Ägypten: Nach dem Coup wird Stimmung für Klima der Verfolgung gemacht

Ausgabe 218

Der Militärputsch in Ägypten vom 3. Juli und die Entmachtung der Muslimbrüder wurde von verschiedenen Gruppen mitgetragen. Aber dass an der ­Spitze des Staates statt gewählter Vertreter jetzt wieder Repräsentanten des früheren Mubarak-Regimes stehen, wird in der Regel unterschlagen. Dazu gehört auch die Dominanz über den öffentlichen Diskurs.

(junge Welt). Nach anhaltenden Massenprotesten war im Februar 2011 Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak zum Rücktritt gezwungen worden. Statt – wie von den ­Demonstranten gefordert – eines zivilen Präsidialrats trat an die Stelle des Langzeitherrschers eine Gruppe hochrangiger Offiziere. Aller­dings sicherten diese freie und demokratische Wahlen sowie die Aufhebung der seit drei Jahrzehnten geltenden Notstandsgesetze zu. Ende 2011 fanden schließlich Parlamentswahlen statt. Die verschiedenen islamisch orientierten Bewegungen erhielten dabei gut zwei Drittel der Stimmen.

Das alte Regime, in Gestalt von Mubaraks Generälen und dem von ihm eingesetzten Obersten Gericht, sabotierte den Prozeß, wo es nur ging. Das neu gewählte Parlament wurde vom Militär­rat wieder aufgelöst, die aus ihm hervor­gegangene verfassunggebende Versamm­lung ebenso. Die Begründung: Sie seien nicht repräsentativ gewesen – obwohl sie ja gerade von einer deutlichen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung bestimmt worden waren.

Als im Juni 2012 Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbrüder, zum Präsidenten gewählt wurde, machte die Opposition mobil. Der Staatschef sei „autokratisch“, repräsentiere nicht die Bevöl­kerung, und die Muslimbrüder versuch­ten, der Gesellschaft ihren Stempel aufzudrücken. Wie unerhört: Eine politische Bewegung, der zwei Drittel der Bevölkerung ihre Stimme geben, versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse – behutsam – zu gestalten.

Das Ganze hat aber nicht nur eine innerägyptische Dimension. Mit dem Sieg der Revolution über das Mubarak-Regime und dem Aufstieg der islamischen Bewegungen wurde der bis dato stabile Status quo im Nahen und Mittleren Osten verändert. Das geostrategische Gefü­ge, das Washington erhalten will, bedeutet: kein nennenswerter Widerstand gegen die israelische Expansions- und Annexionspolitik, Feindschaft gegenüber Iran, keine eigenständige und an den ­Interessen der Bevölkerung orientierte Politik. Im Inneren Ägyptens heißt das Repression.

Die Durchfahrt iranischer Kriegsschiffe durch den Suezkanal nach der Revolution hat symbolisiert, dass diese schöne alte Welt zusammengebrochen ist. Innenpolitisch hat die „Stabilität“ à la Mubarak bedeutet, dass mehrere Millionen Menschen, die sich keine Unterkunft leisten konnten, auf Friedhöfen hausten. Das Leben der Mehrheit der Ägypterinnen und Ägypter war und ist in ­höchstem Maße instabil. Die Muslimbrüder waren angetreten, daran etwas zu ändern, aber auch an der Außenpolitik Ägyptens.

Die Gegner der Muslimbrüder und der neuen Regierung in Kairo waren zunächst sehr heterogen: Vertreter und Unterstützer des alten Regimes, aber auch säkulare Bewegungen und liberale sowie linke Gruppierungen. Demographische Basis der Opposition ist die ägyptische Mittelschicht, für die westliche Werte und Konsumstile eine große Attraktivität besitzen. In der Gesamtgesellschaft stellt sie eine Minderheit dar. Als die verfassungsgebende Versammlung Ende 2012 – trotz der Obstruktionspolitik des demokratisch nicht legitimierten (weil noch von Mubarak eingesetzten) Verfassungsgerichts – einen Entwurf vorleg­te, war daher die zentrale Forderung der Opposition: Verhinderung eines Referendums über diese Verfassung; außerdem Rücktritt des gewählten Präsidenten. Die Volksabstimmung wurde durchgeführt, der Verfassungsentwurf im Dezember 2012 von zwei Dritteln der ägyptischen Bevölkerung unterstützt. ­Dieser sah eine klare Gewaltenteilung vor, der Präsident war durch das Parlament absetzbar. Die verabschiedeten Gesetze sollten vom Verfassungsgericht überprüft werden können. Lediglich mit allgemei­nen Prinzipien wurde Bezug zur islamischen Rechtslehre genommen.

Unmittelbar, nachdem Mursi im Juni 2012 als Sieger aus den Präsidentschafts­wahlen hervorgegangen war, vor allem aber als das Referendum über die Verfas­sung näher rückte, wurde die Opposition immer lauter, schriller und ­aggressiver. Brandsätze flogen, Gebäude der Muslimbruderschaft wurden angegriffen. Mursi schien ein feines Gespür dafür zu haben, die Macht der Generäle langsam, aber sicher zu beschneiden. Als er im August 2012 den General­stabschef Moham­med Hussein Tantawi entließ, der sich im Frühjahr 2011 an die Stelle von Mubarak gesetzt hatte, konnte man sich nur wundern, dass die Armee dies widerspruchslos duldete. Inzwischen kennt man deren Gegenplan.

Alles „Islamisten“
Für die politische Reaktion waren und sind die internationalen Medien von großer Bedeutung. Im Einklang mit den Paro­len der Opposition wird dort ein Bild gezeichnet, das einer klaren politischen Agenda folgt und mit Berichterstat­tung wenig zu tun hat. Zum einen wird so getan, als sei „die“ Opposition ein zwar bunter, aber doch einheitlicher Block, mit dem Ziel, gegen Unterdrückung vorzugehen. In der Regel wird unterschlagen, dass er sich zu einem nicht unerheb­lichen Teil aus Vertretern oder Nutznie­ßern des alten Regimes zusammensetzt. Gleichzeitig wird das Verfassungsgericht als relevanter justizieller Körper dargestellt, dessen Urteile in einem demokrati­schen Gemeinwesen zu respektieren seien. Das geht so weit, dass dessen Mitglie­der – etwa die von Mubarak zur Verfassungsrichterin ernannte Tahani Gebali – als Kämpfer für Menschenrechte dargestellt werden. In einem Interview mit der „New York Times“ (3. Juli 2012) hat Gebali freizügig geschildert, wie sie den Militärs davon abgeraten hat, allgemeine Wahlen zuzulassen – weil ja klar gewesen sei, dass „die Islamisten“ dabei gewinnen würden. Nach der Abstimmung habe ihr die Armeeführung ihren „Fehler“ eingestanden. Ein paar ­Monate später schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ (13. Dezember 2012): „Frauen- und Bürgerrechte waren Gebali immer ein besonderes Anliegen.“

In der medialen Stimmungsmache gegen die Muslimbrüder spielt der Islam selbstverständlich eine zentrale Rolle. ­Is­lam gleich „Islamisten“ gleich ­Terroristen gleich Verrückte: das ist der Tenor, die der Berichterstattung in den westlichen Medien oftmals unterlegt ist. Es ist auch die Position, von der aus Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi am 3. Juli seinen Putsch einleitete: Die Armee verteidige „das Volk“ gegen „Terroristen, Extremisten und Verrückte“. Während noch bis Mitte 2012 in den Medien klar war, dass die gemäßigte islamische Bewegung der Mus­limbrüder eine andere Politik verfolgt als etwa die salafistische Nur-Partei, sind mittlerweile alle zusammen „Isla­misten“. Und der Konflikt wird so gezeichnet, dass die Opposition „das Volk“ ist, während auf der anderen Seite der Diktator steht, allenfalls mit ein paar Tausend Anhängern. „Das Volk“ setzt sich aus Bürgern und Menschen zusammen, aber die Unterstützer des gewählten Präsidenten sind „Islamisten“. Dazu gehört auch, dass die Massenkundgebungen der Unterstützer des ­Präsidenten systematisch kleingeredet werden. Seit Mursis Amtsantritt wurde Ägypten durch von Woche zu Woche aggressiver werdende Demonstrationen lahmgelegt. Zuletzt wurde ihm dann von der gleichen Opposition vorgeworfen, er sei nicht in der Lage gewesen, Stabilität und Sicherheit im Land herzustellen … Durch die Berichterstattung westlicher Medien zieht sich, neben dem Vorwurf der angeblichen „Autokratie“, in verschiedenen Variationen das Motiv von der „schleichenden Islamisierung“, für die die Muslimbrüder verantwortlich ­seien. Eine islamische Demokratie – das klingt in westlichen Ohren wie ein ­Unding. Das geht nicht. Eine christlich orientierte Demokratie? Das ist kein Problem.

„Erhalt der Demokratie“
„Islamisten“ sind gewaltaffin: So will es das Vorurteil. Nachdem die Putschge­neräle die öffentlichen Fernsehsender besetzt hatten, zogen, so die NZZ am 9. Juli, die Anhänger der Muslimbrüder „in einer provozierenden Demonstration der Stärke“ vor die staatlichen TV-Einrichtungen. Dass diese durch die Armee übernommen wurden, ließ die NZZ weg. Noch in der Nacht von Mursis Absetzung startete eine Verhaftungswelle. Das Parlament wurde aufgelöst, die Verfassung außer Kraft gesetzt.

Seit über einem Jahr wurde hinter den Kulissen daran gearbeitet, den demokra­tischen, auf einen plebiszitären Willen gegründeten Prozeß in Ägypten umzukehren. Hilfsmittel ist dabei die Phrase von der „Rettung der Revolution“ bezie­hungsweise dem „Erhalt der Demokratie“. „Demokratie“ wird benutzt als ein Kampfbegriff zur Durchsetzung von Machtverhältnissen. Als eine der ersten Maß­nahmen hat die Armeeführung den Grenzübergang zu Gaza wieder geschlos­sen. Das ist tragisch, nicht nur für Ägypten und Palästina. Es re-inszeniert das Dilemma, in dem sich islamische Bewegungen seit über 30 Jahren befinden: entweder Aufgabe der islamischen politischen Identität oder Abdrängung in die illegale, gar bewaffnete Sphäre – wo die Bewegung dann als Legitimation dient für die verhärtete und rücksichtslose Politik eines diktatorischen Regimes. Das ist gewollt.

Der Artikel erschien zuerst am 24. Juli 2013 in der Tageszeitung „junge Welt“.