„Wachsende Ringe“

Ausgabe 250

Foto: CCTV | gemeinfrei

(iz). Wieder einmal verbreiten die brutalen Attentate von Brüssel eine Schockwelle durch die europäischen Gesellschaften. Das Schicksal der unschuldigen Opfer und die Verletzlichkeit der öffentlichen Sphäre bestimmen in diesen Tagen wieder die öffentlichen Debatten, auch in Deutschland. Niemand wird abstreiten wollen, dass dies notwendig ist, genauso wie die Bedingung für eine konstruktive Aufarbeitung: den kühlen Kopf zu bewahren.
Wenn es überhaupt ein Ziel der selbstmörderischen Strategie der Daesh-Truppen geben sollte, dann ist es wohl, die europäischen Muslime aus der Mitte der Gesellschaft herauszureißen, also ihnen endgültig das Gefühl zu geben, nicht dazuzugehören. Ein emotionaler Streit, der sich gegen den Islam und die Muslime richtet, wäre also ein wichtiger strategischer Erfolg in der perfiden Logik der Terroristen.
Und tatsächlich, in den Sozialen Medien verbreiten sich schon die Viren, die eine rein destruktive Debatte nähren sollen. Die simple Gleichung, der Islam sei geistige Heimstätte des Terrors, ist dabei so schlicht, wie die Behauptung, die Bundesrepublik sei der Impulsgeber des NSU. Nebenbei erwähnt, ist der ersehnte Sieg über den Terror auch nicht, wie manche Politiker glauben machen wollen, gleichbedeutend mit dem Endsieg der Demokratie.
Fakt ist, das Feld für diese Gefahren der gesellschaftlichen Verrohung ist bereitet, denn in Europa gelten zunehmend die Gesetze einer Psychopolitik, die auf dem Schüren von Ängsten beruht. Dabei tut Innehalten not. Das Schweizer Magazin „Watson“ hat in einem nüchternen Zahlenspiel an Realitäten erinnert. Nicht nur daran, dass im Vergleich mehr Menschen in Deutschland und der Schweiz am Verschlucken einer Gräte (letztes Jahr etwa 500) sterben, als durch den Terrorismus, sondern auch an den Umstand, dass die Terrorgefahr in Eu­ropa in den letzen Jahrzehnten eher abgenommen als zugenommen hat. Weltweit sieht dies allerdings anders aus, diverse Formen des Terrors verbreiten sich und Muslime machen dabei 80 Prozent der Opfer aus. Dennoch verbreitet sich hierzulande das subjektive wie abstrakte Gefühl der akuten Bedrohung durch „den“ Islam.
Natürlich kann keine Statistik die Opfer des Terrorismus trösten. Genauso wird eine Dialektik, die die eigene Erhöhung in einem Gegenbild gegen den Terror betreibt, der komplexen Lage nicht gerecht. Nach wie vor tönt in vielen Debatten die Losung George W. Bushs für seinen Feldzug gegen den Terror durch: „Wer nicht für uns, ist gegen uns!“ Die europäischen Staaten haben sich seit dieser Losung nicht nur an militärischen Konflikten beteiligt, sondern auch Milliarden in den Ausbau ihrer Sicherheitsstrukturen investiert. Eine ganze Industrie kümmert sich inzwischen um den Feind und zahlreiche Politiker erinnern alltäglich an die angebliche Zerbrechlichkeit, an die Morbidität staatlicher Strukturen. Die eigentliche Frage, jenseits der konfessionellen Zugehörigkeit, bleibt aber, trotz aller Gefahren des Terrorismus, ob in einer Zeit politischer und ökonomischer Krisenzeiten „Sicherheit durch den Staat“ und „Sicherheit vor dem Staat“ gleichermaßen möglich bleiben.
Wenn wir die Verbreitung des subjektiven Gefühls permanenter Bedrohung besser verstehen wollen, dürfen wir uns also nicht nur im Rahmen des Sofortismus der Medien bewegen, vielmehr müssen wir die geschichtliche Situation Europas mitdenken. Die Bomben von Paris und Brüssel fallen in eine Zeit diverser Krisen. Eine davon ist die Not Europas, seine eigene demokratische Iden­tität und seine eigene Bestimmung zu finden. Die Europäische Union hat gerade eine große Debatte über die demokratische Legitimität der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und der Bankenrettung überhaupt hinter sich.
Die Losung im Kampf gegen den Terror „Wir sind demokratisch, weil sie es nicht sind“, ist ein Motto, das die Gefährdungen der Demokratie durch die Sicherheits-, Informations- und Finanzindustrie nicht aus der Welt schafft. Die Dämonisierung des Feindes kann zudem auch von unseren moralischen und rechtlichen Widersprüchen, ausgehend von Bombenteppichen und Drohnenangriffen, ablenken. Gibt es noch einen Ausweg aus der Ödnis dieser Gegensätze?
Es ist ein schönes Lebensmotto, dass Rainer Maria Rilke mit dem Vers „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ umschreibt. Statt sich durch Gegenbilder statisch selbst zu definieren, geht es dem Dichter um eine andere Quintessenz der Ereignisse und den Versuch, einen Aufstieg durch ein höheres Erkenntnisverfahren zu erlangen. Nötig ist eine Politik, die sich positiv definiert und eine Vision vermittelt, die sich nicht nur aus einem Feindbild entwickelt. Der aktuelle Journalismus kann im Lichte dieser Erwartung durchaus trostlos wirken: Die „BILD“, die sich im Krieg wähnt und in schlichter Dialektik implizieren will, die eigene Seite sei dem Frieden zugewandt oder der „SPIEGEL“, der den angeblichen Missbrauch der Religion beklagt und gleichzeitig geschichtsvergessen andeuten will, dass der aufgeklärte Nihilismus nicht missbraucht werden könne.
Zu verstehen, wo Europa heute steht, ist aber auch für uns Muslime wichtig. Fatal sind Tendenzen, uns ebenso in Gegenbilder zu flüchten, bis hin zu der Form einer schizophrenen Heimatlosigkeit, die uns hier arbeiten lässt, aber die Loyalität des Gefühls an andere, angeblich idealere Orte transferiert. Weltfremd wirkt manchmal auch die Forderung oder die Kritik von Muslimen, die, nach einer strengen mathematischen Formel, das Mitgefühl planetarisch verteilt sehen wollen. Es ist weniger ein moralischer Widerspruch, als die existentielle Natur des Menschen, dass ihn Erfahrungen in seiner Nähe, Familie, Nachbarschaft, seinem Umfeld, bis hin zu Ereignissen auf seinem Kontinent eben auf verschiedene Weise und mit verschiedener Intensität prägen.
Hier kommt wieder eine der europäischen Debatten ins Bewusstsein, deren Inhalt wir uns gerade jetzt vergegen­wärtigen müssen. Die Idee universeller Werte, das Mitleiden-Wollen mit dem Schicksal aller Menschen, bis hin zur Vision weltstaatlicher Gerechtigkeit steht heute auf dem Prüfstand. Wer sich um die Menschheit sorgt, überhaupt den globalen Humanismus predigt, muss nüchtern beantworten, wo künftig der Rechtsweg für „Menschen“ und ihre Rechte offen steht. Bisher, das zeigt ja gerade die Flüchtlingskrise, sind es noch in erster Linie die Gerichte der Nationalstaaten, die allein BürgerInnen effektiven Schutz gewähren. Ob es je zu weltstaatlichen Einrichtungen kommt, die unabhängig von Herkunft, Rang und Einfluss Gerechtigkeit ausüben können, bleibt eine so offene wie ungewisse Frage. Allerdings sollten Muslime die Forderung aufnehmen, alle Hintermänner und Profiteure des Terrors der internationalen Gerichtsbarkeit zuzuführen.
Es wäre gleichzeitig töricht, unsere Rechte als BürgerInnen in Europa aufzugeben oder gar gering zu schätzen. Mehr denn je müssen wir uns aktiv einbringen, das heißt sich unserer Verantwortung und unseren Pflichten zu stellen, aber eben auch unsere Rechte einzufordern. Unsere Eigenschaft als BürgerInnen Europas anzuweifeln, ist das eigent­liche Ziel des neuen europäischen Populismus, der die Empörung über die furchtbaren Attentate dieser Tage ausnutzen will. Hierher gehört auch die scharfe Zurückweisung einer rassischen Definition der Staatsbürgereigenschaft. Dabei versteht sich von selbst, dass unsere muslimische Präsenz in fast allen europäischen Staaten und unsere Idee der Solidarität und ­Zusammengehörigkeit weit über die Grenzen der antiquierten Nationalstaatlichkeit hinausgeht. Der Islam ist seit Jahrhunderten Teil Europas und wir Muslime sind insofern naturgemäß überzeugte Europäer.
Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass gerade in den französischsprachigen Medien Europas die Rolle der Muslime in der politischen Realität Europas bereits neu und differenziert gedacht wird. Zu Recht hat zum Beispiel der Dschihadimus-Experte El-Difraoui darauf hingewiesen, dass die Attentäter von Paris und Brüssel „nicht einmal wissen, was Dschihad heißt“. Olivier Roy legt darüber hinaus auch den Finger in die Wunde, denn die Formensprache der Terroristen wurzelt nach seiner Sicht gleichermaßen in Zerrbildern des Islam und Vorbildern des europäischen Nihilismus. Beide Beiträge und ihre jeweiligen Quellen müssen also weiter kritisch hinterfragt werden. Das kriminelle Milieu, aus dem viele Attentäter stammen, spricht für die Islamisierung von Radikalität, nicht etwa für die Radikalisierung des Islam und erinnert gleichzeitig an die Gegenkraft muslimischer Bildung.
Über Jahrhunderte gab es immer Orte in der Welt, in der die freie und besonnene Lehre eine Heimat fand. Die Suche nach diesen Lehrstätten ist in manchen Weltregionen schwieriger geworden, insbesondere seit despotische Regimes die Lehrtätigkeit überwachen und kontrollieren. Es besteht aber berechtigte Hoffnung, dass gerade in Europa sich eine Lehre manifestiert, die wieder die klassische Position gegenüber Extremen, Ideologien und Radikalität ins Bewusstsein rückt. Diese muslimische Bildung wiederum kann nicht aus dem ideologischen Gegensatz von liberalen und konservativen Muslimen gewonnen werden, wohl aber aus dem gemeinsamen, konstruktiven Streit über die Prioritäten, die Balance und den Inhalt der islamischen Lebenspraxis. Dieser konstruktive Streit im jeweiligen Hier und Jetzt ist dabei so alt wie die islamische Bildung selbst.
Das Subjekt der Geschichte, möchte man erinnern, ist nicht der Islam, sondern die Muslime und ihre vielfältige Umsetzung der Lebenspraxis. Für die islamische Lebenswirklichkeit, eine natürliche Art zu Sein, gilt die Feststellung Goethes, dass die Natur eigentlich kein System sei. Wie sich der europäische Wille, alles Dasein in bestimmte Systeme zu integrieren, auf Dauer mit dem Gedanken der Freiheit verträgt, wäre eine weitere Frage, die das positive Gespräch von Muslimen und Europäern, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, beleben könnte. Natürlich wird die europäische Idee nur überleben, wenn ganz unterschiedliche Lebenspraktiken und unterschiedliche Konfessionen ihren eigenen Raum und Ort finden.
Fest steht, die Debatte um den Terrorismus hat uns Muslime wie kaum eine andere bewegt. Die Daesh-Ideologie wird längst von einer überwältigenden Mehrheit der Muslime aktiv abgelehnt. Das ist gut so. Weiter müssen wir alle selbstmörderischen Strategien des politischen Islam der letzen Jahrzehnte ins Visier nehmen. Sie haben alle miteinander ins Desaster geführt, sie sind ebenso keine Option. Nur wenn wir – bei allem Getöse der Konflikte und Bürgerkriege – die ökonomische Natur unseres Zeitalters verstehen, können wir letztlich die Seite des Islam entdecken, die für unsere Zeit wesentliche und spannende Beiträge kultivieren kann. Die Debatte über den eigentlichen Impuls der Muslime für die Zukunft Europas hat heute noch nicht einmal ansatzweise begonnen.
Es gilt im Moment ein einfaches allzumenschliches Gesetz: Wo immer geistige oder materielle Armut herrscht, wächst die Bedrohung durch Gewalt und Verrohung. Es gibt keine Sicherheitstechnik, die vor dieser Verwüstung schützen könnte. Diese Phänomene der Krise, die wir tatsächlich in Europa an verschiedenen Stellen beobachten können, gefährden die Errungenschaften der europäischen Kultur. In dieser Hinsicht sitzen heute alle Europäer im gleichen Boot.