mutmaßliche „Salafisten“ entgegen. Zwischen Mitgliedern beider Gruppen, die teilweise bewaffnet gewesen sein sollen, habe es „gewalttätige körperliche Auseinandersetzungen“ gegeben. Ein dpa-Fotograf vor Ort berichtete in der Nacht, die Polizei habe die Zufahrtsstraßen zur Moschee komplett abgesperrt. Einsatzwagen blockierten den Sichtkontakt zwischen den Gruppen. Die Lage sei „ausgesprochen gewalttätig“ gewesen. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, um die Parteien zu trennen. Verletzte wurden in Krankenhäuser gebracht, wie ein Sprecher der Feuerwehr sagte. Der Einsatz dauerte bis zum frühen Morgen an.

Erschwerend kam hinzu, dass nach Berichten in den sozialen Netzerken Facebook und Twitter „Salafisten“ die betroffene Moschee gegen den Willen ihrer Betreiber besetzt haben sollen. Vermittlungs- beziehungsweise Deeskalationsversuche seitens der SCHURA Hamburg, einem Zusammenschluss Hamburger Moscheegemeinden, sollen erfolglos geblieben sein. Nach Angaben eines SCHURA-Vertreters gegenüber der Hamburger Lokalpresse sei die Polizei bei der Moscheebesetzung „überfordert“ gewesen. MAn habe es versäumt, die Besetzer aus der Moschee zu lassen beziehungsweise zu räumen, wodurch normale Mitglieder und Besucher zwischen die Fronten geraten seien.

Erklärung der betroffenen Al-Nur-Moschee vom 8.10.2014:
http://www.alnour-moschee.com/index.php/de/

Die Berliner DMK-Vorsitzende Iman Andrea Reimann war an den Vorbereitungen für die lokale Friedensaktion beteiligt

Berlin (iz). Die Bundeshauptstadt gehört zu den Orten, an denen die deutschen Muslime auch außerhalb ihrer Moscheen öffentlich ihre Distanz zu gewalttätigen Phänomenen wie dem IS bekunden wollen. Iman Andrea Reimann vom dortigen Deutschsprachigen Muslimkreis gibt Auskunft.

Islamische Zeitung: Liebe Iman Andrea Reimann, Berlin gehört zu den Städten, in denen Muslime sich an der Friedensaktion vom 19. September beteiligen. In welchem Rahmen sind Sie vor Ort eingebunden?

Iman Andrea Reimann: Als erstes möchte ich sagen, dass ich es als wichtig für unsere Stadt Berlin erachte, dass wir uns als Moscheen zusammen tun, unabhängig von der Verbandszugehörigkeit und gemeinsam gegen Hass, Islamfeindlichkeit und Rassismus in unserer Gesellschaft auftreten.

Als Verwaltungsratmitglied der Islamischen Förderation war ich in die Vorbereitungen involviert und werde mit unseren Mitgliedern des DMKs das Freitagsgebet vor der Mevlana Moschee wahrnehmen und an der Mahnwache teilnehmen. An mich wurden Anfragen herangetragen, ob es für politische Vertreter der Stadt und Bundespolitik möglich ist, sich an der Mahnwache zu beteiligen.

Islamische Zeitung: Was ist geplant?

Iman Andrea Reimann: Bundesweit werden sich an die 2.000 Moscheen unter dem Aufruf „Muslime stehen auf gegen Hass und Unrecht“ am Freitag, den 19. September, mit ihren Mitgliedern und Besuchern an den Mahnwachen und Freitagsgebeten beteiligen, was wirklich wunderbar ist. In Berlin werden wir eine große Mahnwache nach dem Freitagsgebet vor der Mevlana Moschee in Kreuzberg abhalten. Darüber hinaus beteiligen sich alle Moscheen des ZMD, der IFB, der DITIB und der VIKZ in Berlin, um in ihren Predigten auf diese Aktion einzugehen und die Muslime für das Thema zu sensibilisieren.

Islamische Zeitung: Mit welcher Motivation nehmen Berliner Muslime daran teil?

Iman Andrea Reimann: Für die Berliner Muslime ist es zum großen Teil eine wichtiger Anlass, Solidarität mit der Mevlana Moschee und darüber hinaus Solidarität mit anderen Bürgern unserer Gesellschaft zu bekunden. Viele meiner Gemeindemitglieder waren kurz nach dem Brand vor Ort beim ersten Freitagsgebet der Mevlana Moschee. Ihre Bestürzung war groß, als sie die Beschädigung des Rohbaus der Moschee gesehen haben. Darüber hinaus hat es uns noch einmal mehr miteinander verbunden.

Islamische Zeitung: Wie reagieren die Muslime in Ihrem lokalen Umfeld auf den Event? Fühlen sie sich eingebunden?

Iman Andrea Reimann: Es ist immer eine Herausforderung, möglichst viele Muslime zu erreichen, um ein Thema, eine Aktion in die Breite zu streuen und einen Effekt der Nachhaltigkeit zu erzielen. Hier können wir uns immer noch verbessern und mehr Geschwister einbeziehen, die über Netzwerke verfügen und umsetzbare Ideen einbringen können. Für mich ist immer das persönliche Gespräch am wichtigsten, um möglichst viele zu informieren und zu mobilisieren.

Islamische Zeitung: Seit Wochen kursieren die Ansichten vermeintlicher Experten, wonach das Problem von Radikalisierung und Extremismus viel drastischer sei und eine deutlich größere Menge an Muslime klammheimlich Sympathien gegenüber gewaltbereiten Extremisten hegt? Können Sie, aus Ihrer jahrelangen Erfahrung heraus, diese Behauptung bestätigen oder verneinen?

Iman Andrea Reimann: Ich finde es erschreckend, wie selbstverständlich jeden Tag neue Zahlen der Radikalen, der Extremisten in die Höhe getrieben wird, ohne eindeutige Belege. Die Methode hat sich seit den Kreuzzügen nicht verändert, wir Muslime werden aufgrund unserer Religion mit schlechten Eigenschaften belegt, um den abendländischen Versäumnissen und Fehlentwicklungen, zu zu spielen.

Dass wir in unseren Moscheen oder im Internet Muslime haben, die eine andere Vorstellung von religiösem Leben und politischer Auseinandersetzung haben, ist nicht zu verneinen. Jedoch immer reflexartig darauf zu reagieren oder zu ignorieren, kann für uns nicht der Weg zur Auseinandersetzung und Weiterentwicklung sein.

Islamische Zeitung: Liebe Iman Andrea Reimann, wir bedanken uns.

Daten Berliner Schwerpunktveranstaltung:
Erwartete Gäste: Nikolaus Schneider, Vorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland; Cem Özdemir (Bündnis 90 / Die Grünen); Gregor Gysi (Die Linke).
Ort: Mevlana Moschee Skalitzer Str. 131-132 10999 Berlin

US-Muslime diskutieren den anhaltenden Rassismus

(islamicommentary.org/IZ). Anders als in den muslimischen Gemeinschaften Westeuropas, stellen in den USA einheimische Muslime einen nicht zu übersehenden Block dar. Vor allem, aber nicht nur, sind das schwarze Muslime, die […]

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Das „Gujarat-Modell”: Blühende Landschaften und Muslime hinter Mauern

Narendra Modi ist in Indien ein Politikstar – und wahrscheinlich der nächste Premierminister. Er vermarktet sich als Macher, der die Wirtschaft in seinem Bundesstaat Gujarat zum Blühen bringt. Von der Ausgrenzung der Muslime und Armut dort spricht er nicht.

Neu Delhi (dpa). «Entwicklung» ist eines der Lieblingswörter von Narendra Modi. «Wandel» ein anderes. Und auch «Investitionen». Der 63-Jährige greift gerade nach dem wichtigsten Amt in Indien und möchte das Milliardenland tatkräftig umkrempeln: Straßen und Stromleitungen bauen, Geld aus dem Ausland anlocken, die grassierende Korruption eindämmen, dringend benötigte Jobs schaffen.

Wenn Modis Partei BJP – wie alle Prognosen voraussagen – am Freitag die Mehrheit im indischen Unterhaus bekommt, kann er loslegen. Dann, so lautet die Hochrechnung von Modi, werde der ganze Subkontinent so aufblühen wie der Bundesstaat Gujarat, den er seit zwölf Jahren regiert. Doch umfasst das «Gujarat-Modell» nicht nur Fabriken und Hochhäuser. Es steht auch für zerstörte Umwelt, protestierende Bauern und eine tiefe Spaltung der Gesellschaft.

In Ahmedabad, der größten Stadt Gujarats, lebt die muslimische Minderheit in strikt abgegrenzten Ghettos. Allein im Viertel Juhapura wohnt fast eine halbe Million Menschen, im Norden von den Hindus durch eine kilometerlange, mit Stacheldraht besetzte Mauer getrennt. Direkt an der «Grenze» lebt Imam Khan. Doch sicher fühlt er sich deswegen nicht. «Es gibt keinen Schutz für Muslime in diesem Land», sagt er.

Die Mauer wurde vor mehr als 20 Jahren gebaut. Denn 1992 gab es blutige Kämpfe zwischen Hindus und Muslimen. Mal wieder. Schon bei den großen Massakern 1969 und 1985 wurden in Gujarat jeweils Hunderte Menschen ermordet, und auch davor, zwischendrin und danach flammte die Gewalt immer wieder auf. «In keinem anderen indischen Bundesstaat starben in den vergangenen Jahrzehnten mehr Menschen durch religiöse Unruhen», sagt die Soziologin Raheel Dhattiwala. Dabei wurde Mahatma Gandhi, die Ikone der Gewaltlosigkeit, in Gujarat geboren.

Imam Khan lebt seit 40 Jahren an dem Ort, den die Hindus in Ahmedabad heute abfällig «Klein Pakistan» nennen. Damals, erzählt er, habe die Gegend rund um sein Haus nur aus Feldern und kleinen Dörfern bestanden. Zu Fuß sei er, der Muslim, zu den Hindus hinüber gelaufen. «Ich war sogar ein Treuhänder ihres kleinen Tempels», sagt er. Heute lebten sie in zwei verschiedenen Welten. Das gilt auch für die Infrastruktur: Die Leitungen für Wasser, Abwasser und Gas enden an der Mauer. «Auf dieser Seite haben wir nichts.»

Seine schlimmsten Erinnerungen stammten aus dem Jahr 2002, kurz nachdem Modi die Regierungsgeschäfte in Gujarat übernahm, sagt Khan. Damals wurden hinter der Mauer gerade moderne, mehrstöckige Gebäudekomplexe gebaut, die heute weit über sein Haus emporragen. «Von den Rohbauten aus attackierten sie uns. Mit Säure-Bällen, Benzin-Bomben und Steinen. Wir trauten uns kaum aus dem Haus, nachts konnten wir kein Licht machen. Monatelang ging das so.»

Die Unruhen von 2002 tobten nicht nur in Juhapura, sondern an Hunderten Orten in Gujarat. Mehr als 1000 Menschen wurden getötet, die meisten davon Muslime, Mobs raubten ganze Viertel aus, mehr als 100 000 Menschen mussten in Lager fliehen. Soziologin Dhattiwala, die ihre Doktorarbeit zu den Unruhen verfasste, nennt sie «Pogrome». «Weil sie nicht spontan waren, sondern vom Staat gelenkt wurden.» Modis hindu-nationalistische BJP profitierte von dem Hass: Seit 2002 gewann sie alle Wahlen in Gujarat mit absoluter Mehrheit.

Naroda Patiya war eines der am schlimmsten betroffenen Viertel. «Ein Mob von 5000 Menschen sammelte sich am Highway 8, vor der alten Moschee. Sie riefen: “Tötet sie alle, verbrennt sie bei lebendigem Leib”», erinnert sich Master Nazir, der örtliche Lehrer. Dann seien sie, mit Macheten und Benzinkanistern in den Händen, auf das Viertel zugestürmt – angestachelt von Politikern, angeführt von Polizisten.

«Einer schlitzte einer schwangeren Frau den Bauch auf. Er spießte das Baby auf und hielt es triumphierend in die Luft», erzählt Nazir weiter. «Eine 75 Jahre alte Frau wurde von ihrer Terrasse geschmissen, dann ihr Körper auf eine Rikscha geworfen und dort verbrannt. Junge Frauen wurden auf offener Straße vergewaltigt.» 101 Menschen seinen gestorben, darunter ein guter Freund von ihm, der eine Polizeikugel abbekam.

«Eine solche Tragödie kann man nicht einfach vergessen», sagt er. Trotzdem hat Nazir keine Rachegelüste. Die 50 Hindus, die schon vor dem schrecklichen 28. Februar 2002 in Naroda Patiya lebten, wohnen noch immer im Viertel – ganz anders als in zahlreichen Hindu-Gegenden, in denen selbst reiche Muslime keine Wohnung bekommen. Die Hindu-Kinder gingen auf seine Schule, sagt Nazir.

Gegenüber der Schule, neben den Ziegen und Hühnern, die im Schatten der einfachen Häuser leben, steht eine kleine Fabrik. Dort stellen muslimische Arbeiter die heiligen Fäden her, die Priester den Hindus im Tempel ums Handgelenk binden. «Unser Erkennungszeichen als Menschen ist nicht die Religion, es ist das Blut. Und das ist bei uns allen rot», sagt Nazir.

Überall in Ahmedabad erheben Muslime die Forderung, die Regierung solle den Austausch zwischen den Religionen fördern. Und endlich die zugesagten Entschädigungsgelder für die Opfer der Gewalt zahlen. «Aber Modi kümmerte sich nie um uns», sagt Nazir. Im ganzen Umkreis gebe es keine Schule und kein Krankenhaus, und die meisten Straßen sind nicht geteert. «Was hat Modi denn bitte für die normalen Menschen getan, obwohl er immer von seinem “Gujarat-Modell” spricht?»

Dieses Modell bedeutet meist zweistelliges Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren, während Gesamt-Indien zuletzt auf unter fünf Prozent einbrach. Es steht für schnelle Genehmigungen statt jahrelanger bürokratischer Hürdenläufe. Für klare Regeln statt Korruption. Und vor allem für offene Türen für Investoren.

Eine besonders beliebte Geschichte geht so: Der indische Autohersteller Tata Motors stieß beim Bau seiner Nano-Fabrik in Westbengalen auf enorme Proteste. Die Bauern wehrten sich mit Händen und Füßen, ihr Land für die Fabrik herzugeben. Schließlich machte Tata einen Rückzieher. Nur wenige Stunden später erhielt Ratan Tata, der damalige Chef der Tata-Gruppe, eine SMS von Modi: «Willkommen in Gujarat». Nach wenigen Tagen war der Land-Deal vollzogen. Und Ford, Peugeot und Maruti Suzuki folgten bald.

«Modi ist überzeugt davon, dass alle Menschen davon profitieren, wenn die Wirtschaft brummt», sagt Yamal Vyas, Sprecher der BJP in Gujarat. Um dieses Unternehmertum zu fördern, habe er für eine ununterbrochene Stromversorgung und gute Straßen gesorgt. Auch die Verwaltung funktioniere tadellos, weil Modi so fokussiert arbeite und anleite. «Er sagt niemals “vielleicht”, sondern immer “ja” oder “nein”.»

Analysten jedoch meinen, dass diese große persönliche Kontrolle auch Probleme mit sich bringe. Niemand traue sich mehr, Projekte zu kritisieren, auch wenn sie totaler Blödsinn seien, meint etwa Rajiv Shah vom Zentrum für soziale Gerechtigkeit. So sollte etwa die «intelligente Stadt» Dholera entstehen, eine Metropole, doppelt so groß wie Mumbai, voller glänzender Hochhäuser, die an Shanghai oder Singapur erinnern. «Doch bis heute ist das nur karges Land, es gibt kaum Investoren», sagt er.

Auch GIFT, die «Gujarat Internationale Finanz-Technologie-Stadt», besteht bislang nur aus zwei Häusern – die auch noch zum Großteil leer stehen. «Welches große Finanzinstitut will denn seine Büros nach Gujarat bringen?», fragt Shah. Der Modi-Vertraute Jay Narayan Vyas hingegen meint, die Planung sei gut gewesen, Investoren hätten kommen wollen, nur habe ihnen die weltweite Finanzkrise dann einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Wie so oft in Gujarat gibt es eben viele Antworten auf eine Frage. Schulbildung? 99 Prozent beginnen in der Grundschule, aber besonders viele Kinder scheiden nach nur wenigen Jahren aus. Unterernährung bei Kindern? Liegt bei 41 Prozent, und damit über dem Durchschnitt in Indien, doch gibt es in Gujarat eben auch schwer zu erreichende Stammesvölker, Wüstendörfer und arme Küstenbewohner. Florierende Wirtschaft? Ist Modis Steckenpferd, war aber schon in den Jahrzehnten zuvor ziemlich ausgeprägt.

«Modi gibt Tonnen an Geld aus, um die Entwicklung Gujarats als seinen persönlichen Erfolg zu preisen», sagt der lokale Journalist R.K. Mishra. Modi rede immer von Fortschritt, aber dabei polarisiere er das Land. Unter dem wilden Fabrikwachstum litten die Bauern, denen Land weggenommen würde, sowie die Umwelt, auf die niemand mehr Rücksicht nehme. «Doch Modi ist wie ein Magier, er kann es dennoch allen verkaufen.»

Während des Wahlkampfes sagte Modi in der heiligen Stadt Varanasi: Wenn ihr mich wählt, werde ich den Ganges so saubermachen wie den Fluss Sabarmati in Gujarat. Wer jedoch an dessen Ufer steht, auf einer bombastischen Betonpromenade in Ahmedabad, sieht eine braune, stinkende Brühe. Der Sabarmati, das zeigen Daten der Zentralen Umweltschutzbehörde, gehört zu den dreckigsten Flüssen Indiens.

In Ägypten wird Ausnahmerecht wieder zum Normalfall

(iz). Ein Putsch soll es nach Auffassung des amerikanischen Außenministeriums nicht gewesen sein. Bisher hat das neue Regime in Kairo auch auf eine explizite Verhängung des Ausnahmezustandes verzichtet. Eini­ge Tage […]

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Muslime während des 2. Weltkriegs: Gelegentlich wird der propagandistische Eindruck erzeugt, Muslime hätten Menschheitsverbrechen mit zu verantworten

(iz). In unserer Januar-Ausgabe erinnerte Sulaiman Wilms in einem Essay an den mutwilligen Umgang mit Geschichte („Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom“), insbesondere soweit es Muslime und den Islam betrifft. Der schwerwiegendste – und sicherlich fatalste – Vorwurf dieser nachträglichen Deutung von Geschichte ist, Muslime in verschiedenen Teilen der Welt hätten sich in ihrer Allgemeinheit zu Mittätern am Völkermord der Nazis während des 2. Weltkriegs gemacht. Vereinzelte (säkulare) politische Bewegungen des Nahen Ostens, der unrühmliche „Mufti“ von Jerusalem sowie muslimische SS-Einheiten von „Hilfswilligen“ ­werden mit einer Weltreligion und ihren Gläubigen gleichgesetzt. So entsteht der propagandistische wie falsche Eindruck, Muslime hätten dieses Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts mit zu verantworten. ­Laila Massoudi ordnet den ungerechten Anwurf ein.

„Das schließt Araber, um die es hier geht, und andere Angehörige afrikanischer und asiatischer Völker ein, die sich zwischen 1933 und 1945 im Herrschafts- und Einflussbereich des Nationalsozialismus befanden. Ihre Begegnungen mit ihm haben (…) im kollektiven Gedächtnis der Völker – auch der eigenen – keinen festen Platz gefunden; ihr Leiden unter ihm und auch ihr Kampf gegen ihn befinden sich gewissermaßen im ‘Schatten des Mondes’.“ (Prof. Dr. Gerhard Höpp, Im Schatten des Mondes)

Die Ereignisse vom 11.09.2001 waren eine Zeitenwende für die internationale Politik sowie die Einstellung gegenüber Interventionen und massiven Menschen­rechtsver­letzungen wie Folter. Sämtliche relevanten Bezüge zum Thema Islam und Muslime wurden von einer ideologisierten Islamkritik einer Instrumentalisierung unterzogen. Ein Bestandteil dieser Neubetrachtung war eine rückwärtsgewandte Neu-Interpretation von Geschichte – dazu gehört das Konstrukt eines „Islamofaschismus“. Diese beinhaltet Veröffentlichungen weniger Historiker und vieler Journalisten, die anhand von Einzelpersonen und individuellen Bewegungen beziehungsweise Ländern die haarsträubende These aufstellten, Muslime in ihrer Allgemeinheit hätten sich an den nazistischen Untaten beteiligt.

Wahn und Wirklichkeit
Eine solche These ist so stichhaltig wie die Behauptung, Länder wie Norwegen oder Dänemark hätten sich wegen der Aktivitäten einiger Kollaborateure in ihrer Gänze dem deutschen Vernichtungs­willen verschrieben. Die Absicht war klar: Die ideologische Auseinandersetzung mit dem Islam sollte durch Assoziationen mit dem dunkelsten Segment der deutschen und europäischen Geschichte eskaliert werden. Ideologisch begleitet wurde das Projekt durch Pamphlete, die einen theoretischen Zusammenhang zwischen ­Islam und dem Ungeist Hitlers herzustellen versuchten.

Vor wenigen Wochen jährte sich zum 68. Mal das Ende des 2. Weltkriegs (Japan folgte Monate später). Es lohnt sich ein Hinweis auf Max Hastings. Der britische Journalist (Augenzeuge des Falklandkrieges) und Autor platziert in ­seiner wegweisenden Abhandlung über den Zweiten Weltkrieg „Inferno: The World at War, 1939-1945“ den tödlichsten Konflikt der Menschheitsgeschichte in einem globalen Rahmen.

Nach der Lektüre von Hastings Buch wird klar, dass die vielen Muslime Asiens und des Nahen Ostens entweder Unbeteiligte oder Opfer des „tödlichsten Konflikts der Menschheitsgeschichte“ (Timo­thy Snyder) ­waren. Die historische Verzerrung war unter anderem auch deshalb möglich, weil alles ausgeblendet wurde, was nicht ins Bild passte. Solange es das unrühmliche Beispiel des „Muftis“ gab und man auf die Handschar-Einheiten (die sich auch deshalb Deutschland anschlossen, weil die bosnischen Muslime ins Kreuzfeuer von Tschetniks, Ustascha-Faschisten und Partisanen gerieten) verweisen konnte, war der Rest egal.

Kampf gegen Nazismus
In Europa gab es muslimische ­Soldaten der Sowjetarmee (die am Kampf gegen Hitlerdeutschland teilnahmen und deren Heimatregionen unter den stalinistischen Gewaltwellen litten). Zu nennen wären auch die muslimischen Kolonialeinheiten Frankreichs und Großbritanniens, die – aus den imperialen Kolonien Nordafrikas, Schwarzafrikas, Asiens und des Nahen Ostens kommend – in Nordafrika und in Europa gegen die nazistischen Armeen kämpften. Elemente der muslimischen Bevölkerung, sofern sie nicht direkt Opfer von Kampfhandlungen oder Zuschauer waren, stellten keine wesentlichen Akteure des Weltkrieges in Europa dar. Im Gegenteil: Es gab beispielsweise muslimische Partisanengruppen wie in Albanien, die sich ­gegen den Faschismus zur Wehr setzten.

Trotz der selektiven Zitatwahl der Islamkritik ging es den Muslimen unter Hitler nicht so, wie es die angeblichen Belege nahelegen. „Ich befürchte, da kommt man zu einem sehr traurigen Schluss. Wir Muslime waren unter dem Nazi-Regime nie vor Belästigungen seitens der Behörden sicher. Aber das hing von der politischen Großwetterlage ab. Wenn es dem Regime ins Konzept ­passte, etwa weil man sich aus politischen Gründen mit den Arabern gut stellen wollte, blieben wir unbehelligt, aber man ließ es uns durchaus immer fühlen, dass man uns als Angehörige einer ‘artfremden’ Religion betrachtete“, berichtete der musli­mische Veteran Muhammad Aman Hobohm vor einigen Jahren im Gespräch von seinen Erfahrungen während der Nazizeit. Und: Der Islam war auch kein Schutz für jene Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland, die jüdische Vorfahren hatten.

Es gab keinen Masterplan
Max Hastings macht deutlich, dass Hitlerdeutschland (anders als das Kaiserreich, das sich stark in der muslimischen Welt engagierte) trotz gegenteiliger, zusammenhangloser Aktionen (auf die sich die retroaktiven Autoren gerne stützen) kein echtes Interesse am Nahen Osten hatte. Plausible Pläne, die Briten aus Ägypten und von Erdölquellen des Nahen Ostens zu vertreiben, ­wischte das Nazi-Regime beiseite. Es gab isolierte Versuche, anti-britische und anti-franzö­sische Kräfte in der Region zu unterstützen, aber diese wurden niemals ernsthaft realisiert.

In Asien sah die Lage noch eindeutiger aus. Hier fanden – in den heutigen Staaten Burma, Malaysia und Indonesien – die Kampfhandlungen auf dem Rücken muslimischer Bevölkerungen statt. Dass einige Führer asiatischer Unabhängigkeitsbewegungen nichts dagegen einzuwenden hatten, ihre alten Kolonialherren loszuwerden (worauf Japan zu Beginn setzte), kann nicht als faschis­toide Geisteshaltung ausgelegt werden. Und nicht nur die Japaner missachteten jede Grundregel zum Schutz der Zivilbevölkerung. So ließen es die Briten zu, dass in Bengalen eine Hungersnot zehntausende, wenn nicht gar hunderttausende Todesopfer forderte. Dies erklärt auch das Scheitern von Briten, Franzosen und Niederländern, nach dem Krieg ihre alte Kolonialherrschaft wieder anzutreten.

Muslimische Sorgen nach Brandanschlag auf Londoner Moschee

Der Brand eines islamischen Zentrums in London sendet Schockwellen durch die muslimische Gemeinschaft Großbritannien und verstärkt – nach der brutalen Ermordung eines Armeesoldaten – wachsende Befürchtungen vor einer neuen, anti-muslimischen Welle.

(OnIslam.net). „Muslime sind verängstigt und fühlen sich vollkommen unverstanden“, meint Massoud Shadjareh, Vorsitzender der Islamic Human Rights Commission (IHRC) gegenüber der „International Business Times“ am 6. Juni. „Sie wurden physisch angegriffen, Moscheen niedergebrannt, Friedhöfe beschädigt und die sozialen Netzwerke sind voller anti-muslimischem Hass und Drohungen von Gewalt.“

Vorgehen verlangt
Muslimische Vertreter riefen die Regierung zum Vorgehen gegen anti-muslimische Ressentiments auf. „Dies war der letzte Vorfall in einer ganzen Reihe von Angriffen seit dem schrecklichen Mord an Lee Riby“, erklärte Farooq Murad, der Generalsekretär vom Muslim Council of Britain (MCB). „Es ist an der Zeit für ein ernsthaftes Vorgehen gegen solche Verbrechen.“

Nach der Ermordung hat die rechtsgerichtete EDL (English Defenve League) divese Proteste gegen Muslime und ihre Moscheen abgehalten. Laut Murad habe es diverse Verurteilungen des EDL-Vorgehens gegeben, aber keine daraus resultierenden Handlungen. „Wir brauchen eine wirkliche Antwort von den Polizeiführungen, angefangen bei der nationalen Polizei, in dieser Frage. Lokale Polizeieinheiten und Bezirkskommandanten haben sich in respektabler Weise mit den Gemeinschaften in Verbindung gesetzt. Jetzt müssen wir vom Leiter der Polizei von Groß-London und den Verantwortlichen der Vereinigung der Polizeichefs hören, was sie für den Schutz vor steigenden Angriffen zu tun gedenken.“

Zum Hintergrund der jüngsten Übergriffe auf Moscheen. Interview mit der Medienwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer

(iz). Vor Kurzem wurde bekannt, dass vier Moscheen an unterschiedlichen Orten zum Ziel anti-muslimischer Übergriffe wurden. Trotz muslimischer Stellungnahmen dazu erreichte das ­Thema entgegen der Schwere der Vorgänge nur die Seiten einiger Lokalblätter sowie von Muslimen betriebene Webseiten.

Die IZ sprach mit der Medienwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer über den Zusammenhang zwischen medialer Muslimfeindlichkeit und solchen Übergriffen. Wir fragten nach den Mechanismen der öffentlichen Islamkritik, wollten wissen, wie groß die Fähigkeit zur Selbstkritik unter Deutschlands Qualitätsmedien ist und reflektieren über die Möglich­keit, ob und wie anti-muslimische Webseiten einer stärkeren Kontrolle unterzogen werden. Dr. Schiffer sieht „Zitierzirkel“, die am Fortbestand und der Verfestigung von Vorurteilen beteiligt sind. Abschließend beleuchten wir mit der Expertin die Möglichkeit, ob und wie Muslime Gegenstrategien entwickeln können, solange sie – wie bisher – keine Diskurshoheit in den Mainstreammedien haben.

Islamische Zeitung: Frau Dr. Schiffer, in den letzten Tagen wurde bekannt, dass es Übergriffe auf vier unterschiedliche Moscheegemeinden gab. Viele Muslime sehen Zusammenhänge zwischen solchen Taten und einer medial präsenten „Islamkritik“ unterschiedlicher Färbung. Erkennen Sie als Medienwissenschaftlerin hier einen Zusammenhang?

Dr. Sabine Schiffer: Ja, wir sehen hier einen Zusammenhang und warnen davor bereits seit Langem.

Islamische Zeitung: Wie genau funktioniert dieser Zusammenhang zwischen den Segmenten der medialen Muslimfeindlichkeit und dieser ideologischen Kriminalität?

Dr. Sabine Schiffer: Die so genannte „Islamkritik“, die oft weit über Religionskritik hinausgeht, führt zu einer regelrechten Dämonisierung aller Muslime und schürt Ängste. Sie wird in Teilen der allgemeinen Medien seit Langem, extrem im Internet und jetzt auch auf der Straße in Form von ­Infoständen ausgefochten. Das ist gewissermaßen eine Dauerberieselung, die bei einigen verfängt und Ängste auslöst. Es ist immer wieder so wie das, was wir von den Anschlägen von vor 20 Jahren kennen [Solingen], sodass sich gerade junge Leute aufgefordert fühlen, endlich mal etwas zu tun, während die Alten nur reden. Der Ausgrenzungscharakter ­solcher diffamierenden Debatten wird sehr oft unterschätzt.

Islamische Zeitung: Gilt das für alle Erscheinungen, die unter „Islamkritik“ firmieren, oder gibt es eine Grenze zwischen legitimer Meinung und Diffamierung?

Dr. Sabine Schiffer: Natürlich gibt es solche Grenzen. Die Frage ist aber, ob noch zwischen beidem ­unterschieden wird. Geht es wirklich um Religionskritik? Das ist ja normalerweise kein Thema öffentlicher Debatten. Währenddessen gibt es Muster bei der Äuße­rung bestimmter Themen, deren ­Kritik oft berechtigt ist. Deren Fokus aber ist ein anderer. Sehr oft werden ­allgemeine Missstände wie Gewalt, Terror, Krieg, Frauenunterdrückung oder Antisemitismus, die auf der ganzen Welt zu beklagen sind, einfach Muslimen allein zugewiesen. Derart wird eine kleine Verschwörungstheorie konstruiert, so als müsse man gegen Islam und Muslime vorgehen, um diese Probleme zu beseiti­gen. Hier haben diese Kritik beziehungs­weise die allgemeine Religionsdiffamierung eine Funktion, die man in einem solchen Moment erkennen muss. ­Dabei werden immer wieder zu verallgemeinernde Klischees in den Raum gestellt und wiederholt, sodass ich glaube, dass die öffentliche Debatte ein bisschen kritischer betrachtet werden müsste.

Islamische Zeitung: Jüngst veröffentlichten Medienwissenschaftler Studien, in denen sie das Maß der Selbstkritik in der Medienarbeit untersuchten. Das Ergebnis sah nicht so gut aus… Gibt es Reflexion in Medien, was Veröffentlichungen über den ­Islam auslösen können?

Dr. Sabine Schiffer: So wenig, wie es „den Islam“ gibt, so wenig gibt es „den Journalisten“ oder „die Medien“. Viele stellen selbstkritische Fragen. Aber es gibt auch einige, die dadurch auffallen, dass sie eine ganz starke Tradition einer bestimmten Ausrichtung pflegen. Insofern herrscht ein bisschen der Ruch, dass ja nur über Fakten berichtet werde. Es wird aber nur selten überprüft, ob diese ­Fakten überhaupt relevant für den vorliegenden Sachverhalt sind. Wenn ich dies immer zusammen konstruiere, dann suggeriere ich natürlich Zusammenhänge, die vielleicht bei etwas umfassenderer Betrachtung gar nicht als etwas spezifisch musli­misches oder islamisches erkennbar wären. Hier gibt es Leute, die das reflektie­ren, und es gibt solche, die eine Reflektion verweigern. Sie halten sich für sehr gut informiert und entwickeln daher sowieso eine gewisse Barriere, die Dinge selbstkritisch zu betrachten. Studien belegen dies. Auch die Fähigkeit der Kolle­gen untereinander, in öffentlichen Debatten tatsächlich Dinge und Kollegen in Frage zu stellen, ist gerade in Deutschland eher selten ausgeprägt.

Islamische Zeitung: Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass Behauptungen, die ihren Ursprung in Meinungen haben (wie „der Islam unterdrückt Frauen“) gerade in letzter Zeit zu nicht hinterfragten Fakten geworden sind. Ist das ein Problem?

Dr. Sabine Schiffer: Ja, das ist wohl richtig. Aus Vorurteilen sind inzwischen feste Wissensstrukturen geworden, die dann auch gar nicht mehr hinterfragt werden. Gerade beim Thema Frauen herrscht bei sehr vielen Leuten eine ganz feste Vorstellung. Diese wurde in den letzten Jahren durch derlei Debatten noch weiter verfestigt. Da die Benachtei­ligung von Frauen ein allgemeines Phänomen ist, fehlt zwar die Spezifik, aber entsprechende Beispiele werden trotzdem traditionell Muslimen zugewiesen, weil Muslime im Fokus der Debatte stehen und nicht alle, die Frauen unterdrücken.

Das ist ein Phänomen der Feindbildkonstruktion. Man sollte ganz klar erken­nen, dass wir es hier mit einer tiefsitzen­den rassistischen Struktur zu tun haben, die eben Feindbildcharakter hat.

Islamische Zeitung: Welche Rolle spielen Aktivisten, die öffentlich als Experten oder objektiv schreibende Journalisten wahrgenommen werden?

Dr. Sabine Schiffer: Es gibt natürlich gewisse, zu beobachtende Zitierzirkel, in denen sich kolportierte Meinungen von einflussreichen Leuten ­verselbstständigen, wobei die Gegenstimmen schnell unter­gehen. Insofern haben wir keine gleichwertige Debatte zwischen einzelnen Meinungen, sondern ganz starke Kräfte, die bestimmte Dinge veröffentlichen können; und andere eben nicht.

Andererseits fehlt in Sachen Strafverfolgung von behördlicher und politischer Seite eine Gleichbetrachtung der Dinge. Man sollte alle bedrohten Menschen schützen und nicht nur bestimmte Opfergruppen als solche festlegen, wobei andere nach dem Motto ignoriert werden: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Hier wird ein Potential unterschätzt, dessen extremste Ausformungen sich in Norwegen beobachten ließen.

Islamische Zeitung: Ist es ein Fortschritt, dass bestimmte Landesverfassungsschutzämter anfingen, bestimmte muslimfeindliche Webseiten und Newsgroups zu beobachten?

Dr. Sabine Schiffer: Zunächst ja, aber wenn der oberste Dienstherr des „Verfassungsschutzes“ erklärt, dass man den wichtigsten Hetzblog nicht beobachtet, weil man den Islam nicht lieben müsse, dann ist das natürlich ein ganz starkes Signal. Es wird in den entsprechenden Kreisen wahrgenommen und auch gelobt. Da fühlt man sich bestätigt.

Wir hätten längst aus den Anschlägen vor 20 Jahren lernen müssen, dass solche Äuße­rungen aus der politischen Mitte den rechtsextremen Rand stärken, dass der Rassismus der Mitte die Ränder stärkt und die Extremisten irgendwie ermutigt, dann aktiv zu werden. Wir sehen das an den zunehmenden Anschlägen auf Einrichtungen, die ganz klar als ­muslimische erkennbar sind.

Islamische Zeitung: Sie haben eben vom rechten Rand gesprochen. Oft wird die kritisierte Islamkritik mit den Vokabeln rechts, rechtsextrem oder rechtspopulistisch in Verbindung gebracht. Dieses Phänomen findet sich – Stichwort Kritische Islamkonferenz oder Zentralrat der Ex-Muslime – auch bei Leuten, die gemeinhin als Linke wahrgenommen werden. Ist das nicht ein simples Beschreibungsmuster?

Dr. Sabine Schiffer: Da haben Sie Recht. Die Verlagerung an den rechten Rand suggeriert ein bisschen, dass die Gesellschaft an sich immun sei und funktioniere und dass es nur rechts ein Problem gäbe. Hier handelt es sich auch darum, eine Projektionsfläche zu haben. Wir haben es hier mit einem ganz breiten Phänomen zu tun und das ist genau das Problem, warum es politisch so anschlussfähig ist. Teilweise wird es auch von politischen Gruppierungen und Strömungen ausgenutzt.

Islamische Zeitung: Haben Sie Ratschläge, wie Muslime und/oder ihre Interessenvertretungen im Rahmen eigener Medienstrategien etwas tun können? Sehen Sie hier Potenziale?

Dr. Sabine Schiffer: Ehrlich gesagt sehe ich da kein großes Potenzial, weil sie nicht entscheiden, was in den Mainstreammedien erscheint. So erschien zu den Anschlägen auf die Moscheen nichts beim ZDF oder bei der Tagesschau.

Die Presseerklärung des KRM fand ein Echo bei Lokalzeitungen; ich nehme an, nicht auf deren Titelseiten. Insofern ­haben wir es hier mit einer Diskurshierarchie zu tun. Hier Einfluss zu nehmen, ist sehr, sehr schwierig.

Eine Strategie wären sicherlich, Bündnisse mit rassismuskritischen Organisationen und deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um eine ganz besondere Form von Rassismus handelt, sondern eine wie andere Rassismen auch. Über die Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen lassen sich Leute werben, die diese Problematik jetzt schon ernstnehmen. Ich denke, die Zielgruppe muss ganz klar die Zivilgesellschaft sein, denn von politischer Seite hätten sich bisher schon klare Akzente setzen lassen.

Islamische Zeitung: Angesichts des stellenweise phänomenalen Erfolges, den kleine Teams oder Einzelpersonen haben, auch ohne große Mittel Gegenöffentlichkeit herzustellen, sollte es möglich sein, koordiniert etwas auf die Beine zu stellen…

Dr. Sabine Schiffer: Es bleibt das Problem zu lösen, dass Betroffene sehr oft als unglaubwürdig wahrgenommen werden, da sie ja im eigenen Interesse sprechen. Zudem erkennt das Unterbewusstsein Verneinung nicht, das heißt, dass oftmals eine Wiederholung der Klischees stattfindet – mehr nicht. Hier könnten wir aus dem antisemitischen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts lernen, wie es nicht geht.

Was die neuen Medien anbelangt, gibt es da natürlich Potenziale, aber die nutzen auch andere – und die erreichen nur bestimmte, eingeschränkte Zielgruppen. Wie aber die Mainstreammedien zu gewinnen sind für eine menschenfreundlichere und repräsentativere Darstellung, das bleibt eine wichtige Frage, die wiederum auch andere Themen betrifft.

Gremium der Bonner Muslime wendet sich gegen die Berichterstattung in der Bundesstadt

Bonn (iz/RMB). In den letzten Monaten wurde die muslimische Community in der Bundesstadt Bonn erneut in den Blickpunkt einer negativen Berichterstattung von lokalen und überregionalen Medien gerückt.

Vor einiger Zeit kam es zum Fund einer funktionsuntüchtigen Bombenattrappe an einem der Bonner Bahnhöfe. Schnell wurden „gewaltbereite Islamisten“ für den mutmaßlichen Anschlagversuch verantwortlich gemacht. Mittlerweile aber mussten die verantwortlichen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaften einräumen, dass es nicht ausreichend Indizien für diese Mutmaßung gebe. Die Ermittlungen sei laut Berichten auch auf Rechtsextremisten und psychisch gestörte Einzeltäter ausgeweitet wurden. Bisher sind sie im Sand verlaufen.

Ebenfalls in der jüngeren Zeit geisterte eine reißerische Meldung durch das Netz sowie einige Medien, wonach ebenfalls „Islamisten“ einen indischen Studenten unter Gewaltanwendung gezwungen hätten, den Islam anzunehmen. Relativ schnell erwies sich dies als Betrugsversuch: Der mittlerweile geflohene Student hatte sich das Schauermärchen offenkundig nur ausgedacht.

//1//Am Montag, den 21. Januar wandte sich der Rat der Muslime in Bonn mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit, in der Berichterstattung und öffentliche Haltung bei diesen Vorgängen kritisiert wurde. Namentlich beklagten sie den Zwang zur Distanzierung gegen eine mutmaßliche „salafistische Bedrohung“. Damit habe „also wieder“ eine Vorverurteilung stattgefunden.

Auch die öffentlichen Stellen hätten, so das Gremium, einen „einen Generalverdacht zum Nachteil der Muslime“ bedient und triebe derart einen Keil zwischen Muslime und die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft. „Wenn der Rat in diesem Dickicht aus medialer Panikmache und politischem Spießrutenlaufen überhaupt eine Aufgabe wahrzunehmen hat, besteht diese darin, den rassistischen Diskurs zu entlarven und durch Richtigstellung der Fakten zu dekonstruieren. Freilich ist der vorliegende Rahmen einer Erklärung der jüngsten Ereignisse nicht ausreichend, um die Kontinuität des antiislamischen Diskurses aufzuzeigen, der in Bonn unter der ehemaligen Oberbürgermeisterin Dieckmann auf die Spitze getrieben wurde.“