100 Jahre später: Compiègne und die Folgen

Ausgabe 282

Foto: Maurice Pillard Verneuil, via Wikimedia Commons | Lizenz: Gemeinfrei

(IPS). Was ist die Verbindung zwischen dem ­gegenwärtigen Bürgerkrieg in Syrien, der deutschen Sparpolitik, die von Deutschland in der letzten Finanzkrise erzwungen wurde, und dem arabisch-israelischen Konflikt? Ihre ­Ursprünge liegen in einer Welt, die vor hundert Jahren geboren wurde – in einem Waggon inmitten des Waldes von Compiègne, nordöstlich von Paris.
Am 11. November 1918 kam es zur Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen den Westmächten und dem deutschen Kaiserreich im erwähnten Zugabteil. Dieses Ereignis markierte das faktische Ende des Ersten Weltkrieges. Es war ein Konflikt, der die Welt veränderte und noch heute seine Schatten wirft.
Auf diesen folgten die Pariser Friedenskonferenz und die Verträge von Versailles, Sèvres und andere. Die Geburt des Völkerbundes, die Politik der Reparationen oder die Auflösungen der Österreichisch-Ungarischen, Deutschen, Osmanischen und Russischen Reiche waren Ergebnisse dieses Kriegsendes. Die Konsequenzen einiger dieser historischen Ereignisse sind heute noch auf der inter­nationalen Tagesordnung gegenwärtig. Sie bestimmen – ein Jahrhundert später – das ­Leben von Millionen Menschen.
Der Vertrag von Sèvres löste das Osmanische Reich im August 1920 auf. Damit wurde eine Büchse der Pandora geöffnet, die auch heute noch nicht geschlossen ist. Dafür lassen sich mindestens drei Beispiele anführen: der­ ­israelisch-palästinensische Konflikt, der Bürgerkrieg in Syrien und der Fall Kurdistan.
Beginnen wir mit Letzterem. Sèvres sah eine Volksabstimmung vor, die über die Zukunft der Region entscheiden sollte. Ein Referendum, das niemals stattfand. Der Aufstieg von Kemal Mustafa in der Türkei, der folgende Krieg sowie der Vertrag von Lausanne 1923 waren die Hauptursachen. Aber auch die Uneinigkeit der Kurden spielte ebenfalls eine Rolle. Hinzu kam die Tatsache, dass Sèvres die Einbeziehung der erdölreichen Provinz Mossul (die die Briten begehrten) in das ­Gebiet eines zukünftigen freien Kurdistan vorsah. Das half, das Gleichgewicht zugunsten türkischer Interessen zu verschieben.
Ein weiteres, unglückliches Erbe ist, zumindest zu Teilen, der gegenwärtige Bürgerkrieg in Syrien. Es ist weithin verbreitet, dass die Ursprünge des Konflikts mit dem Arabischen Frühling, der Widerstandsfähigkeit des ­Assad-Regimes, der Einmischung radikaler Gruppierungen und den Interessen vieler regionaler und globaler Mächte verbunden sind.
Ein Teil der gegenwärtigen Grausamkeit des Krieges steht jedoch in enger Verbindung mit einem Staat, nämlich Syrien. Er war das ­Ergebnis des Kriegsendes. Seine Grenzen wurden beschlossen, um ausschließlich die kolonialen Interessen von Briten und Franzosen zu befriedigen. Vor Kriegsende kam es zu ­einem geheimen französisch-britischen Teilungsplan, dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916. Dieses vermischte und teilte skrupellos verschiedene ethnische und religiöse Gruppen.
Noch weniger können wir die Krönung aller Konflikte ignorieren, den israelisch-arabischen. Seine Ursprünge finden sich in der Balfour-Erklärung von 1917 vor Ende des Großen Krieges. Sei wurde 1920 durch die Konferenz von San Remo in das Rahmenwerk der komplexen Manöver der Großmächte eingebunden, als die Grenzen der nach-­osmanischen Levante gezogen wurden.
Auf einem anderen Gebiet führte ein anderes, wichtiges Element, das auch die Verträge der Pariser Friedenskonferenz, und insbesondere den Versailler Vertrag, definierte, zur Politik der Reparationen. Diese Politik beeinflusste wesentlich die Kriegsverlierer. Sie standen vor der Zahlung enormer Summen, um die ­Alliierten zu entschädigen.
Diese aggressive Politik führte zum Rücktritt eines jungen Ökonomen namens Keynes von der britischen Delegation der Friedenskonferenz. Er warnte vor den destabilisierenden Auswirkungen auf den wirtschaftlichen und finanziellen Bereich. Dies war in der Tat eine der Hauptursachen der deutschen Hyperinflation der Jahre 1920-23. Damals kostete ein Laib Brot Milliarden Mark. Der Einfluss dieser Krise auf die Diskreditierung der Weimarer Republik und der daraus folgende Aufstieg des Nationalsozialismus ist bekannt.
Diese Kette der Ereignisse bildet die Grundlage der sehr starken Abscheu deutscher Ökonomen vor Inflation. Seit Gründung der Bundesrepublik bestanden Deutschlands offizielle Wirtschaftswissenschaftler und die offizielle Finanzpolitik auf einer strikten Kontrolle der Geldentwertung. Sie betrachteten sie als die Mutter aller möglichen und denkbaren Übel. Diese Politik wurde von Kanzlerin Merkel nicht nur in Deutschland, sondern auch im Rest Europas durchgesetzt. Eine restriktive Politik, welche die mutmaßliche Gefahr von Inflation vermeiden sollte.
All das, und mehr, begann vor einhundert Jahren in einem Zugabteil im Wald von Compiègne.