Als Ost-Turkestan ein Teil des Osmanischen Reiches war

Ausgabe 242

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(iz). Jenseits des Himalajas und des großen Kunlun, dort wo die alten Handelsrouten der Seidenstraße aufeinandertrafen, wo das Uigurische das Chinesische längst abgelöst hat, liegt die Wiege der islamischen Zivilisation Asiens: Kashgar. Die heimliche Hauptstadt der Uiguren, die in der chinesischen Provinz Xinjiang liegt, hat bis heute ihren Drang nach Unabhängigkeit nicht verloren. Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die von der chinesischen Zentralregierung an den Uiguren verübt werden und immer mehr die Form einer ethnischen Säuberung annehmen, dokumentieren ein Geschehen, dessen Wurzeln weit in die Geschichte zurückgreifen.
Das von Mao Zedong begründete kommunistische Regime in China gilt nicht als Urheber jener zentralasiatischen Katastrophe, sie trat in Wirklichkeit ein altes Erbe ihrer Vorgänger an. Ost-Turkestan, jener Ort, an dem die Wellen der chinesischen Zivilisation auf die Felsen der islamischen Zivilisation prallen, ist seit Jahrhunderten Schauplatz eines erbitterten Kampfes, in dem geostrategische, religiöse und nicht zuletzt wirtschaftliche Ziele verfolgt werden.
Die Geschichte des uigurischen Unabhängigkeitskampfes gegen das kaiserliche Qing-China und Russland ist facettenreich. Ein fast vergessenes Kapitel ist hierbei die Unterstützung des Osmanischen Reiches für die Uiguren. Als 1865 ein uigurischer Abgesandter Konstantinopel mit der Bitte um Audienz beim Sultan erreichte, lagen hinter ihm bereits über 4.000 Kilometer. „Was für Nachrichten bringst Du aus dem Land, das meine edlen Vorfahren verließen, um diesen erhabenen Staat zu gründen?“, fragte Sultan Abdülaziz den fremden Boten. „Mein Padischah“, antwortete der Bote, „obwohl die Russen Fergana (West-Turkestan) besetzten, haben sich viele Muslime im Land des chinesischen Kaisers erhoben, um das Ziel, den Islam zu verbreiten und ihm zum Sieg zu verhelfen, zu erreichen.“ „Als Sultan Abdülaziz diese Nachrichten hörte, erließ er einen Befehl, nach dem Ende des rituellen Gebetes für die Muslime des Ostens, die den Islam verbreiten, ein Gebet für deren Unterstützung zu sprechen. Er selbst betet für die Muslime des Ostens als Erster vor allen Anderen.“, berichtete der Bote seinem Fürsten Yakub Bey bei seiner Rückkehr in Kashgar. Sultan Abdülaziz überreichte dem Boten vor seiner Abreise Grußbotschaften und Orden für die Fürsten in Turkestan und gab ihm die Zusicherung, dass das Osmanische Reich die muslimischen Völker Zentralasiens unterstützen werde. Waffen, Munition und Uniformen sollten für sie bereitgestellt werden.
Als der Bote die Neuigkeiten vor die Fürsten in Kashgar, allen voran Yakub Bey, brachte, schloss er mit den Worten: „Seit der Gründung des Osmanischen Reiches, dem Kalifat von Rum, des Beschützers der Muslime, haben die Muslime dieser Erde immer wieder zu diesem Reich hoch geschaut. Der Kalif ist erfreut und betet für unseren Erfolg! Und wenn er von unseren Niederlagen hört, ist er bekümmert und wird unglücklich und betet für unseren Sieg. Welche Nachrichten er auch von den Muslimen hört, er schreibt sie sich auf ein Dokument und macht sie bekannt. Dieses Land [Kashgar] gehört Eurer Hoheit [Yakub Bey] und es ist erforderlich und ebenso verpflichtend für Euch, den Kalifen zu informieren!“ Erst 1873 wurde der Bote wieder nach Konstantinopel entsandt und überreichte Sultan Abdülaziz eine Erklärung, in der Turkestan die Suzeränität des Osmanischen Reiches anerkannte und somit unter die Oberhoheit des osmanischen Sultanats fiel. Das Osmanische Reich erhielt im fernen Zentralasien, der östlichsten Bastion in ihrer Geschichte, ein Gebiet, das mehr als vier Mal größer war als das heutige Deutschland. Sultan Abdülaziz ernannte Yakub Bey zu seinem Statthalter (Vali) in Kashgar und überreichte dem Boten ein kostbares Schwert, welches er seinem Herrn übergeben sollte.
Begleitet wurde der Bote von osmanischen Offizieren und Beamten, die in Kashgar Militär- und Verwaltungsstrukturen errichten sollten und über tausend Gewehre sowie Kanonen mit sich führten. Nach ihrer Ankunft in Kashgar fand eine außergewöhnliche Prozession statt: im Mausoleum des islamischen Gelehrten Afaq Khoja übergab der Bote feierlich das Schwert und den Orden des Sultans an Yakub Bey. Es wurden hundert Salutschüsse abgegeben und eine Militärparade abgehalten. Yakub Bey veranlasste, dass in allen Moscheen seines Reiches der Name von Sultan Abdülaziz ins Freitagsgebet einbezogen und die Münzen mit seinem großherrlichen Namen geprägt werden sollten. Er erklärte fortan, sich in die Dienste des osmanischen Sultan-Kalifen zu stellen.
Am 23. April 1875 überbrachte der Bote eine Dankesbotschaft von Yakub Bey. In einem Brief, der für den Sultan ins Osmanische übersetzt wurde, waren alle Veränderungen aufgelistet, welche nach der Übernahme der Suzeränität durch die Osmanen unternommen wurden. Dazu gehörte neben der namentlichen Nennung im Freitagsgebet (Khutba) und der Münzprägung auch die Hissung der osmanischen Flagge in Kashgar. Yakub Bey schwor in seinem Brief, „die Gunst des Sultans bis zum Endes seines Lebens nicht zu vergessen und jeden Befehl auszuführen, der ihm auferlegt werden würde.“ Die Muslime Zentralasiens „wenden ihren Geist und Körper zum Sultan und wünschen sich nichts sehnlicher als unter ihrem Kalifen vereinigt zu werden.“
Osmanische Offiziere bildeten in Kashgar und Ush Turfan die Soldaten Yakub Beys aus, die sie auch beim chinesischen Überfall auf Kashgar (1877) persönlich anführten. Den Offizieren unterstanden undisziplinierte Soldaten, die sich weigerten, sich militärischen Neuerungen zu unterwerfen. So kritisierte Ismail Hakki Efendi die Zustände wie folgt: „Der osmanische Sultan, Gottes Schatten auf Erden, hat uns hierher geschickt um euch zu unterstützen und unser Bestes für eure Erziehung und Reformierung der Armee zu geben. Wir sind darum bemüht und entschlossen, dem Islam mit Seele und Körper zu dienen, aber ab diesem Tag ziehen wir uns ins Haus zurück und werden nichts Dergleichen tun. Wenn wir uns nicht verpflichtet fühlten, den Islam zu stärken, so würden wir wieder in unser Land zurückkehren.“ 10.000 Mann, unter dem Befehl von Yakub Bey und seinen osmanischen Offizieren, standen einer chinesischen Armee aus ca. 30.000-40.000 Mann gegenüber.
Aufgrund der mangelnden Disziplin der Soldaten wurden die Uiguren vernichtend geschlagen. Yakub Bey fiel im Kampf und die osmanischen Offiziere gerieten mit weiteren tausend Soldaten in chinesische Gefangenschaft. Nach fünfmonatiger Haft konnten sie nach Konstantinopel zurückkehren. Das Reich des Yakub Bey wurde durch die Chinesen besetzt und endgültig dem Qing-Reich einverleibt. Sein ältester Sohn Beg Quli flüchtete mit einigen Getreuen in die Berge. Er verfasste eine Bittschrift an den Sultan, in der er Unterstützung für die Wiederherstellung seiner Autorität ersuchte. Aus Konstantinopel erfolgte jedoch keine Antwort, da der Osmanisch-Russische Krieg (1877/78) das Reich der Osmanen stark schwächte.
1880 begab sich Beg Quli höchstselbst nach Konstantinopel und ließ Sultan Abdülhamid II. eine lange Petition von einem uigurischen Offizier überbringen, in der er nochmals Unterstützung für einen bewaffneten Kampf gegen die Chinesen ersuchte und auf sein von Sultan Abdülaziz gegebenes Recht plädierte. Beg Quli wartete vergeblich auf eine Audienz und verließ 1881 schließlich das Osmanische Reich.
Als das Reich der Sultane im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Türkischen Republik unterging, erfolgte 1924 schließlich die Ausweisung der osmanischen Herrscherfamilie. Auch Prinz Abdülkerim Efendi, ein Enkel des osmanischen Sultans Abdülhamid II., wurde aus der neuen Republik verbannt und ließ sich zuerst in Damaskus nieder. Er wanderte 1931 nach Paris aus. Anfang der dreißiger Jahre kam Abdülkerim mit dem Verleger Muhsin Capanoglu in Kontakt, der wiederum in engem Kontakt zum japanischen Generalkonsulat in Paris stand.
Japan besetzte 1932 die chinesische Mandschurei, um dort einen Satellitenstaat unter dem chinesischen Ex-Kaiser Pu Yi zu errichten, der zuvor durch Republikaner gestürzt und verbannt wurde. Zeitgleich bereiteten die Stämme in Ost-Turkestan einen Aufstand vor, um sich endgültig von der chinesischen Zentralmacht zu befreien. Da das Osmanische Reich schon in den 1870er Jahren die Muslime Zentralasiens im Kampf gegen das Qing-China militärisch unterstützte, erhoffte sich nun Japan, dass unter der Führung eines osmanischen Prinzen ein neues Reich geschaffen werden könnte, um China weiterhin zu schwächen.
1933 reiste Abdülkerim Efendi mit seinem Cousin Prinz Mehmed Orhan Efendi und Muhsin Capanoglu über Indien, Singapur nach Kobe (Japan) und wurde dort vom japanischen Kaiser und Militärs feierlich empfangen. Die internationale Presse beschäftigte sich intensiv mit der Reise des Prinzen Abdülkerim Efendi nach Japan, sodass sich selbst die Regierung der türkischen Republik einschaltete um herauszufinden, was der Grund für diese Reise sein könnte, die von der japanischen Regierung kurzerhand als „Urlaub“ bezeichnet wurde. Zusammen mit dem Prinzen Ichijo und dem Generalleutnant Kikuchi Takeo, Mitglieder des japanischen Hochadels, bereiste Abdülkerim Japan.
Zeitgleich gründete in Ost-Turkestan der religiöse Anführer Hoca Niyaz Haci die „Türkisch-Islamische Republik Ost-Turkestans“ und die japanische Regierung rief eine Propaganda-Kampange ins Leben, die für die Person Abdülkerims warb. Er selbst bezog eine Villa in Shanghai. Als der Aufstand der Muslime im April 1934 durch den chinesischen General Sheng Shicai mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen und die Republik Ost-Turkestan besetzt wurde, organisierte Abdülkerim in Kobe eine Konferenz zur „Gründung eines islamischen Königreichs“, an der Uiguren, Tataren, Türken, Kirgisen und andere Völker Zentralasiens teilnahmen.
Der Traum von einem neuen osmanischen Sultanat im Herzen Zentralasiens blieb jedoch unerfüllt. Der Versuch der japanischen Armee, nach Zentralasien vorzustoßen, misslang. Die japanische Regierung erklärte ihr Vorhaben, Abdülkerim zum Sultan zu erheben, für gescheitert und entzog ihm somit jede Unterstützung. Um chinesischen und sowjetischen Attentätern zu entkommen, flohen Abdülkerim und sein Cousin Mehmed Orhan aus Shanghai und schlugen sich mit einem Dampfer nach New York, das sie im September 1934 erreichten.
Am 4. August 1935 meldete die New York Times, dass der Leichnam des 31-jährigen Prinzen im Hotel Cadillac (Manhattan) gefunden worden sei. Der Prinz soll wegen einer Reihe von Schicksalsschlägen Suizid begangen haben. Der Tod von Prinz Abdülkerim beschäftigte mehrere Wochen die internationale Presse. Journalisten deckten immer mehr Details auf, die einen Mord nicht mehr ausschlossen. Wie die Presse berichtete, plante der Prinz einen neuen Versuch, um die osmanische Monarchie zu restaurieren. Das Hotelpersonal will auch mehrere Chinesen am Todestag im Hotel gesehen haben und selbst der sowjetische Geheimdienst soll in den Mord involviert gewesen sein. Die Behörden stellten ihre Ermittlungen ein und legten den Fall zu den Akten, obwohl es weiterhin viele Unklarheiten zu dem vermeintlichen Suizid gab. Abdülkerim, der „Sultan von Turkestan“, fand in Beirut seine letzte Ruhe.
Rasim Marz ist Historiker und Autor. Zu seinen Forschungsgebieten zählen neben der Geschichte des Osmanischen Reiches und seiner Dynastie, die europäische Außenpolitik des 19. Jahrhunderts und der Erste Weltkrieg im Orient. Darüber hinaus ist er Präsident des Ottoman Clubs, des ersten osmanischen Geschichtsvereins in Deutschland.