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„Werte für die hiesige Gesellschaft“

Foto: DITIB e.V.

„Obgleich der Islam eine grundlegende Wirtschaftsordnung zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell entwirft, wird diese von Muslimen doch kaum als Wahlmöglichkeit in der globalen Ökonomie nach außen hin artikuliert. Die Fragen des ökonomischen Gleichgewichts werden, bis auf wenige Ausnahmen wie in der ‘Islamischen Zeitung’, kaum in Beiträgen thematisiert.“
(iz). Ecevit Polat ist gebürtiger Wuppertaler alevitisch-kurdischer Herkunft. Die Eltern sind aus Dersim (Tunceli, Osttürkei). Er wuchs alevitisch auf und war auf lokaler Ebene links-politisch engagiert. Mit 18 Jahren konvertierte er zum Islam. Er machte eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann und arbeitete im Außendienst. Seit 2010 veröffentlicht er auf seinem Blog antikezukunft.de seine Beiträge zu religiösen Themen. 2016 erhielt er seine Promotion in Islamischer Theologie an der University of Islamic Life in den USA und ist der Dekan der Theologischen Fakultät.
Islamische Zeitung: Herr Polat, wie beurteilen Sie die jüngsten Wahlerfolge der AfD in Deutschland?
Ecevit Polat: Meines Erachtens war das nur eine Frage der Zeit, bis Rechtspopulisten wie die AfD nach dem Vorbild der Parteien in den Niederlanden und Frankreich ihren Wahlerfolg verbuchen konnten. Allerdings sind die Zunahme der antimuslimischen Ressentiments und der gegenwärtige Wahlerfolg der rechten Parteien in Europa keineswegs nur dem Zustrom der Flüchtlinge anzulasten.
Islamische Zeitung: Könnten Sie das etwas konkreter beschreiben?
Ecevit Polat: Der antimuslimische Rassismus ist kein Phänomen der letzten zwei Jahre, er ist in gewissen Kreisen der Gesellschaft unverkennbar tiefgehender im Unterbewusstsein verwurzelt. Das liegt nicht weniger darin, dass Muslime mit ihren religiösen Symbolen wie zum Beispiel den repräsentativen Moscheen nach außen hin sichtbarer in der Landschaft geworden sind.
Zudem kommt hinzu, dass Muslime mittlerweile selbstbewusster in der dritten und vierten Generation auftreten als die ersten Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren. Heute trifft man Muslime in fast allen beruflichen Zweigen des Landes. Bei manch einem Alteingesessenen kann das Neidsyndrom eben auf der Wahlurne zu Gunsten der rechtsgerichteten Parteien beeinflusst werden.
Islamische Zeitung: Lässt sich durch die errichteten Lehrstühle für die islamische Religionspädagogik an deutschen Universitäten auch eine positive Kehrtwende zur Normalisierung des Islam in Deutschland deuten?
Ecevit Polat: Sicherlich waren die Etablierung und die Einrichtung schon längst überfällig gewesen, wenn man bedenkt, dass Deutschland inzwischen Lebensmittelpunkt für Millionen von Muslimen geworden ist. Darüber hinaus gesteht man auch den Hundertausenden Schülerinnen und Schülern in diesem Land das Recht zu, ihre Religion an deutschen Schulen – wie es bereits von katholischen und evangelischen Schülern in Anspruch genommen wird – als Wahlfach zu erlernen.
Dabei tragen die Lehrstuhlinhaber in diesen Fachbereichen eine nicht zu unterschätzende Verantwortung. Zugegeben läuft auch hier nicht alles reibungslos, wie etwa der Streit zwischen dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster und den Verbänden, der bekanntermaßen öffentlich ausgetragen wurde. Jedoch gibt es auch geglücktere Beispiele, die nicht im medialen Clinch mit den Verbänden stehen. Ganz besonders sei hier die Leistung und das Engagement der beiden Osnabrücker Religionspädagogen Professor Bülent Ucar und Professor Rauf Ceylan hervorzuheben, durch die die strukturelle Institutionalisierung erfolgreich vorangetrieben wird.
Islamische Zeitung: Erst jüngst wurde in einem katholischen Verlag ein Buch mit der Überschrift „Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren“ publiziert. Finden Sie, dass der Islam hierzulande zu spärlich kritisiert wird?
Ecevit Polat: Nein, ganz und gar nicht. Es gibt derzeit keine andere Weltreligion, die dermaßen und derart wie der Islam erbarmungslos kritisiert wird. Dabei werden extreme Erscheinungsformen wie der IS zu Unrecht pauschal mit einer Weltreligion gleichgesetzt. Beim näherem Hinsehen fällt allerdings auf, dass keine andere Religion in ihrem Gründungsdokument selbst die Kritik an ihr konsterniert zu Wort kommen lässt.
Danach gewährt der Qur’an eine Plattform für die Gegner des Propheten, indem er sämtliche Vorwürfe und Anschuldigungen, wie „Wahrsager“ und „Dichter“, zu Wort kommen lässt. Selbst der anti-islamische Theologe und Christ Johannes von Damaskus genoss im Hofe der Ummajjaden die uneingeschränkte Freiheit, Muhammad als den Vorläufer des Antichristen zu denunzieren.
Diese und weitere Nachweise geben zu verstehen, dass der Islam bereits seit seinem ersten Auftritt auf der Weltbühne offensichtlich mehr als jede andere Weltreligion Raum für grundsätzliche Kritik gestattet hat. Insofern hat der Islam kein Problem mit der Kritik.
Islamische Zeitung: Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen ist der Meinung, dem Islam fehle die Aufklärung adäquat zu den christlichen Religionen. Sind Sie auch der Ansicht, man müsse den Islam deshalb reformieren?
Ecevit Polat: Ich kann das zu einem gewissen Grad nachvollziehen, wenn derzeit mehr Politiker aus den unkonventionellen Parteien durch den Druck der neuen rechten Bewegungen und insbesondere durch die Verunsicherung in der Bevölkerung dieses Statement von sich geben.
Allerdings verkennen sie unbedacht, dass die Religion des Islam keine kirchenähnliche Struktur kennt, und schon allein deshalb jeder Vergleich adäquat zum Christentum von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Priester und Sakramententum sucht man vergeblich im Islam, geschweige denn einen muslimischen Papst. Es gab jedenfalls keinen elementaren Grund in den islamischen Ländern, inbrünstig den Slogan „Sapere aude“ à la Kant auszurufen, da Muslime von keiner Kirche bevormundet wurden.
Für die Mehrheit der gläubigen Muslime stellen der Qur’an und die Lebensweise des Propheten einen autoritativen Charakter dar. Innerhalb des Islam bildeteten sich deshalb schon frühzeitig diverse Rechtsschulen, die die Religion auf der Grundlage der autoritativen Schriften interpretierten. Richtiger wäre, wenn überhaupt, von einem „Idschtihat“ zu sprechen, was wörtlich Anstrengung bedeutet und auf die Bemühung, ein eigenes Urteil zu fällen, hindeutet. Der große pakistanische Dichter und Philosoph Muhammed Iqbal hat sich in seinem Buch „Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“ so intensiv wie kein anderer mit der Frage beschäftigt, weshalb und vor allem wie ein zeitgenössischer Idschtihat auszusehen habe. Dabei konnte er ganz und gar eindrucksvoll die Prinzipien und den Mechanismus des Idschtihat aus den konstitutiven Schriften nachweisen.
Insofern begreifen Muslime ihre Religion und damit ihre heilige Schrift schlechthin als ihre Aufklärung – mit den Worten des Qur’an, „als eine Erklärung aller Dinge“.
Islamische Zeitung: Den meisten Meinungsumfragen zufolge werden Muslime eher als eine soziale Last in den nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften wahrgenommen. Können Muslime überhaupt etwas Positives zum gesellschaftlichen Leben beitragen?
Ecevit Polat: Selbstverständlich können Muslime dank ihrer religiösen Wertvorstellungen lebensnotwendige Werte für die hiesige Gesellschaft bieten, was ihr schließlich auch bitter Not tut. Nicht nur die Wertschätzung der gelebten Familienwerte innerhalb der eigenen Familie, sondern insbesondere die immateriellen Werte wie Gastfreundschaft, Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit und nachdrücklich die Solidarität zwischenmenschlicher Beziehungen, die im Zeitalter des Kapitalismus und des wissenschaftlichen Fortschrittswahns notwendig geworden sind.
Praktizierende Muslime begreifen ihre Religion primär als eine alternative Lebensweise zum „American Way of Life“, der in Zeiten der Globalisierung als dominierendes Wertesystem seinen augenscheinlichen Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Man denke hierbei besonders an den krassen Individualismus. In diesem Zusammenhang sind die Ratschläge über prinzipielle ethische Werte von Luqman an seinen Sohn, wie dies ausführlich im Qur’an in 31:12-19 beschrieben wird, im Angesicht der Postmoderne mehr denn je von unabdingbarer Relevanz.
Islamische Zeitung: Warum assoziiert man mit Muslimen Negatives?
Ecevit Polat: Das liegt womöglich daran, dass Muslime vornehmlich eine apologetische Grundhaltung in gesellschaftspolitischen Diskussionen einnehmen und sich dabei immer in der Position des Reagierens befinden.
Obgleich der Islam eine grundlegende Wirtschaftsordnung zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell entwirft, wird diese von Muslimen doch kaum als Wahlmöglichkeit in der globalen Ökonomie nach außen hin artikuliert. Die Fragen des ökonomischen Gleichgewichts werden, bis auf wenige Ausnahmen wie in der „Islamischen Zeitung“, kaum in Beiträgen thematisiert. Der Qur’an behandelt diese Frage erstaunlicherweise sehr detailliert. Dabei werden die einzelnen Reglementierungen nicht etwa als empfohlene Prinzipien rezipiert, sondern haben durchaus einen normativen Charakter, um eine ausgewogene, gerechte Gesellschaftsordnung zu konzipieren.
Deshalb denke ich, dass Muslime im wahrsten Sinne des Wortes noch vieles zu bieten haben.