Achtzehn Jahre nach „Nine Eleven“

Ausgabe 291

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(iz). Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde der Antiislamismus im globalen Westen Staatsdoktrin. Der Terroranschlag der Al Qaida auf das World Trade Center in New York City, der Hauptstadt der westlichen Welt, wurde für die US-Regierung unter George W. Bush zum Vorwand, erst in Afghanistan, dann in den Irak einzumarschieren. Bis heute ist die Region ein Hort der Instabilität.

Diese Lesart ist heute herrschende Meinung, und zwar links wie recht. Die Linken beklagen das böse, böse Amerika – und spielend dabei, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, die Flöte Putins oder Chinas. Die Rechten beklagen den bösen, bösen Islam, schimpfen dabei aber häufig im gleichen Atemzug auch auf die USA, es sei denn, des handelt sich bei ihnen um amerikanische Nationalisten.

Dabei sind beide im Irrtum. In Wahrheit liegen die Dinge viel einfacher: das große Narrativ meiner Generation, dass 1990 der Ost-West-Konflikt zu Ende gegangen sei, ist ein Märchen. 1990 ging der Kalte Krieg zu Ende, aber nicht der Ost-West-Konflikt. Der Ost-West-Konflikt ging über 1990 hinaus, genauso wie er älter ist als 1945 und bereits Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Gegensatz zwischen dem British Empire und dem Russischen Kaiserreich begonnen hatte.

Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion war 1989 an einen toten Punkt gelangt. Man stand sich in Berlin, der Hauptstadt der Welt, waffenstarrend gegenüber, und im Ostteil der Stadt gingen die Menschen auf die Straße. Gorbatschow hatte nur zwei Optionen: entweder er gab der Roten Armee in Ostdeutschland den Einsatzbefehl: das hätte sehr wahrscheinlich zu einem Atomkrieg und damit einer Menschheitskatastrophe geführt; oder er zog seine Truppen zurück und entblößte damit die DDR-Staatsführung, die ohne den Rückhalt Moskaus gegenüber dem Westen aufgeschmissen war. Gorbatschow entschied sich für Letzteres, und dafür sind wir ihm noch heute dankbar.

So wie in Berlin vollzogen sich im ganzen Ostblock innerhalb eines Jahres postkommunistische Systemtransformationen. Der Krieg zwischen USA und Sowjetunion entlang des Eisernen Vorhangs durch Europa konnte logisch nicht mehr fortgesetzt werden, ohne in einen Dritten Weltkrieg zu münden, der diese Menschen-Welt wahrscheinlich ausgelöscht hätte.

Aber der Krieg war darum nicht vorbei. Er wurde schlicht verlagert, und zwar in jene Peripherie Europas, die seit je das Herzzentrum der Weltpolitik war: in den Nahen und Mittleren Osten. Dort konnte er mit anderen Methoden, eben „asymmetrisch“ fortgeführt werden. Die USA wussten, dass das nunmehrige Russland versuchen würde, dort Fuß zu fassen, wie es dies bereits seit Katharina der Großen versucht hatte. Also mussten sie ihre Präsenz dort verstärken. Da Amerika aber schlecht die Wahrheit sagen konnte: nämlich dass der Konflikt mit Russland natürlich in die nächste Runde ging und man den alten Feind nun eben im Nahen Osten stellen müsste, erfand man als Vorwand den Islam als Bedrohung.

Der politische Islam als weltpolitische Bedrohung war von Anfang an ein Popanz, nichts weiter. Er wurde quasi offiziell erfunden durch Samuel Huntington, dessen intellektuell wenig anspruchsvolles Buch Clash of Civilizations 1993 die neue Nahostpolitik der USA sanktionierte. Eigentliches Ziel der US-amerikanischen Politik aber war nie der Islam, waren nie die Muslime zwischen Mittelmeer und Indien, sondern Russland, das 1990 in Südasien damit weitermachte, womit es 1989 in Berlin aufgehört hatte.

Die Tragik der westlich-arabischen Beziehungen seit 1990 und insbesondere seit dem 11. September 2001 ist, dass sie auf einem großen Missverständnis beruhen. Es gibt keinen Kampf zwischen westlicher und orientalischer Zivilisation. Die westliche Zivilisation ist aus dem Orient hervorgegangen, und der Orient wurde während des Kalten Krieges durch den Westen vor dem staatlich verordneten Atheismus des Ostblocks beschützt.

Die USA wollten – und mussten – nach 1990 einen Fuß in die orientalische Tür bekommen, um ein Vordringen Russlands und Chinas dort zu verhindern, stellten sich dabei aber propagandistisch dermaßen ungeschickt an, dass heute, achtzehn Jahre nach dem 11. September, alle Welt die Mär vom bösen Amerika und dem bösen Islam glaubt. Die lachenden Dritten in diesem Spiel sind Putin – und China, die eigentliche Weltmacht im Osten, deren früherer Seniorpartner Russland nur mehr ein Schatten seiner selbst ist.

China hat die Nachwehen des Kalten Krieges geschickt ausgenutzt und ein Netz von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten aufgebaut, wogegen die amerikanische Containment-Strategie im Nahen und Mittleren Osten gescheitert sein dürfte. Die als Sakrileg wahrgenommene Aussage unseres früheren Bundespräsidenten Horst Köhler von den Handelswegen, die wir in Afghanistan beschützten – sie führte bekanntlich zu seinem Rücktritt im Frühjahr 2010 –, bezog sich nicht auf irgendwelche afghanischen Warlords oder den ach so bedrohlichen politischen Islam, sondern exakt auf die Supermacht China, die, im Verein mit Russland, hinter dem Hindukusch lauert.

Heute ist es dieses China, das die Uiguren drangsaliert und sich, gemeinsam mit dem Zaren Putin, über den Iran langsam Richtung Mittelmeer vorarbeitet, während wir immer noch darüber diskutieren, ob die syrischen Flüchtlinge eine Bedrohung für unsere Innenstädte seien, und zugleich mit kindischer Emphase über den „Weltpolizisten Amerika“ schimpfen.

Der Westen, dessen Liberalismus aus dem orientalischen Monotheismus hervorging, und der arabisch-islamische Orient, dessen Glaubensbrüder in Bosnien und dem Kosovo in den Neunzigerjahren durch die NATO vor der Vernichtung beschützt wurden, sollten die Huntington-Legende endlich ad acta legen und ihre unsinnige Feindschaft begraben.