An die „Facebook-Schaikhs“

Ausgabe 200

Ich habe einen besonderen Ratschlag für die jungen Brüder und Schwestern, die sich Wissen aneignen wollen und auf dem Weg in verantwortungsvolle Positionen der muslimischen Community sind. Spezifisch ist mir wichtig, dass sie sich ihre intellektuelle Demut bewahren.

Allah sagt im Qur’an, dass es über jedem, der Wissen hat, noch jemanden anderen gibt, der mehr Wissen hat. Dies ist Allah, der Erhabene. Als ich noch jünger war, und mit meinen Freunden etwas bei einem Vortrag oder ähnlichem lernte, hatten wir das Gefühl, jetzt alles zu wissen. Dann attackierten wir andere Muslime damit und fragten sie, ob sie denn nicht ­diesen oder jenen Qur’anvers beziehungsweise Hadith des Propheten kennen würden.

Wir hatten all diese Referenzen und schmissen sie unserem Debattengegner wie einen Tischtennisball an den Kopf. Es hat manchmal den Eindruck, als ­würde man sich solche Informationen nur aneignen, um andere in Diskussionen zu schlagen und vorzuführen. Dieser Zugang zum Wissen steigert nicht die eigene Bescheidenheit, sondern vermindert sie. Es ist die Eigenschaft moderner Menschen, dass sie sich bilden, um dem Namen einen Titel voranstellen zu können.

Das Wissen vom Din des Islam muss aber so sein, dass seine Zunahme zu mehr Demut führt. Aber wenn durch die Zunahme des eigenen Informationsstands auch die eigenen Vorurteile zunehmen (wie „dieser Gelehrte hat sich geirrt“, „jener ist vom rechten Weg abgekommen“ etc.), stellt sich die Frage, ob man überhaupt etwas weiß. Kaum jemand aus unserer Generation hat das Wissen oder die Qualifikation, seine Meinung über die Imame oder die Älteren in unserer Community zu äußern, oder gar eine Fatwa abzugeben.

Als Student des Qur’ans bin ich ein Anfänger. Ich muss 28 oder 29 Qur’ankommentare lesen, um überhaupt ein grundlegendes Verständnis des entsprechenden Verses zu bekommen. Handelt es sich aber um Hadithe des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, halte ich meinen Mund. Warum? Weil mir die Qualifikation fehlt, ­darüber zu sprechen.

Um die richtigen Lehren aus einer Aussage des Propheten ziehen zu können, ist viel Wissen nötig (von Fragen der Überliefererkette, über den Kontext einer Aussage bis zur Mehrheits­meinung der Gelehrten). Einfach nur das Sahih Al-Bukhari (die bekannteste Sammlung prophetischer Aussagen) in die Hand zu nehmen und damit zu ­argumentieren, tut der prophetischen Lebensweise (der Sunna) Unrecht.

Viele Jugendliche verstehen noch nicht einmal die arabische Sprache, sondern benutzen eine Übersetzung. Als Studen­ten zu Imam Asch-Schafi’i kamen, um bei ihm Hadithe zu studieren, sagte er: „Was mich am meisten ängstigt, ist ein Student des Wissens, der nicht genug Verständnis von Sprache, Satzbau und Grammatik hat.“ Wer sagte dies? Imam Asch-Schafi’i, der ein Drittel seines Vermögens ausgab, um Arabisch zu studieren, und die restlichen zwei Drittel, um die Hadithe zu lernen. Am Ende sagte er: „Ich ­wünschte, ich hätte die restlichen zwei Drittel auch für das Arabische ausgegeben.“

Nur weil man ein Lehrbuch des Arabischen liest und einen wöchentlichen Arabischkurs belegt, ist man nicht quali­fiziert, ein Hadith des Propheten zu kommentieren. Ich bin es nicht und die meisten von uns sind es auch nicht. Es ist die Aufgabe der Gelehrten und – insbesondere – der Muhaddithun [Hadithgelehrte], dies zu tun. Einen Text oder den Auszug eines Buches zu lesen, um dann deren Inhalt an einer anderen Person an den Kopf zu knallen, ist absurd.

Man muss sehr vorsichtig sein, im Namen des Propheten, Allahs Frieden auf ihm, zu sprechen. Ich sage jungen Muslimen: „Ihr glaubt, dass euer Wissen tief geht. Aber das ist nicht der Fall! Seid bescheiden gegenüber den Leuten des Wissens!“ Allah sagt im Qur’an: „Fragt die Leute des Wissens, wenn ihr selbst keine Kenntnis habt.“ Die Aussage von Imam Asch-Schafi’i geht noch weiter.

Das Arabische ist nur eine von mehreren Bedingungen. „Wenn ihr dies nicht beherrscht, fürchte ich, dass ihr Opfer der Warnung des Propheten werdet: einen Platz im Feuer gesichert.’“ Der Imam zögerte, diesen Leuten – die ja Araber waren – ein Hadith zu lehren. Er sagte: „Nein, ihr sprecht nicht gut genug Arabisch. Ich kann euch nicht unterrichten.“

Und hier sind wir, die ein Hadith – auf Englisch! – googeln. Wir wissen nichts über seinen historischen Kontext und fühlen uns dazu berechtigt, den Inhalt der Sunna zu kommentieren. Dies ist arrogant und kein Dienst an unserer Reli­gion. Die jungen Muslime sollten sich hier nicht selbst täuschen.

Ist man jung, erscheint die Welt als schwarz und weiß. Alles wirkt sehr klar und man stellt sich die Frage: „Wie kann jemand eine andere Meinung haben als ich?“ Hoffentlich erkennen die meisten von uns, wenn sie ein bisschen älter werden, wie dumm sie damals waren. Es ist besser, dies jetzt zu erkennen, bevor man den Karren an die Wand fährt und andere verletzt. Ich war früher auch so, bevor ich von echten Menschen des Wissens lernte. Fragen mich die Leute heute nach Fiqh oder der Sunna, lautet meine Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Wollen sie etwas über den Qur’an von mir wissen, sage ich: „Ich schaue mal nach, was die Gelehrten darüber geschrieben haben.“

Manche von uns glauben, sie wären tatsächlich qualifiziert, über theologische Fragen zu debattieren. Jede einzelne Wissenschaft des Dins hat Vorbedingungen, die wir – noch – nicht erfüllt haben. Wer sich Wissen aneignet, um mit anderen zu streiten, sollte seine Motive ­schleunigst in Frage stellen. Wir können unsere Arroganz vor jedem verbergen, nur nicht vor Allah!

Ein letzter Rat noch: Sprecht nicht schlecht über die Gelehrten früherer Zeiten. Die Leute des Wissens beten für sie, weil sie nicht wissen, welchen Rang diese ‘Ulama bei Allah haben. Wir wissen in dieser Hinsicht nichts von einem Gelehrten, der bereits verstorben ist. Auch haben wir keine Ahnung, welche wirklichen Fehler ihnen Allah bereits vergeben hat. Dies sind Diener Allahs und Allah verlangt von uns, demütig gegenüber den Gläubigen zu sein.

Wenn uns jemand mit „Salam (Frieden)“ grüßt, reicht dies aus anzunehmen, dass er oder sie Muslim ist. Heutzutage ist bei vielen der Zweifel eingezogen, ob derjenige, der einem den Friedensgruß entbietet, vielleicht fehlgeleitet sei, oder ob man hinter ihm beten kann.

Wir können nur darum beten, dass ­Allah uns intellektuelle Bescheidenheit gibt und unseren Gelehrten die Stärke verleiht, uns diese Demut zu lehren. Wir müssen echte Suchende des Wissen werden und erkennen, wann es besser ist zu schweigen.

Nouman Ali Khan lebt in Großbritannien und hat sich insbesondere der religiösen Bildung junger Muslime verschrieben.