Unser Glaube an das Schicksal

Ausgabe 254

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(iz). Ohne Zweifel gehört das Thema „Qadar“ (wörtlich Maß) zu den immer noch ungelösten Themenfeldern im Islam, aufgrund dessen heute noch die Gemüter erheblich erhitzt werden.
Neben den bekannten fünf Säulen des Islam werden in den islamischen Ilmihal-Büchern (arab. Ilm al-Hal) die Säulen des Glaubens (Arkan al-Iman) beschrieben. Demnach gehören diese zu den unabdingbaren Voraussetzungen für den Glauben eines jeden Gläubigen. Allerdings fällt beim näheren Hinsehen jedoch auf, dass der sechste Punkt der Glaubenslehre, „der Glaube an Al-Qadar“, eine Quelle der Irritation von nicht wenigen Gläubigen darzustellen scheint. Was bedeutet eigentlich „Al-Qadar“ für den Muslim? Ist darunter ein unwiderruflicher Fatalismus zu verstehen? Kann dann überhaupt noch von einer Willens beziehungsweise Handlungsfreiheit des Menschen im Islam gesprochen werden?
Der Terminus Al-Qadar bedeutet im lexikalischen Sinne, etwas bestimmen/­fest­setzen. Im religiösen Kontext soll es im Grunde nichts anderes bedeuten, als dass Allah seit Anbeginn der Zeit die Geschehnisse bis in die Ewigkeit hinein im Vorwissen kennt und den Verlauf der Dinge eingreifend bestimmt.
Das älteste und bis heute tradierte Werk über die Aqida ist gewiss das Werk „Al-Fiqh al-Akbar“ von Abu Hanifa (gest. 767). Es gilt nach wie vor als das Fundament in der Glaubenslehre der Ahlu Sunna. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung über die Grundlagen des Tauhid, beschreibt Abu Hanifa die elementaren Glaubensinhalte in folgender Reihenfolge zusammen: „Man muss sagen: ‘Ich verinnerliche Iman an Allah, Seine Engel und Seine Bücher, an die Gesandten und die Auferstehung nach dem Tode. Al-Qadar, sei sie gut oder böse, ist von Allah (…)’.“
Die oben zitierten sechs Glaubensartikel sind ferner auch in den wichtigsten sunnitischen Hadith-Sammlungen überliefert worden. Der Rechtsgelehrte An-Nawawi (1233-1277) kommentiert zu Al-Qadar: „Die Bedeutung von Qadar bei den Vertretern der Wahrheit ist, dass Allah die Sachen in der Urewigkeit bestimmt hat, und Er wusste, dass sie in bestimmten Zeiten, nach bestimmten Maßen geschehen werden.“
Der ehemalige Präsident des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten, Ömer Nasuhi Bilmen (1883-1971), schreibt in seinem Ilm al-Hal (türk. Ilmihal) dazu: „Diese (sechs Glaubensartikel) sind fundierte Voraussetzungen und werden deshalb auch als Grundprinzipien bezeichnet, an die man unbedingt glauben muss. Jeder Muslim ist verpflichtet, daran zu glauben.“
Dergleichen bekundet der Autor Dr. Ahmad A. Reidegeld in seinem umfangreichen Buch über die Glaubens- und Rechtslehre den besonderen Stellenwert der überlieferten sechs Glaubensartikel, wonach die Leugnung der Vorherbestimmung mit dem Unglauben gleichgesetzt wird: „Es ist Pflicht, daran zu glauben, dass es eine Vorherbestimmung (bestimmter Dinge) gibt. Wer eine jegliche Vorherbestimmung leugnet, der muss als ungläubig betrachtet werden.“
Auch in dem ersten veröffentlichten Fachbuch über die Glaubensinhalte der „Al-Aqida“ im deutschsprachigen Raumbeschreibt sein Verfasser, Dr. Amir Zaidan, den Zustand der Menschen, die an einen der sechs Glaubensgrundsätze der Aqida nicht glauben, als einen – auch wenn sie die Schari’a und den Akhlaq praktizierten –, durch den sie demnach nicht mehr als Muslime zu betrachten seien, da sie außerhalb des Islams stünden.
Im Qur’an wird in diversen Suren eingehend die Geschichte von Adam und seinem erbittertsten Widersacher Iblis beschrieben, indem der Antagonismus zwischen beiden referiert wird. Unmissverständlich wird auch beschrieben, aus welchem grundlegenden Motiv die Schöpfung Adams von Iblis nicht geachtet, ja geradezu als feindlich charakterisiert wurde. Noch augenfälliger ist der Vorwurf von Iblis an Allah, demzufolge nicht er selbst für seinen eigenen Ungehorsam verantwortlich sei, und er deswegen Allah die Schuld für sein Vergehen gibt: „Und wahrlich, Wir erschufen euch und formten euch dann. Dann sprachen Wir zu den Engeln: ‘Werft euch vor Adam nieder!’ Und sie warfen sich nieder, außer Iblis. Er war nicht bei denen, die sich niederwarfen. Er (Allah) sprach: ‘Was hinderte dich, dich niederzuwerfen, als Ich es dir befahl?’ Er (Iblis) sagte: ‘Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber erschufst Du aus Ton.’ Er (Allah) sprach: ‘Weg und hinab mit dir! Es geziemt dir nicht, hier hochmütig zu sein. Darum hinaus mit dir, siehe, du bist einer der Gedemütigten.’ Er (Iblis) sagte: ‘Gib mir eine Frist bis zum Tag der Auferstehung.’ Er (Allah) sprach: ‘Fürwahr, die Frist ist dir gewährt.’ Er (Iblis) sagte: ‘Wie Du mich in die Irre gehen ließest, werde ich ihnen auf Deinem geraden Weg auflauern.’“ (Al-A’raf, 11-16)
Die Polytheisten um den Propheten Muhammad schienen die gleiche Schuldzuweisung von Iblis verinnerlicht zu haben. Deterministisch behaupteten sie im Angesicht des Propheten, dass sie an seine Botschaft gerne geglaubt hätten, wenn Allah es doch für sie bestimmt hätte. Überdies erfahren wir durch den folgenden Qur’anvers eine wesentliche Information, wonach selbst ihre Vorfahren in derselben Weise deterministisch gestimmt waren: „Gewiss, die, welche (Allah) Gefährten geben, werden sagen: ‘Wenn Allah es gewollt hätte, hätten wir Ihm keine Gefährten gegeben, wie auch unsere Väter nicht; und wir hätten auch nichts (Erlaubtes) verboten.’ So leugneten auch die, welche vor ihnen lebten, bis sie Unsere Strenge zu fühlen bekamen. Sprich: ‘Wisst ihr etwas darüber, dann bringt es uns zum Vorschein. Ihr folgt nur einem Wahn, und ihr lügt nur.’“ (Al-An’am, 148)
Darüber hinaus enthält der Qur’an ebenso zahlreiche Textpassagen, die ausdrücklich das Gegenteil einer Prädestinationslehre nahelegen. Danach obliegt es ganz allein dem Menschen selbst, über sein eigenes Schicksal eigenhändig zu bestimmen:
„Und was immer euch an Unglück trifft, es ist für das, was eure Hände erworben haben“ (Asch-Schura, 30), und „Gewiss, Allah verändert die Lage eines Volkes nicht, solange es sich nicht selbst innerlich verändert.“ (Ar-Ra’d, 11)
„Siehe, Wir boten die Verantwortung (der Ausübung von freiem Willen und Vernunft) den Himmeln und der Erde und den Bergen an, doch weigerten sie sich, sie zu tragen, und schreckten davor zurück. Der Mensch lud sie sich jedoch auf.“ (Al-Ahzab, 72)
„Und dass der Mensch nur empfangen wird, worum er sich bemüht.“ (An-Nadschm, 39)
„Siehe, den Ungläubigen ist es gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst: Sie glauben nicht. Versiegelt hat Allah ihre Herzen und Ohren, und über ihre Augen liegt eine Hülle, und für sie ist schwere Strafe bestimmt.“ (Al-Baqara, 6-7)
Allerdings gilt auch hier die Regel, die Gesamtheit des Buches zu berücksichtigen. Es waren nämlich die arabischen Polytheisten selbst, die sarkastisch von sich behaupteten, aufgrund ihrer symbolischen Blind- und Taubheit nicht empfänglich für die qur’anische Botschaft zu sein. Demnach war eine konkrete und bewusste Ablehnung des Islams von Seiten der Polytheisten vorausgegangen. „Diejenigen, welche ohne jeden Beweis Allahs Zeichen bestreiten, erregen Abscheu bei Allah und bei den Gläubigen. Und so versiegelt Allah das Herz eines jeden Stolzen, Gewalttätigen.“ (Ghafir, 35)
Es ist vonnöten, die Begriffsbestimmung von Al-Qadar richtig einzuordnen. Schaikh Osman Nuri Topbas bemerkt einleuchtend hierzu: „Geburt, Tod, Wiederauferstehung, Schlaf, Hunger, unsere physische Struktur, unsere Lebensspanne und ähnliche Dinge sind allesamt Teil der zwingend notwendigen und unausweichlichen Dimension göttlicher Bestimmung. Diese Ereignisse und Handlungen werden auch ‘Qadru mutlaq’, absolute Bestimmung, genannt, und menschliche Wesen werden nicht für diese Art von unausweichlichen Geschehnissen zur Verantwortung gezogen.“
Im Qur’an wird verdeutlicht, dass ­Allah allwissend ist und sich nichts außerhalb seiner Souveränität bewegen kann. Somit kennt Er alle zukünftigen Ereignisse schon seit ihrer Schöpfung, da Er selbst der Schöpfer von Raum und Zeit ist. Zugegeben, geben sich nicht alle Menschen mit dieser Feststellung zufrieden.
Wie kann es denn überhaupt sein, dass Er schon vorher weiß, was in Zukunft eintreffen wird und dann doch nicht in die Vorgänge eingreift? Wenn Er die Abläufe bis ins kleinste Detail kennt, müsste Er ja schließlich auch das Schicksal der Menschen fatalistisch bestimmen. Womöglich mag es in erster Linie daran liegen, dass die Menschen Allah vorwiegend aus der Perspektive menschlicher Denkkategorien wahrnehmen.
Obwohl Allah im Qur’an sehr oft den Menschen präventiv daran erinnert, keine Vergleiche mit Ihm anzustellen, „Nichts ist Ihm gleich“ (Asch-Schura, 11), bleibt weiterhin die Versuchung bestehen, sich nicht ganz davon befreien zu können, menschliche Gedanken in Allah hineinzuprojizieren. Immerhin warnte der Prophet des Islam schon zu Lebzeiten seine Gefährten eindringlich davor, sich den Kopf über Al-Qadar zu zerbrechen.
In einer Überlieferung von Abu Huraira wird Folgendes hierzu tradiert: „Der Gesandte Allahs kam zu uns, als wir über (die Natur von) Allahs Ratschluss debattierten. Er war ärgerlich, und sein Gesicht wurde so rot, dass es aussah, als sei ein Granatapfel auf seinen Wangen geplatzt. Er sagte: ‘Ist es das, was zu tun euch befohlen ist, oder bin ich etwa für so etwas zu euch gesandt worden? Eure Vorgänger sind nur zugrunde gegangen, wenn sie Fragen über diese Sache gestellt haben. Ich warne euch, ich warne euch davor, debattiert nicht darüber!’“
Generell riet der Prophet seine Anhänger dazu auf, nicht in haarspalterisch-theologische Spekulationen zu verfallen.
Auch außerhalb der Theologie wird das Thema um den freien Willen in der Gegenwart kontrovers debattiert. Etwas zurückhaltender in dieser Sache ist jedenfalls der Verhaltensneurobiologe Prof. Niels Birbaumer. „Weder freier noch unfreier Wille läßt sich beobachten, da wir kein neuronales Korrelat von Freiheit kennen. Freiheit ist zwar auch ein Konstrukt des Gehirns wie alles Verhalten und Denken, das der Mensch produziert, aber es ist auch und primär ein historisch, politisch und sozial gewachsenes Phänomen, das sich nicht nur auf Hirnprozesse zurückführen lässt.“
Fairerweise sollte der gesamte Qur’an in Betracht gezogen werden, was insbesondere die Glaubenssätze anbelangt. In dieser Relation scheint der nachfolgende Qur’anvers relevant zu sein: „Kein Unheil geschieht auf Erden oder euch selbst, das nicht in einem Buch stünde, bevor Wir es geschehen lassen. Das ist Allah fürwahr ein Leichtes.“ (Al-Hadid, 22).
Nach dem Qur’anexegeten Ibn Kathir (1300-1373) bezeugt gerade dieser Vers unumstößlich, dass Allah schon vor der Schöpfung über künftige Dinge – die noch nicht eingetroffen sind – unzweifelhaft weiß. Darüber hinaus versichert Allah nachweislich, keinem Individuum Unrecht zuzufügen: „Siehe, Allah tut nicht einmal im Gewicht eines Stäubchens Unrecht. Und wenn es eine gute (Tat) ist, wird Er sie verdoppeln und großen Lohn von Sich geben.“ (An-Nisa, 40)
Abschließend sei nochmals mit einer Anekdote des Gesandten Allahs daran erinnert, wie ein gesundes Gottvertrauen (At-Tawakkul) auszusehen habe: At-Tirmidhi überliefert von Al-Mughira, der sagte: „Ich hörte Anas Ibn Malik sagen: ‘Ein Mann kam zum Gesandten und sprach: Oh, Gesandter Allahs, soll ich mein Kamel anbinden und vertrauen oder nicht anbinden und vertrauen?’ Der Gesandte antwortete: ‘Binde es an und vertraue (auf Allah)’“.