Als würdest du Ihn sehen..

Foto: Dulkimso Photography

(iz). Wie flach wäre ein Apfel ohne die Dimension der Tiefe? Oder eine Honigmelone. Die Natur um uns, unsere Umwelt, unser Wohnzimmer, unser Schokoriegel – sie alle bestehen aus den drei Dimensionen, die wir gewohnt sind. Sie ergeben damit das vollständige Abbild der Objekte. So nehmen wir sie als real wahr und erfahren sie. Beim menschlichen Charakter sprechen wir aber ebenfalls von „Tiefe“. Gedanken können „tief“ sein, Gedichte, Malereien, Anekdoten und sogar Witze.
Wenn ich über Tasawwuf spreche, mag ich es, dieses Gleichnis zu verwenden, denn es führt uns vor Augen, dass der Islam eine mehrdimensionale Religion ist. Jede dieser Dimensionen ist existenziell für sein Wesen.
In der bekannten Prophetenüberlieferung erscheint der Engel Gabriel (arab. Dschibril) in Form eines Menschen beim Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und stellt ihm Fragen – um dessen Gefährten zu errichten.
Erst fragte er nach dem Islam, den der Gesandte Muhammad mit den fünf Säulen definierte. Er wurde dann nach dem Iman befragt und erwähnte hier sechs Glaubenssätze. Wer diese Prophetenüberlieferung nachlesen möchte, solle beispielsweise in die 40 Hadithe von Imam an Nawawi schauen.
Ich lege den Fokus nun auf das dritte Anliegen Gabriels; „Berichte mir vom Ihsan“, fragte der Engel und erhält folgende hermetische und „tiefe“ Antwort: „Es ist, dass du Gott anbetest, als würdest du Ihn sehen. Denn, auch wenn du Ihn nicht sehen kannst, so sieht Er dich doch.“
Behalten wir diese Erklärung im Hinterkopf. An dieser Stelle machen wir die spannende Entdeckung, dass die islamischen Wissenschaftsdisziplinen – analog zu dieser Überlieferung – strukturiert sind. Im Fiqh behandelt man unter anderem die Frage nach normativer Korrektheit und Gültigkeit der Gottesdienste – zu Beginn vor allem die „fünf Säulen“ –, womit der Bereich des Islams behandelt wäre. In der Wissenschaftsdisziplin der ‘Aqida geht es um die Erörterung der islamischen Glaubenssätze – also des Iman.
Wo ist nun aber Raum für den Ihsan? Vor allem, wie gelingt es überhaupt, aus der gegebenen Antwort eine Disziplin – geschweige denn eine Wissenschaft – zu entwickeln? Worum soll es dabei gehen?
Wir bräuchten nun eine Definition und wollen uns dabei einer sehr ursprünglichen, einer indigenen bedienen: „Tasawwuf ist guter Charakter. Wer dir also zu besserem Charakter verhilft, der verhalf dir zu mehr Tasawwuf“, so lautet sinngemäß eine Definition von Imam Al-Dschunaid . Das erinnert uns natürlich sofort an die Prophetenüberlieferung, die ihrem Sinn nach lautet: „Nichts wiegt schwerer in der Waage als der gute Charakter.“
Wir sehen hier also Ideale formuliert sowie Tugenden wie die Entwicklung und Erhaltung guter Charaktereigenschaften; oder die Anbetung Allahs, als würde man Ihn sehen. Da man Ihn nicht sieht, solle man wissen, dass Er einen sieht. Doch wie kommt man dahin?
Dies sind innere Dimensionen, die in Zeiten einer beschleunigten und hektischen Welt, in der wir uns immer mehr von uns selbst entfremdet haben, unklar erscheinen. Wie wollen wir uns selbst bessern, uns zu besseren Menschen erziehen, wenn wir uns fremd sind? Wie schaffen wir es, unser rituelles Gebet von einer maschinellen Bewegungsabfolge in eine immer wiederkehrende, dynamische und spirituelle Reise zu verwandeln? Egoismus, Gier, Neid und Hass durch Nächstenliebe, Genügsamkeit und Barmherzigkeit zu ersetzen? Im Tasawwuf findet man hierzu eben keine kostenlosen Pauschalantworten, sondern individuelle Wege der Selbsterziehung, die Anstrengung (Dschihad) bedeuten.
Und exakt darum geht es; sich selbst zu „erziehen“. Dabei ist der Begriff der Nafs zentral. Es handelt sich hier um unser Ego, unser Selbst, ja teilweise sogar dem Äquivalent der unserer Psyche. Sie ist Träger unserer Triebe und Neigungen und Islam lehrt uns die Mäßigung in all unseren Trieben und Neigungen, denn nur durch eine Ausgeglichenheit kehrt der Friede in uns ein.
So verhilft uns der Tasawwuf auch dazu und somit wird hier langsam deutlich, was es damit auf sich hat. Tasawwuf ist kein Sufiorden, kein Derwischtanz und keine ekstatische Meditation – auch wenn dies Elemente sein „können“. Er ist dennoch viel pragmatischer als all dies und ebnet einen Weg im Streben nach Gott, der erst durch einen Selbst führt. Denn nur wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn. Und aller Dank und alles Lob gebühren Gott, dem Herrn aller Welten.