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Eva Lezzi: „Ohne das Gelingen der Flucht meiner Mutter wäre ich nicht hier“

eva lezzi

Die Kinderbuchautorin Evi Lezzi über jüdische und muslimische Vielfalt in ihren Büchern und die Reaktionen junger LeserInnen.

(KNA). Eva Lezzi ist Kinder- und Jugendbuchautorin und schreibt in ihren Büchern über jüdischen Alltag in Deutschland. Ihre Mutter kam aus Berlin, hat den 9. November 1938 als Dreijährige miterlebt. Kurz vor Kriegsausbruch 1939 wurde sie mit Fluchthelfern nach Frankreich geschickt, später gelang ihr die Flucht in die Schweiz.

Eva Lezzi wurde in New York geboren und wuchs in Zürich auf. Später kam sie zum Studium nach Berlin – in die ursprüngliche Heimat ihrer Mutter – und wurde hier Germanistikdozentin an der Universität Potsdam, bevor sie sich dem fiktionalen Schreiben widmete.

Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihr in Berlin über jüdische Kinderbücher, den Nahost-Konflikt – und warum ihr Herz für Geflüchtete schlägt.

Eva Lezzi: Kinderbücher über jüdisches Leben

Frage: Frau Lezzi, Sie schreiben Kinderbücher über jüdisches Leben in Deutschland. Wie kam es dazu?

Eva Lezzi: Bevor im Jahr 2010 unser erstes Buch erschien, gab es im deutschsprachigen Raum kaum etwas dazu. Es gab zwar Kinderliteratur über den Holocaust oder biblische Geschichten, aber nur sehr wenige Bücher über jüdisches Leben im heutigen Deutschland, über jüdischen Alltag.

Dann kam hinzu, dass bei meinem Sohn in der Schule der Holocaust thematisiert werden sollte. Da dachte ich, ich schreibe lieber selbst etwas über Juden und Judentum.

Frage: Zum Beispiel über Beni und die Bat Mitzwa oder Beni und Pessach…

Eva Lezzi: Ja, eine Bilderbuchreihe für Grundschülerinnen und -schüler von sechs bis zwölf, die von der Künstlerin Anna Adam illustriert wurde: Wir wollten uns dem jüdischen Alltag nicht nur über das Wort, sondern auch über Bilder, über Kunst nähern. Es ist wichtig, dass man Kinder aus verschiedenen Ecken abholt.

Frage: Sind Ihre Bücher für jüdische oder nicht-jüdische Kinder?

Eva Lezzi: Ich versuche, für jüdische und nicht-jüdische Kinder zu schreiben. Jüdische Kinder sollen dadurch vor allem Zugang zu ihren Lebenswelten haben, sich wiederfinden. Aber meistens lese ich – in Schulen zumindest – eher vor nicht-jüdischem Publikum. Deshalb gibt es auch in allen unseren Büchern ein Glossar: von Challe (Hefezopf) bis Jesus oder Skateboardtricks. Das zeigt, dass nicht nur das Jüdische erklärungsbedürftig ist.

Kinder reagierten interessiert

Frage: Wie reagieren die Kinder auf Ihre Bücher?

Eva Lezzi: Sehr interessiert. Manche fragen auch, ob ich berühmt bin. Das bin ich – aber nur in jüdischen Kreisen. (lacht)

Frage: Thematisieren Sie auch Antisemitismus?

Eva Lezzi: Mein Ansatz in den Kinderbüchern und an Grundschulen ist etwas anders. Ich gehe klar als jüdische Autorin mit jüdischen Themen in die Schulen. Aber ich versuche eher grundsätzlich, Neugier für andere Lebenswelten zu wecken und auch selbst neugierig für die Lebenswelten der Schüler und Schülerinnen zu bleiben.

Mein Ethos ist die Offenheit. Ich gebe auch Schreibworkshops an Schulen. Und dann geht es nicht darum, dass sie nachher schreiben, was ist Antisemitismus und was ist ein Jude? Sondern: Was heißt es, anders zu sein, was heißt es, ich selber zu sein, was sind Vorurteile? Mein Ziel ist, Empathie zu wecken.

Frage: Was wissen die Schüler und Schülerinnen übers Judentum?

Eva Lezzi: Das ist sehr unterschiedlich. In Berlin etwa merkt man schon, dass es einen großen religionsfernen Anteil in der Schülerschaft gibt. In anderen Regionen Deutschlands ist das anders.

Viele sind aber noch nie einem Juden oder einer Jüdin begegnet. Was manchmal durcheinander geht, ist, dass jüdisch mit israelisch gleichgesetzt wird. Manche glauben, dass jeder Jude hebräisch spricht. Da muss man einiges zurechtrücken.

Thema Nahostkonflikt

Frage: In Ihrem Jugendbuch „Die Jagd nach dem Kidduschbecher“ geht es um den Nahostkonflikt: Sie behandeln das Thema aus der unterschiedlichen Perspektive zweier Berliner Freundinnen, Rebecca und Samira, die eine ist Jüdin, die andere Muslimin. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern sät Misstrauen zwischen ihnen.

Eva Lezzi: Ich habe das Buch als Reaktion auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Gaza im Jahr 2014 geschrieben. Der Fokus liegt jedoch auf Deutschland. Ich thematisiere in diesem Buch auch Antisemitismus auf dem Schulhof oder islamfeindliche Einstellungen. Das Buch ist für elf- bis 14-Jährige, in diesem Alter sind Kinder und Jugendliche sehr gesprächsoffen.

Wenn ich das Buch in Schulen lese, kann ich mir der Aufmerksamkeit vor allem seitens der muslimischen Schüler sicher sein: Sie sehen sich gespiegelt, hören sich aber auch die andere Seite an. Hinzu kommt, dass in unseren Schulen sehr selten Bücher gelesen werden, in denen es um migrantisches Leben geht. Deshalb nehmen die muslimischen Schüler mich und meine Bücher mit Begeisterung auf.

Frage: Das war allerdings vor dem Angriff der terroristischen Hamas auf Israel am 7. Oktober…

Eva Lezzi: Ja, seitdem bin ich noch nicht wieder für Lesungen an Schulen eingeladen worden. Es gibt eine große Verunsicherung seitens der Schüler- und Lehrerschaft und auch viel Angst. Gerade ist einfach alles schmerzhaft aktuell; alle verfolgen am Handy, was im Nahen Osten passiert.

Frage: Wie beurteilen Sie die Situation in Israel und hierzulande?

Eva Lezzi: Der Krieg von 2014 war schlimm, aber schlimmer ist es jetzt. Und zwar sowohl in Israel aufgrund des Terrorangriffs der Hamas, als auch in Gaza aufgrund der Bombardierungen durch das israelische Militär.

Es ist eine wahnsinnige Katastrophe. Bei uns und weltweit ist der Antisemitismus unvergleichlich größer als 2014, wahrscheinlich weil er durch die Sozialen Medien noch verstärkt wird. Aber auch die Islamfeindlichkeit ist hier in Deutschland größer, angeheizt durch populistische Aussagen.

Frage: Inwiefern?

Eva Lezzi: Wenn in einer solchen Situation noch Rhetoriken von Politikern dazukommen, die Abschiebungen im großen Stil fordern, ist das kontraproduktiv. Es gibt einen von bestimmten muslimischen Gruppen ausgehenden Antisemitismus auf den Straßen hierzulande, der ist bedrohlich und muss strafrechtlich sanktioniert werden. Das steht außer Zweifel.

Aber es gibt auch einen politischen Diskurs, der etwas daraus schlägt, wogegen ich mich heftig wehre – nämlich ein gegeneinander Ausspielen von jüdischen und muslimischen Minderheiten und Positionen.

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft und damit müssen – oder besser gesagt: dürfen wir – immer weiter umgehen. Ich halte Diversität für wichtig und möchte eine Spaltung zwischen jüdisch und muslimisch nicht unterstützen. Im Gegenteil.

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Kann man „human“ schlachten?

(iz). Wenn muslimische oder jüdische Verbraucher in den USA, Südafrika, England oder den Niederlanden Fleisch kaufen wollen, ist es Normalität, dass entweder gut sortierte Supermärkte oder spezialisierte Läden ihre Nachfrage problemlos befriedigen können. Und es ist durchaus kein exotisches Phänomen, wenn die südafrikanische Niederlassung einer deutschen Kette „Halal-Fleisch“ im Angebot hat, während sich der Mutterkonzern daheim aus Angst vor Protesten hütet, ­ähnliche Produkte anzubieten. Nicht nur mangelnde Angebote, auch die restriktiven deutschen Gesetze – in der EU in der Minderheit – sowie die chaotischen Verhältnisse auf den Lizenzierungsmarkt haben den Markt und die Regeln bisher einen Fleckenteppich bleiben lassen.
Über das Thema das Schlachtens, der entsprechenden religiösen Regeln bei Islam und Judentum sowie die Zustände bei der deutschen Lizenzierung von Halal-Lebensmitteln sprachen wir mit dem Islamischen Theologen Bilal Erkin. Bilal Erkin ist Doktorand und Mitarbeiter am Institut für Islami­sche Theologie an der Universität Osnabrück. Im Juli diesen Jahres sprach er in Sarajevo zum Thema „Schächten im Namen Gottes – Sonderrecht für Muslime?“.
Islamische Zeitung: Lieber Bilal Erkin, auch wenn es oft Teil erhitzter Debatten ist, was muss man sich unter dem „betäubungslosen Schlachten“vorstellen? Was sind dessen religiöse Grundlagen?
Bilal Erkin: Der Begriff „Schächten“ stammt aus dem jüdischen Wort „schechita“ und meint die rituelle Schlachtung von Tieren im Judentum nach defi­nierten Regeln. In der heutigen Zeit versteht man darunter ein wenig verallgemeinert die religiös-rituelle Schlachtung von warmblütigen Tieren, egal in ­welcher Religion. Der kleine Unterschied zur heutigen Schlachtmethode ist die, dass das Tier vor der Schlachtung nicht betäubt werden darf. Im Judentum ist ­diese Voraussetzung unanfechtbar.
Da weder Qur’an, noch Sunna zur Betäubungsfrage Stellung beziehen, ist es unter den muslimischen Gelehrten der heutigen Zeit umstritten, ob die Betäubung als zwingende islamrechtliche Voraussetzung gesehen werden muss oder nicht, damit das geschlachtete Tier als rechtmä­ßig, sprich „halal“ gelten kann. Beim Schächten liegt die Gemeinsamkeit beider Religionen (Judentum und Islam) darin, dass das rückstandslose Ausbluten des Tieres garantiert und die drei großen Kanäle des Tieres (Luftröhre, Speiseröhre und Arterien am Hals) mit einem scharfen Gegenstand durchtrennt werden müssen. Andernfalls gilt das Fleisch als nicht verzehrbar (treefe oder haram).
Islamische Zeitung: Bei Muslimen herrscht manchmal die Vorstellung, Fleisch müsse mit einem Halal-Siegel versehen sein. Stimmt das?
Bilal Erkin: Es ist äußerst zu ­begrüßen und erfreulich, wenn gläubige Muslime darauf achten, was sie gemäß ihrer Reli­gion verzehren dürfen oder nicht. Daher ist es nicht überraschend, dass viele Muslime in Lebensmittelläden oft auf die Verpackung schauen und in den Inhalten nach Zutaten suchen, die sie nicht verzehren dürfen. Viele Lebensmittelhersteller – auch nichtmuslimische – möchten ihren Kunden diese „Mühseligkeit“ ersparen und versehen ihre Produkte mit einem „halal“-Siegel, was aussagen soll, dass in ­jenem Produkt keine Zutat enthalten ist, die nach islamischem Glauben als unver­zehrbar gilt. Beim Fleischkauf und -verkauf stoßen Metzger und Kunde auf dieselbe Problematik. Daher finden sich „halal“-Siegel auch auf Fleischprodukten.
Wie auch vorhin erwähnt, spalten sich die Meinungen bei der Frage, ob das Fleisch halal ist oder nicht, wenn es betäubt geschlachtet wird. Anders ausgedrückt, kann ein Fleisch für Person A halal sein, obwohl es betäubt geschlachtet ist, wobei es für Person B genau aus diesem Grund als unverzehrbar gilt. Viel wichtiger ist deshalb die Frage, wer ­diese halal-Zertifikate ausstellt und wie die the­ologischen Positionen dieser Zertifizierungsstellen zu Schächtfragen aussehen. Es kommt also nicht auf ein halal-­Siegel an, sondern auf die Schlachtmethode und auf den Schlachter selbst.
Islamische Zeitung: Es gibt einige Regeln, die ein „humanes“ Schlachten ermöglichen sollen. Wie sehen diese aus? Was ist zu vermeiden?
Bilal Erkin: Zuerst sollte erwähnt werden, dass der Islam Tiere als Geschöpf Gottes sieht und auf ihre Rechte hinweist. Jeder Muslim ist verpflichtet, Tiere zu respektieren, ihre Rechte wahrzunehmen und sie gut zu behandeln. ­Somit ist die Qual oder das Foltern des Tieres strengstens untersagt. Daher fängt die humane Schlachtung schon bei der Tierhaltung an. Massentierhaltungen sind in diesem Sinne ebenso fragwürdig wie gentechnisch manipuliertes Futter, das zu Krankheiten führen kann. Das betäubungslose Schächten wird nun im Judentum seit über 2000 Jahren und im Islam seit über 1400 Jahren praktiziert. Diese Form wurde zu einer Zeit geboten, in der die Menschen ­Tiere auf verschiedenste inhumane Weise töte­ten, um sie zu verzehren.
Der Islam schreibt sehr streng vor, wie die Schlachtung vorzunehmen ist, damit das Tier dabei nicht leidet. So ist es von ­äußerster Bedeutung, dass das Messer haarscharf ist und keine Scharten aufweist. Weiter­hin sollte das Tier vor der Schlachtung besänftigt werden, indem es gefüttert und sanft behandelt wird. Ebenso ist das Isolieren des zu schlachtenden Tieres von den übrigen Tieren vorgeschrieben, damit sie weder das ausfließende Blut ­sehen noch die Schreie während des Schlachtvorgangs hören.
Islamische Zeitung: Unter Muslimen herrscht Uneinigkeit, ob und in welchem Maße Betäubungsmethoden, die in Deutschland möglich sind, beim Schlachten eingesetzt werden dürfen. Wie sieht die derzeitige Debatte aus und worin bestehen die wichtigsten Meinungsunterschiede?
Bilal Erkin: Die Diskussion darüber, ob das Schlachten ohne Betäubung generell human ist oder nicht, ist keine neue. Fast dieselben Gegenargumente der heutigen Tierschützer finden sich im 19. und 20. Jahrhundert, als die Juden in Deutschland dieses Verfahren ausübten. Nun herrscht in Deutschland allgemein die Auffassung – und das ist gesetzlich festgeschrieben –, dass das Tier auf „humane“ Art und Weise geschlach­tet werde, wenn es vorher betäubt wird.
Und das in jenem Deutschland, wo vor wenigen Jahren recht „inhumane“ Betäu­bungsmethoden angewandt wurden. Beispielsweise gab es die so genannte Bouterolle, eine Art Maske für das Großvieh, in der sich auf der Innenseite ein spitzer Hohlmeißel befand und dies mit einem Hammer vom Schlachter in das Gehirn des Tieres eingeführt wurde. Eine andere Methode war der Genickschlag, wo der Metzger mit einem harten Gegenstand auf das Genick des Tieres schlug, damit es bewusstlos wird.
Heute ist es laut Tierschutzgesetz nicht erlaubt, ­Tiere ohne vorherige Betäubung zu ­schlachten. Ausgenommen sind Religionsgemeinschaften, für die eine „zwingend notwendige religiöse Vorschrift“ zum betäubungslosen Schlachten besteht. Zuge­lassene Betäubungsmethoden sind das Bolzenschussgerät, bei dem ein munitionsgetriebener Bolzen mit Hochdruck in das Gehirn des Tieres eingeführt wird; die Elektrozange, mit der Strom (240 V) für zwei Sekunden durch das Gehirn des Tieres geleitet wird und die Wasserbadbetäubung bei Geflügel, wo die Tiere kopf­über durch ein Wasserbad gezogen werden, das an eine Stromquelle angeschlossen ist.
Unabhängig von den gegenteiligen Gutachten vieler Veterinäre und Mediziner, die versucht haben, das (un)betäubte Schlachten als „human“ oder „inhuman“ zu definieren und diese ­Aussage mit medizinischen Ergebnissen zu hinter­legen, sollte für uns Muslime eher bedeu­tender sein, was die Rechtsgelehrten zum Thema „Betäubung“ sagen. Gegner der Betäubung sehen das betäubungslose Schlachten als „wesentlichen Bestandteil der Religionsausübung“ und als „zwingend vorgeschrieben“ an. Dieser ­Position schlossen sich in der Vergangenheit Dr. Nadeem Elyas im Namen des Zentralrats der Muslime (ZMD), der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und der europäische Fatwa-Rat (EFC) an. Aus islamwissenschaftlicher Sicht bestätigte Manfred Götz in einem Gutach­ten (1989), dass das Schlachten ohne Betäubung im islamischen Recht als absolut notwendig angesehen wird.
Muslimische Befürworter der Betäubung stützen sich meist alleinig auf ein Rechtsgutachten des ägyptischen Fatwa-Rates, der in einer Versammlung entschieden hat, dass moderne Betäubungs­methoden, bei denen das Tier nicht stirbt, religionsrechtlich erlaubt seien. Das Problem ist, dass viele Muslime nicht einmal von der Existenz solcher Rechtsgutachten wissen, aber auch die Schlachtmethoden in Deutschland nicht kennen. Ein „halal“-Siegel reicht ihnen meistens aus.
Islamische Zeitung: Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher „Richtlinien“, welches Fleisch als „halal“ deklariert wird. Was ist die Ursache für diese Unübersichtlichkeit?
Bilal Erkin: Wie vorhin auch erwähnt, gehen die Meinungsunterschiede zurück auf die Tatsache, dass weder der Qur’an noch die Sunna Informationen zu Betäubungsmethoden enthalten. Damit liegt die Entscheidung bei den Rechtsgelehrten, das heißt dem Gelehrtenkonsens (Idschma’). Da in diesem Punkt die Meinungen und Urteile der einzelnen Gelehrtenräte auseinandergehen, gibt es keine einheitliche Formel für die Problematik. Da das betäubte Schlachten in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist und das Beantragen einer Ausnahme­regelung mit sehr hohen Hürden verbunden ist, möchten viele Fleischereien diesen steinigen Weg nicht gehen und legen keinen großen Wert auf die Schlachtmethode. Eine für mich nicht nachvollziehbare, unverantwortliche und schockierende Tatsache. Dadurch wird es den Muslimen fast unmöglich gemacht, an Fleisch zu kommen, bei der das Tier unbetäubt geschächtet wurde.
Islamische Zeitung: Besteht die Uneinigkeit um die Schlacht­methoden auch darin, dass die Organisation der Lizenzierung bisher in Deutschland eher unglücklich verlief?
Bilal Erkin: In der Tat ist die Angele­genheit mit den Zertifizierungsstellen in Deutschland ein Skandal für sich. In Deutschland kann jeder ohne Probleme, eine halal-Zertifizierungsstelle gründen und betreiben. Auch wenn er nicht mal theologische Kompetenzen hat. So ist es nicht verwunderlich, wenn ein Maschi­nenbauer, der ein Ingenieurbüro betreibt, unter derselben Firma auch halal-Zertifizierungen ausstellt – gegen Geld. Inzwischen ist ein großer Absatzmarkt dadurch entstanden, wo auch nichtmuslimische Lebensmittelhersteller gerne auf solche Zertifizierer zurückgreifen, um ihre Produkte besser zu vermarkten und von der Konkurrenz abzuheben. Einer der Zertifizierer fordert sogar 2.700-3.600 Euro für die halal-Zertifizierung eines einzelnen Produkts für die Dauer von einem Jahr. Mehr als 20 Zertifizierungsstellen existieren in Deutschland. Bei den meisten sind die Kriterien für eine halal-Deklara­tion auf ihren Internetseiten nicht angegeben und somit intransparent.
Es gibt fast keinen Zertifizierer, der angibt, dass er die Betäubung ablehnt. Allerdings muss man dazu sagen, dass es in Deutschland keine höhere Instanz oder Einrichtung gibt, die diese Zertifizierer überwachen, verifizieren und qualitätssichern, sodass kein Zertifizierer selbstständig handelt und dabei willkürlich ist. Es wäre wünschenswert und ein möglicher Lösungsansatz, wenn muslimi­sche Verbandsbündnisse wie der Koordi­nationsrat der Muslime, sich auf einen Kriterienkatalog für halal-­Deklarierungen einigen und eine ­unabhängige Organisation gründen, mit der zentral die Zertifizierer beobachtet und gegebe­nenfalls auch abgemahnt werden können.
Islamische Zeitung: Sehen Sie die zukünftige Option, dass die rechtliche Lage – vielleicht im europäischen Kontext – sich auch für die Muslime wird verbessern können? Welche Rolle hätte das vom Schlachter Rüstem Altinküpe angefangene Verfahren?
Bilal Erkin: Die europäische Rechtslage ist in dieser Frage viel liberaler. In Nachbarländern wie Belgien schächten Muslime seit Jahren ohne Probleme. Das zeigt, dass die Frage nach der „humanen“ Schlachtmethode unterschiedlich bewertet wird. In Deutschland ist das Schächten im Rahmen einer Ausnahmeregelung generell erlaubt, so lange man die Voraussetzungen der einzelnen ­Landesbehörden einhält. Die Unerfahrenheit der ­Metzger, das hohe Risiko, keine Genehmigung zu bekommen und auf den Kosten sitzen zu bleiben, schreckt die muslimischen Fleischereien ab. Viele lassen sich ihr Fleisch daher aus Nachbarländern impor­tieren.
Auch mit sehr viel Mühe und der Erfüllung aller Voraussetzungen kommt es vor, dass eine Genehmigung vom Amtsgericht oder Landgericht nicht erteilt werden kann. Oft argumentieren die Gerichte mit völlig kreativen Gesetzen, die nicht unmittelbar mit der Schlachtmethode zu tun haben. Herr Altinküpe erlebt es seit vielen Jahren selbst. Obwohl er sich bis zum Bundesverfassungsgericht durchgeschlagen hat und durch diesen Prozess alle vorherigen Entscheidungen aufgehoben und ihm die Ausnahmeregelung gewährt wurde, passiert es, dass zuständige Behörden und Gerichte der ersten Instanz Herrn Altin­küpe dennoch keine Genehmigung erteilen. Heute hat er zwar eine Ausnahmegenehmigung, doch die Garantie für eine Fortdauer im nächsten Jahr hat er nicht.
Die rechtliche Lage in Deutschland kann insofern verbessert werden, wenn sich muslimische Organisationen zu Wort melden und ihre Positionen zu diesem Thema offen und transparent darlegen. Ich schlage daher die Gründung einer „zentralen muslimischen Beratungsstelle für Schächtangelegenheiten“ vor. Dieser kann beispielsweise ein Konzept für muslimische Metzger erstellen, die eine Fleischerei betreiben wollen, die technisch und hygienisch mit den Vorga­ben der Behörden übereinstimmen. Durch persönliche Beratung kann der erfolgreiche Antrag für eine Ausnahmeregelung unterstützt und im Problemfall geholfen werden.
Islamische Zeitung: Lieber Bilal Erkin, vielen Dank für das Interview. (erstmals 2013 erschienen)

Erst langsam wächst in Indien ein Bewusstsein gegen Zwangsheirat

Bangkok (KNA). Bereits gut siebeneinhalb Millionen Mal ist auf Youtube das Video der elfjährigen Nada al Ahdal angeklickt worden. Das Mädchen aus dem Jemen schildert darin ihren Widerstand gegen die Zwangsverheiratung mit einem wesentlich älteren Mann. Lieber würde sie sterben, als sich zu beugen und sich ihre Träume von Ausbildung und einem selbstbestimmten Leben „von diesen Leuten“, wie sie ihre Eltern nennt, zerstören zu lassen.

Nada al Ahdal kennt Fälle von Mädchen, die sich durch Selbstmord der Zwangsehe entziehen wollen. „Manche gehen ins Meer. Die sind jetzt tot“, sagt sie. „Das ist doch nicht normal für unschuldige Kinder.“ Für Millionen Kinder weltweit ist es leider doch entsetzliche Normalität: Jeden Tag werden laut dem International Research Center for Women (IRCW) 38.000 Kinder zur Ehe gezwungen.

Im Jemen müssen 48,4 Prozent der Mädchen heiraten, ohne dass sie gefragt würden. Damit liegt die Heimat von Nada al Ahdal erst auf Platz 14 der 20 Länder mit der höchsten Rate von Kinderehen. Den Spitzenplatz hält mit 76,7 Prozent Niger. Mit 43,3 Prozent ist Nicaragua der einzige lateinamerikanische Staat unter den Top 20. Die anderen 19 sind afrikanische und asiatische Länder.

//1//Kinderehen kommen in vielen Kulturen und allen Religionen vor. Hauptursache sind Armut und eine Geringschätzung von Mädchen. „Sobald Mädchen die Grundschule absolviert haben, werden sie so schnell wie möglich verheiratet, aus Angst, das Mädchen könnte auf ein weiterführende Schule gehen. Das würde zu viel Geld kosten“, sagt Virginia Saldanha, Frauenrechtlerin und katholische Theologin in Mumbai.

In Indien sind Kinderehen verboten, „seit den Zeiten der britischen Kolonie“, sagt Saldanha. Aber die 65-jährige weiß auch, dass Traditionen, ein patriarchalisches Denken, Armut und Korruption die Durchsetzung der Gesetze behindern. Nicht selten endet ein Konflikt zwischen Recht und Tradition in Gewalt. Die Sozialarbeiterin Bhanwari Devi etwa zeigte in einem Dorf in Rajasthan einen Fall von Kinderehe an. Die betreffenden Familien gehörten einer höheren Kaste an, Bhanwari Devi einer niederen Kaste. Sie wurde zur Strafe kollektiv vergewaltigt, berichtet Saldanha.

Im benachbarten Pakistan sollen 42 Prozent aller Mädchen bereits vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet sein. Zwar betont der Religionswissenschaftler Maulana Ghousul Kabir, das islamische Recht dränge keineswegs auf eine frühe Eheschließung. Aber die landläufige Auffassung in Ländern wie Pakistan oder Jemen sieht anders aus.

Es gibt jedoch auch Zeichen des Wandels. Bildung und Bewusstseinsarbeit haben laut Saldanha das gesetzliche Mindestalter verankern helfen. Mädchen besuchen höhere Schulen und heiraten teils erst weit in ihren 20ern oder noch später. „Viele gut ausgebildete und berufstätige Frauen weigern sich sogar zu heiraten“, sagt Saldanha.

Die elfjährige Nada al Ahdal oder auch Malala aus Pakistan, die wegen ihres Eintretens für Bildung von Taliban niedergeschossen wurde – für Saldanha zeigen diese Mädchen beispielhaft, dass sich immer mehr Kinder ihrer Rechte bewusst sind. Aber noch gibt es viele – zu viele – Mädchen, die keine andere Möglichkeit haben, als sich ihrem Los zu ergeben. Eine davon ist Rebeca aus Bangladesch.

Rebeca war 14, als sie einen 39 Jahre alten Mann heiraten musste. In den ersten Monaten wehrte sie sich mit Schreien gegen Sex. Irgendwann gab sie auf. Ihr Mann infizierte sie mit Geschlechtskrankheiten. Heute, mit 20, hat sie zwei Operationen wegen Geschwüren an der Gebärmutter hinter sich. Auf die Frage, warum ihre Eltern sie so früh verheirateten, sagt sie nur: „Was nützt es, darüber zu sprechen? Diese Ehe wird als gut angesehen. Ich denke nicht darüber nach, ob sie wirklich gut ist oder nicht. Ich muss da drinbleiben.“

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„IZ-Begegnung“ mit dem Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza über die Gaza-Krise

„Dies macht deutlich: Die Selbstmordattentate waren von vornherein konzipiert, um Zivilisten zu töten, unabhängig davon, dass der Islam dies nicht legitimiert, unabhängig davon, dass gegen die islamische Kriegsethik verstoßen wird.“ […]

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Zum Kölner Beschneidungsurteil: Muslimische und Jüdische Vertreter appellieren an die deutsche Politik. Ein Bericht von Yasin Bas

(iz). Unterschiedliche Vertreter der jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften aus Europa haben bei einem gemeinsamen Spitzentreffen in der belgischen Hauptstadt Brüssel die Politiker in Deutschland zur Herstellung von Rechtssicherheit im Umgang mit dem Beschneidungsurteil gemahnt. Die Repräsentanten bezeichneten das Urteil als einen „Angriff auf grundlegende Religions- und Individualrechte“ und appellierten an alle politischen Parteien sowie den Bundestag die unerklärliche Entscheidung des Gerichts zu revidieren. Die Türkisch-Islamische Union (DITIB) veröffentlichte am 18. Juli hierzu eine Presseerklärung.

Die Teilnehmer aus Politik, Verbänden, Religionsgemeinschaften, der Justiz und der Medizin hätten bei dem Treffen die Entwicklungen des Beschneidungsurteils des Kölner Landgerichts mit den entsprechenden Konsequenzen erörtert und sich gegenseitig beraten. Das Kölner Landgericht hatte in einer Entscheidung die Beschneidung von Kindern als Körperverletzung gewertet und sie – ein international einmaliger Vorfall – verboten.


Der Vorsitzender der DITIB Prof. Ali Dere sagte: „Dieses Gespräch hat uns die internationale Betroffenheit und die weitreichenden Wirkungen in den Religionsgemeinschaften, die dieses Urteil ausgelöst hat, deutlich vor Augen geführt. Es besteht dringender Handlungsbedarf, der durch dieses folgenreiche Urteil für die muslimische und jüdische Glaubenspraxis geschaffen wurde. Daher appellieren wir gemeinsam dafür, die notwendige Rechtssicherheit herzustellen, um damit auch muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland unter Achtung von wesentlichen Religions- und Elternrechten zu gewährleisten.“

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) verwies die Juden und Muslime dagegen auf den Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht. Nicht die Legislative, sondern die Judikative sei der richtige Ansprechpartner, der dieses Urteil prüfen müsse.

Die Menschenrechte und vor allem die Religionsfreiheit in Europa wird für bestimmte Religionsangehörige Stück für Stück reduziert. Vor allem Juden und Muslime sind hiervon betroffen. Urteile aus der jüngsten Vergangenheit wie das Minarett-Verbot in der Schweiz, die Burka-Verbote in Frankreich und Belgien, die Bestrebung zum Schächtverbot in den Niederlanden oder die fast täglichen Angriffe und Anschläge auf Gebetsstätten von Juden und Muslimen, senden keine positiven Signale für ein gemeinsames Miteinander im „geeinten Europa“.

Der Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte nach den weltweiten Protesten gegen das Kölner Gerichtsurteil, dass die Bundesregierung eine rasche Lösung und Beilegung des Streits anstrebe. „Für alle in der Bundesregierung ist es völlig klar: Wir wollen jüdisches und wir wollen muslimisches religiöses Leben in Deutschland“, so Seibert. Der Regierungssprecher ergänzte, dass verantwortungsvoll durchgeführte Beschneidungen in Deutschland straffrei bleiben sollten. „Wir wissen, da ist eine zügige Lösung notwendig, da kann nichts auf die lange Bank geschoben werden“, erklärte Seibert weiter. Die Freiheit der religiösen Betätigung sei für die Bundesregierung „ein hohes Rechtsgut“.

Europa, das eine Wertegemeinschaft sein soll, entledigt sich seiner Tugenden. Frankreich distanziert sich seiner Ideale der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Holland, das einstige Vorzeigeland für Toleranz und Demokratie begibt sich immer stärker in das Fahrwasser von Pim Fortuyn. Unter dem neuen Fortuyn Wilders entwickelt das Land eine islam-, und in letzter Zeit auch immer mehr, europafeindliche Politik. Rechtsextreme und rechtsterroristische Gruppierungen werden nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Skandinavien immer populärer. Die wirtschaftliche Krise Europas führt mittelfristig zu einer politisch-gesellschaftlichen aber auch individuellen Krise, sodass der Verteilungsstreit um ökonomische, politische und gesellschafltich-kulturelle Ressourcen immer weiter zunimmt.

Wie zu Ende des 19. Jahrhunderts und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts beginnen Teile Europas die Menschen- und Individualrechte ihrer „Minderheiten“ ins Blickfeld zu nehmen und sie etappenweise und schleichend anzutasten. Die Richtung, in die sich einige europäische Länder begeben, führt in eine Sackgasse. Es scheint, dass die ökonomische Krise auch zu einer unvergleichbaren Identitätskrise Europas führt. Aus dieser kann Europa nur herauszukommen, wenn es Diversität nicht als Bedrohung und Konkurrenz empfindet. Durch die oben erwähnten Menschenrechtsbeschneidungen, Verbote und Diskriminierungen verkrampfen sich einige europäische Staaten zu sehr.

Damit das gesellschaftlich-friedvolle Klima nicht noch weiter belastet wird, dürfen diese Verkrampfungen keine Dauerhaftigkeit erlangen. Europa sollte seinen Werten treu bleiben.

(Teilnehmer/innen des Brüsseler Treffen waren u.a.: Rabbi Menachem Margolin, General Director, European Jewish Association (EJA), Rabbi Yitzchak Schochet, Rabbinical Centre of Europe, Rabbi Israel Diskin, Rabbi in München, Deutschland, Rabbi Mendi Pevzner, European Jewish Association (EJA), Prof. Dr. Ali Dere (Theologe), Vorsitzender der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion DITIB, Deutschland, Imam Mustafa Katstit – Islamic Center, Cinquantenaire, Brüssel, Belgien, Josseph Lempkovits, Chief Editor, European Jewish Press (EJP), Assistant to MEP Elmar Brok (Germany), Chairman of the Committee on Foreign Affairs, European Parliament, Mr. Robby Spiegel, President of the Israeli bonds, Belgien, Mr. Joël Rubinfeld, Co-President of European Jewish Parliament, Dr Igor Byshkin, Urologist, Köln, Deutschland, ADV. Attorney Marc Libert – Brüssel, Belgien, Assistant to MEP Hannu Takkula (Finnland), Assistant to MEP Frédérique RIES (Belgien), Assistant to MEP Marek Siwiec (Polen), Assistant to MEP Carlo Fidanza (Italien) sowie Assistant to MEP Andrea Schwab (Deutschland)

Kulturkampf in den Arztpraxen?

Das aktuelle Urteil eines Kölner Gerichts zum Thema Beschneidung bei Jungen hat binnen kürzester Zeit zur einem enormen Debatte und zu Protesten seitens jüdischer und muslimischer Verbände und Einzelpersonen geführt. Selbst die aus der katholischen Kirche sind mittlerweile kritische Stellungnahmen zu hören.
Das Thema ist aber nicht neu, sondern wird insbesondere in Ärztekreisen seit geraumer Zeit diskutiert. Im folgenden Text vom September 2008 reflektiert Engin Karahan über solche Verbotsforderungen von Teilen der deutschen Ärzteschaft. Der Autor stellt auch die wichtige Frage, ob überengagierte Mediziner hier versuchen, religiös praktizierende Eltern zu kriminalisieren.
Unabhängig davon, ob das Verfahren in die nächste Instanz geht oder ob es hierzu neue, gesetzliche Regelungen dazu geben wird: Staaten wie die USA und andere, wo die Beschneidung von Jungen üblich sind, und internationale, religiöse Vereinigungen, werden den weiteren Verlauf mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genauer beobachten.
(karahan.net). Im Deutschen Ärzteblatt wird in der August 2008 Ausgabe Ärzten empfohlen, keine religiös begründete Beschneidung bei muslimischen und jüdischen Jungen durchzuführen. „Wenn keine medizinische Notwendigkeit besteht, sollte der Eingriff vom Arzt abgelehnt werden“, schreiben die Autoren Dietz/Stehr/Putzke.
„Wir finden keinen Arzt mehr, der eine Beschneidung unseres Sohnes durchführen will.“ Diese Beschwerde wurde letzte Woche an die Antidiskriminierungsstelle der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs gerichtet. Immer mehr Eltern aus dem Raum Kassel klagen darüber, dass Ärzte grundsätzlich nicht mehr bereit sind, die Beschneidung bei ihren Söhnen vorzunehmen. Es ist ein aktueller Artikel im Deutschen Ärzteblatt, der den Anstoss gegeben hat, damit Ärzte vor dieser Maßnahme zurückschrecken lässt. Dabei gab es bisher kaum Probleme, die diese Ablehnung begründen würde.
Mit Sorge beobachtet die Antidiskriminierungsstelle der IGMG seit einigen Monaten auftretende Publikationen mancher Autoren zum Thema Beschneidung von Jungen. Darin sprechen sich die Autoren dafür aus, dass Ärzte den elterlichen Willen zur Beschneidung ihres Sohnes aus religiösen Gründen bei Juden und Muslimen ablehnen sollen. Bisher beschränkten sich diese Artikel auf die Darlegung einer von kaum einem Juristen beachteten Meinung. Dies änderte sich jedoch mit dem Beitrag von Maximilian Stehr, Holm Putzke und Hans-Georg Dietz in der August 2008-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts.
Die Autoren des Beitrags empfehlen Ärzten, die Beschneidung von muslimischen und jüdischen männlichen Kindern strikt abzulehnen und diese nicht mehr zu beschneiden. Mit keinem Wort erwähnen sie jedoch, dass die von ihnen vertretene Meinung eine exotische Mindermeinung ist. Stattdessen schrecken sie mit ihrem Beitrag bewusst praktizierende Ärzte davon ab, Beschneidungen aus religiösen Gründen bei muslimischen und jüdischen Jungen durchzuführen.
Um diese massiv diskriminierende und die Religionsfreiheit der Betroffenen stark einschränkende Maßnahme zu begründen, betätigen sich die Autoren sogar als Koran- und Bibel-Exegeten. Dabei schreiben sie Juden und Muslimen vor, wie sie ihre Religion zu verstehen haben: „Während es im Islam keinen allseits verbindlichen Zeitpunkt für die Beschneidung gibt, orientiert das Judentum sich an den Worten der Bibel, worin der achte Tag nach der Geburt erwähnt wird. Es werden aber auch Ausnahmen zugelassen, etwa bei Krankheit oder körperlicher Schwäche. In derartigen Fällen wird man nicht ein Gläubiger zweiter Klasse, weshalb nichts dagegen spricht, solche Ausnahmen zu erweitern und die Beschneidung zu verschieben…“. Das Urteil der Autoren ist klar: „Es gibt also keine zwingenden Argumente, womit sich eine religiöse Beschneidung Minderjähriger begründen lässt.“ (Zirkumzision bei nicht einwilligungsfähigen Jungen: Strafrechtliche Konsequenzen auch bei religiöser Begründung; Maximilian Stehr, Holm Putzke und Hans-Georg Dietz in Deutsches Ärzteblatt, Jg. 1051 Heft 34-35, 25. August 2008, S. 1780).
Noch expliziter äußert sich Professor Günter Jerouschek dazu: „Im Geltungsbereich des Grundgesetzes aber wiegen die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit schwerer als das Recht der Eltern, ihre Kinder zu verletzen, um der Religion, und sei es auch nur vermeintlich, Genüge zu tun. Den Eltern einen solchen Aufschub zuzumuten, scheint mir umso erträglicher zu sein, als es im muslimischen Bereich keine religiös verbindlichen Altersvorgaben für die Vornahme der Beschneidung gibt, mithin eine Erwachsenenbeschneidung ohne weiteres korankonform ist, und die Juden nicht aus ihrer Religion herausfallen, wenn sie nicht als Säuglinge beschnitten worden sind.“ (Beschneidung und das deutsche Recht – Historische, medizinische, psychologische und juristische Aspekte; Professor Dr. Günter Jerouschek; NStZ 2008, Heft 6, S. 319)
Stehr, Putzke und Dietz weisen in ihrem Beitrag im Ärzteblatt zwar darauf hin, dass Eltern das Recht haben, „das Leben und die Entwicklung des der Personensorge unterstellten Kindes mehr oder weniger frei von jeglicher Bevormundung zu gestalten, erst recht, wenn es um religiöse Belange geht“. Dieses Recht soll aber bei der religiös bedingten Beschneidung von ärztlicher Seite abgelehnt werden. Der Beschneidung bei Jungen sollen demnach medizinische Kreise schon länger kritisch gegenüber stehen, führen Stehr, Putzke und Dietz an, verweisen jedoch als Beleg wiederum nur auf eigene Opens external link in new windowBeiträge. Dies dürfte sicherlich daran liegen, dass man der Beschneidung bei Jungen in medizinischen Kreisen gerade nicht kritisch gegenüber steht, diese Praxis sogar von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird.
Weiterhin stellen die Autoren die Frage, ob eine ihrer Ansicht nach „medizinisch nicht notwendige Zirkumzision [Beschneidung bei Jungen – d.Red] als strafbare Körperverletzung im Sinne des § 223 Absatz 1 des Strafgesetzbuches (StGB) einzustufen“ ist, verschweigen jedoch, dass diese Frage bei jedem medizinischen Eingriff gestellt werden kann, ja sogar muss. Grundsätzlich bleibt der medizinische Eingriff nur bei Vorliegen einer rechtfertigenden Einwilligung in die Maßnahme straffrei. Ein spezifisches Verbot der Beschneidung, wie es der Beitrag versucht zu suggerieren, gibt es nicht.
Tatsächlich vertreten die Autoren nur eine extreme Mindermeinung. Denn die religiöse Beschneidung von Jungen wird oftmals schon als tatbestandlos, dh. Als eine Straftat gar nicht begründend oder zumindest durch die Einwilligung der Eltern als ausreichend gerechtfertigt angesehen. Ob die Autoren in der juristischen oder medizinischen Debatte diese Mindermeinung verteidigen, mag ihnen überlassen sein. Fatal ist jedoch, dass diese wage Theorie, die zumal neben der herrschenden Meinung in der Literatur auch der bisherigen Entscheidungspraxis der Gerichte widerspricht, in einem Ärzteblatt als einzig annehmbare präsentiert wird.
Die kampagnenartige Thematisierung deckt sich in der Argumentation mit zahlreichen anderen vermeintlichen Problemen der Gegenwart. Wieder geht es um die religiöse Komponente im Leben der Muslime, die als „kindeswohlgefährdend“ angesehen wird. Dabei legen die Autoren eine immense Rücksichtslosigkeit an den Tag, wenn es um das Verständnis von religiösen Bedürfnissen und den Stellenwert im Leben des Menschen angeht. Deutlich wird dies besonders bei den vermeintlichen Lösungsansätzen, die sie vorschlagen: Wenn man es schon nicht ganz lassen kann, solle man doch warten, bis die Kinder 16 oder 18 Jahre alt sind, wie es Dr. Holm Putzke in einem anderen Beitrag anführt (Juristische Positionen zur religiösen Beschneidung, Dr. Holm Putzke in NJW 2008, Heft 22, S. 1570). Damit wäre die bei Juden nach biblischem Gebot am 8. Tag vorgeschriebene und bei Muslimen in Kleinkinderalter durchgeführte Beschneidung nach Ansicht der Autoren nicht mehr durchführbar.
Würden „nicht einwilligungsfähige Jungen zirkumzidiert, [sei] darin eine rechtswidrige Körperverletzung i.S. des § 223 StGB zu sehen, selbst wenn die Inhaber der Personensorge zuvor in den operativen Eingriff eingewilligt“ (aaO.), ist das Fazit, das Dr. Putzke zieht. Letztendlich konstruieren Dr. Putzke, Prof. Jerouschek und andere eine vermeintliche Rechtsunsicherheit bezüglich der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen, um schließlich die ihren religiösen Geboten nachkommenden Eltern zu kriminalisieren. Ein rein wissenschaftliches Anliegen kann man dahinter kaum vermuten.