Afghanistan und die Kinderlähmung: Der Kampf um die letzten Fälle

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Nur aus zwei Ländern werden noch Fälle von Kinderlähmung gemeldet. Eigentlich soll sie bald ausgerottet sein – aber im Krieg bricht sie leicht wieder aus. In Afghanistan müssen Impf-Teams mit Islamisten verhandeln.
Kabul (dpa). Eine Woche vor den Impfungen läuft die Maschinerie an. Delegationen reisen an und suchen den örtlichen Kriegsherrn auf, Geistliche und andere Freiwillige, die sich um die Gesundheit der Kinder sorgen, sprechen mit Familienvätern. Jedes Mal wieder erklären sie, was die Kinderlähmung ist und wieso die Söhne und Töchter im Dorf dagegen geschützt werden müssen. Manchmal müssen die Impfungen verschoben werden, weil im Gebiet gekämpft wird. Dann wartet das Impf-Personal auf den letzten Schuss, der ihr Startschuss ist.
Afghanistan ist neben Pakistan das einzige Land, in dem laut der „Global Polio Eradication Initiative“ in diesem Jahr neue Fälle der auch Polio genannten Kinderlähmung aufgetaucht sind. In den Straßen sind die Opfer leicht zu erkennen: verzerrte Körper mit verkümmerten Beinen oder Rücken, oft auf allen Vieren. Eine von 200 Infektionen führt zu dauerhaften Lähmungen, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bis zu zehn Prozent der gelähmten Kinder sterben. Eigentlich wäre das mit regelmäßigen Impfungen zu verhindern. Es ist kein Zufall, dass das Virus vor allem in Ländern überlebt, in denen Krieg herrscht.
Die gute Nachricht: Die Zahlen der Neuinfektionen sind bisher stetig zurückgegangen. In Afghanistan gab es 2015 noch 20 Fälle – in diesem Jahr sind es bisher sieben. In Pakistan ist die Zahl geschrumpft von 306 Fällen in 2014 auf bisher fünf in diesem Jahr. Nach massiven Militäroffensiven in Extremistengebieten hatten Impfteams ab 2015 endlich wieder Zugang zu den meisten Kindern im Land. „Aber wir wissen wohl: Solange wir nicht bei null Neuinfektionen sind, können wir schnell wieder ein Riesenproblem haben“, sagt die Chefin von Pakistans Anti-Polio-Programm, Ayesha Farooq, vor dem Welt-Polio-Tag am Samstag (28.10.).
Die WHO drückt es so aus: So lange auch nur ein Kind infiziert ist, sind alle Kinder weltweit in Gefahr. Wenn das Virus fortbestehe, könne es in zehn Jahren wieder 200 000 Neuerkrankungen geben.
Afrika zum Beispiel galt seit fast zwei Jahren als Polio-frei. Aber in Gebieten im Nordosten von Nigeria, die unter der Kontrolle der Terrormiliz Boko Haram standen, waren 2016 wieder eine Handvoll neuer Fälle diagnostiziert worden. Seitdem sind in 14 Kampagnen 58 Millionen Kinder geimpft worden, um die Ausbreitung zu vermeiden. Allerdings: Rund 400 000 Kinder blieben ohne Impfungen, denn sie leben in Gegenden, wo Boko Haram noch aktiv ist.
Afghanistan hat da wohl die größten Sorgen. Dort sind seit Ende der Nato-Kampfmission im Jahr 2014 die Taliban wieder auf dem Vormarsch. Heute kontrollieren sie rund elf Prozent des Landes und kämpfen um weitere 30 Prozent. Im Oktober 2017 herrscht in sieben „ihrer“ Bezirke in der südafghanischen Provinz Kandahar ein Impfbann – in vier schon seit dem Frühjahr. Prompt ist in einem dieser Gebiete im Juli ein weiterer Fall aufgetaucht, ein 18 Monate altes Mädchen.
In zwei Bezirken hätten die Taliban die Kampagne sozusagen in Geiselhaft genommen, sagt der Chef der Polio-Abteilung im Gesundheitsministerium in Kabul, Maiwand Ahmadsai: „Sie sagen uns, solange sich nicht auch die anderen Gesundheits-Leistungen in ihrem Bezirk verbessern, dürfen auch keine Impfungen stattfinden.“ Aber in fünf anderen hätten sie keine Gründe genannt. Die Taliban sind radikale Islamisten. Einige glauben, dass Impfungen Teil einer Verschwörung des Westens sind, um Muslime unfruchtbar zu machen. Andere glauben, die Impf-Teams seien Spione der Regierung.
Jetzt verhandeln die Impfenden. Es ist nicht das erste Mal. Letztes Jahr kamen sie an Zehntausende Kinder im umkämpften Kundus im Norden nicht heran. „Das ist dieses Jahr gelöst“, sagt der Chef der WHO in Afghanistan, Rik Peeperkorn. Mitunter laufe es darauf hinaus, dass Taliban in Impfteams aufgenommen werden müssen, erzählt ein afghanischer Kollege. „Aber wir nennen sie nicht Taliban, wir nennen sie Helfer. Es sind eben Leute mit Zugang, und wir brauchen Zugang.“
Das Virus ist tückisch, sagen Experten. Nur ein Bruchteil der Infizierten wird krank, aber alle können es weiter verbreiten. So kann es lange unentdeckt zirkulieren – vor allem natürlich in Gegenden, in denen geschossen wird. Solange das so bleibt, wird es wohl schwierig, die Zahl der Neuinfektionen in Afghanistan auf Null zu senken. Dass ein neuer Fall unentdeckt bleibe, sei aber unwahrscheinlich, sagt Rik Peeperkorn. Zehntausende freiwillige Aufpasser im ganzen Land – vom Mullah bis zum Ladenbesitzer- hätten ein Auge darauf.