Als die Globalisierung begann

Ausgabe 301

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(KNA). Vor 1.000 Jahren gingen Menschen, Ideen und Waren auf die Reise – die Globalisierung begann bereits mitten im Mittelalter, meint die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen.

Ob Fluch oder Segen – die Globalisierung wird als Gegenwartsphänomen begriffen, das alle Bereiche des Lebens betrifft. Die an der Universität Yale lehrende Historikerin Valerie Hansen weist in ihrem neuen Buch nach, dass die Anfänge dieses Phänomens viel weiter zurück­reichen, nämlich bis ins Jahr 1000. Sie zeigt, wie sich in diesen Jahren die Handelswege rund um den Globus ausbildeten, die es möglich machten, dass Waren und Technologien ausgetauscht wurden, Religionen sich verbreiteten und Menschen weite Strecken zurücklegten.

Im chinesischen Quanzhou konnten die Menschen Tische aus Java, Elfenbeinschnitzereien aus Afrika oder Bernsteinfläschchen aus dem Baltikum kaufen. ­Ihnen standen Moscheen, hinduistische oder buddhistische Tempel zur Ver­fügung. Und wenn sie es wollten, konnten sie einen japanischen Roman oder die neuesten Werke muslimischer Gelehrter lesen. Chinesische Eliten kannten internationale Handelswege und verfügten über ein Informationssystem, das mehrere Kontinente umfasste. „Sie lebten in einer globalisierten Welt“, stellt ­Hansen fest.

Natürlich lebten die meisten Menschen in ihrem kleinen Dorf, ohne viel von der weiten Welt draußen mitzubekommen. Dennoch: Asiatische Reiter konnten in Staffeln pro Tag knapp 500 Kilometer zurücklegen, und die Wikinger überquerten mit ihren Booten den Atlantik. Ob die Seefahrer aus dem Norden auch das Gebiet der Maya auf der heute mexikanischen Halbinsel Yucatan erreichten, bleibt aber Spekulation; ebenso wie die Frage, ob die blonden, hellhäutigen ­Menschen auf Wandmalereien dort in Chichen Itza gestrandete Skandinavier darstellten.

Religion spielte in der globalisierten Welt um 1000 eine bedeutende Rolle. Dabei war Pragmatismus wichtiger als der Glaube selbst. Denn eine der schnellsten Möglichkeiten, die eigene Gesellschaft voranzubringen, bedeutete, die Religion einer weiter entwickelten Gesellschaft anzunehmen, sagt Hansen und stellt Wladimir I. vor, von 978/80 bis 1015 Großfürst der Kiewer Rus (heute Ukraine).

Wladimir suchte eine Religion, die ihm die größte Möglichkeit bot, seine Macht zu konsolidieren und starke Bündnisse mit Nachbarn einzugehen. Ausgehend von Berichten seiner Gesandten überlegte er, ob der Islam eine Option wäre; doch durften Muslime keinen Alkohol trinken. Das Judentum lehnte er ab, weil die Juden Jerusalem verloren hatten. Warum er den Katholizismus nicht in die engere Wahl zog, ist unbekannt. Am Ende entschied sich der Großfürst für das orthodoxe, östliche Christentum, so wie es im byzantinischen Reich praktiziert wurde.

Der dänische König Harald Blauzahn (910-985) nahm das Christentum an, weil er die Religion als verbindendes Glied für sein Königreich verstand. Von diesem Beispiel geleitet haben die Ingenieure von Intel und Ericsson ihre Technologie Bluetooth (Blauzahn) genannt, weil sie Computer und Handys verband wie Harald Blauzahn sein Königreich. Um das Jahr 1000 wählten auch andere Fürsten für ihr Gebiet ihre Religion aus – mit dem Ergebnis, dass Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus dramatisch wuchsen. Hansen sagt: „Wir leben in einer Welt, die aus den Ereignissen im Jahr 1000 hervorgegangen ist: 92 Prozent aller gläubigen Menschen gehören einer der vier Religionen an, die damals an Zugkraft gewannen.“ Religion konnte aber natürlich auch damals schon spalten. So lehnte der muslimische Herrscher Mahmud ein Angebot des buddhis­tischen Kaisers Shengzong ab mit der ­Begründung: „Es gibt keine Religion, die uns zusammenbringt und durch die wir miteinander verbunden wären.“

Die Historikerin Hansen sagt, die Menschen hätten im Jahr 1000 vor den gleichen Fragen und Herausforderungen gestanden wie wir heute: „Sollen wir mit unseren Nachbarn kooperieren, mit ihnen Handel treiben, ihnen erlauben, sich in unseren Ländern niederzulassen und ihnen Religionsfreiheit zugestehen, wenn sie in unserer Gesellschaft leben? Oder sollen wir sie außen vorlassen? Sollen wir gegen Leute vorgehen, die durch Handel reich geworden sind? Wird uns die Globalisierung deutlicher machen, wer wir sind, oder wird sie unsere Identität zerstören?“