, ,

„Anonym und aus muslimischer Hand über Probleme sprechen können“

Ausgabe 281

Foto: MuTeS

(iz). Es ist einer der letzten sonnigen Tage in diesem Oktober. Wir sitzen mit Mohammed Imran Sagir in den Räumlichkeiten von MuTes, der Muslimischen TelefonSeelsorge. Der Geschäftsführer des seit mehr als zehn Jahren bestehenden Seelsorgeprojektes führt in die Motivation, die Notwendigkeit und die Inhalte der mehr als acht Dutzend ehrenamtlichen Telefonseelsorger ein. MuTeS leistet einen wich­tigen Beitrag für die überwiegend muslimischen Hilfesuchenden, die in ihren sonstigen sozialen Zusammenhängen keine Möglichkeit für ein offenes Gespräch sehen
Islamische Zeitung: Wann wurde MuTeS gegründet und aus welcher Idee heraus ist das Projekt entstanden?
Imran Sagir: Der Träger ist Islamic Relief Deutschland. Als Idee begann es 2006. Damals entstand auf einem Kongress ein Kontakt zwischen einem Vertreter von Islamic Relief und einem der kirchlichen Telefonseelsorge. Diese hatten die Absicht, einen türkischsprachigen Dienst anzubieten, was nicht klappte, da sich kein adäquater Partner für die kirchliche Telefonseelsorge fand. Über dieses Treffen gab es dann einen Kontakt zwischen Islamic Relief, dem Kirchenvertreter sowie dem Geschäftsführer der kirchlichen Telefonseelsorge. Man hat über das Thema der Telefonseelsorge gesprochen und Islamic Relief war dafür offen. Allerdings hat man gesagt, man wolle keinen türkischen Dienst, sondern einen muslimischen, was den Partnern einleuchtete.
Die Idee nahm ihren Gang. Natürlich mussten im Verlauf ihrer Formulierung auch relevante Gremien wie die Diakonie und die Caritas, Hauptträger des Projekts in Berlin, mit ins Boot genommen werden. Sie wurde auch in den verschiedenen Kirchengremien besprochen. Das ging bis zur Bischofskonferenz. Auch bei Islamic Relief wurde es durch die verschiedenen Ebenen bis zum Weltaufsichtsrat hinauf erörtert (weil es hier um ein Projekt außerhalb des eigentlichen Arbeitsschwerpunktes von Islamic Relief ging). Die kirchliche Seite fragte sich natürlich, mit dem sie es zu tun habe, und ob es sich bei Telefonseelsorge um etwas exklusiv Christliches handle. Bei Islamic Relief ging es eher darum, was das Projekt für das eigene Selbstverständnis bedeuten würde.
Dieser Diskussionsprozess dauerte einige Zeit. In der Projektfindungsphase wurde ich ca. 2007 angesprochen, ob ich Interesse an einem ehrenamtlichen Mitmachen habe. Ich fand das auch toll, da ich bereits zuvor in der Jugendarbeit informell mit dem Themenbereich zu tun hatte. Ich habe ein Jahr lang nichts weiter gehört und mich dann aus Interesse noch einmal erkundigt, ob es Probleme gäbe. Da hieß es „nein“ und man sei kurz davor, nur suche man jemanden als Geschäftsführer. Ich bewarb mich auf die Stelle, da mich das interessierte. Im Dezember 2008 bin ich in der Funktion eingestellt worden.
Geschaltet wurde die Hotline der Seelsorge bereits im Mai 2009. Das heißt, das halbe Jahr zwischen beiden Daten war sehr intensiv. Ich habe mich einen ganzen Monat nur belesen. Diejenigen, die das Projekt bei Islamic Relief entwickelten, hatten sich schon mit dem Thema beschäftigt, aber für mich war es vollkommen neu. Dazu gehörten die Beschlüsse der relevanten Dachverbände und Konferenzen. Zeitgleich habe ich über meine eigenen Kontakte Leute angesprochen, ob sie vielleicht mitmachen wollten, was damals sehr gut funktionierte. Mitte Februar 2009 begann die nötige Ausbildung, die wir Mitte April 2009 beendeten. Im Vergleich: Heute benötigen wir für die gleiche Schulung ein halbes Jahr. Gott sei Dank hat das sehr gut geklappt, die Kooperation war beschlossen. Sie betraf weitestgehend die Themen Ausbildung, Knowhow-Transfer, Öffentlichkeitsarbeit etc. Auf dieser Grundlage läuft das Projekt.
Islamische Zeitung: Welchen Umfang hat das Projekt mittlerweile?
Imran Sagir: Damals haben wir mit 24 Leuten die Ausbildung abgeschlossen. Das war sehr umfangreich. Heute agieren wir mit etwa 16 Personen im Kurs. Im November beginnen wir inscha’Allah mit dem 11. Ausbildungslehrgang. Es gibt natürlich immer eine gewisse Fluktuation, aber zur Zeit haben wir rund 80 Telefonseelsorger und -seelsorgerIinnen. Selbstverständlich haben wir mehr ausgebildet; manche aber haben die Stadt verlassen oder wollten nach drei Jahren etwas anderes machen. Wegen dem relativ jungen Altersdurchschnitt haben einige Telefonseelsorgerinnen auch aufgrund Mutterschaft aufgehört. Mittlerweile habe nicht nur ich hier eine Vollzeitstelle. Es gibt auch einen Mitarbeiter, der 30 Stunden pro Woche das Büro leitet. Darüber hinaus beschäftigen wir noch Honorarkräfte sowie Minijobber, die andere Aufgaben bei uns übernehmen.
Islamische Zeitung: Die eigentliche Seelsorge findet aber ehrenamtlich statt?
Imran Sagir: Ja. Das passiert ehrenamtlich. Wir von der Geschäftsführung des Seelsorgetelefons machen ebenfalls Dienst. Ich bilde die Ehrenamtlichen auch aus – mit den KollegInnen von der kirchlichen Telefonseelsorge beziehungsweise mit den Honorarkräften aus dem kirchlichen Bereich. Momentan haben wir bei den Ausbildern und Ausbilderinnen eine Parität. Dabei können die kirchlichen Fachkräfte auf Jahrzehnte der Erfahrung zurückgreifen. Es ist uns wichtig, dass die Personen der Geschäftsführung auch ausgebildet sind und Dienste vollziehen. Wir wollen nicht, dass hier eine gewisse Kluft entsteht. Mittlerweile haben sich auch andere Bereiche der Seelsorge aufgetan.
Islamische Zeitung: Jenseits des Telefons?
Imran Sagir: Genau. Wir leisten unseren Beitrag bei der Gefängnisseelsorge. Und wir haben eine eigene Notfallseelsorge aufgebaut.
Islamische Zeitung: Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Imran Sagir: Dabei geht es beispielsweise um Situationen, bei denen die Polizei Todesnachrichten überbringen muss. In dem Fall gibt es ein eigenes System, bei dem die Helfer informiert werden. Hierfür gibt es acht Träger. Wir nehmen als achter Partner daran teil. Darunter sind beispielsweise die beiden großen Kirchen oder das DRK. Da die Beteiligten nicht notwendigerweise religiös sind, heißt das Angebot auch Krisenintervention. Wenn es eine Alarmierung wie eine Todesnachricht oder einen Unfall gibt, lösen Feuerwehr oder Polizei über die zentrale Notfallseelsorge eine Alarmierung aus. Die erste ist allgemein. Auf die kann man reagieren, wenn man den Einsatz – mit Weste und Rucksack – übernehmen möchte. Und es gibt eine spezielle, wenn beispielsweise Muslime betroffen sind.
Islamische Zeitung: Offenkundig gibt es ja einen Bedarf nach dem Angebot von MuTeS, das Moscheegemeinden so in der Regel nicht leisten können. Wie sieht dieses Bedürfnis Ihrer Meinung nach aus’?
Imran Sagir: Erst einmal gab es ja die Anfrage seitens der kirchlichen Telefonseelsorge. Sie hatte festgestellt, dass sie nicht alles abdecken konnte. Dabei stand auch die Sprachfrage im Raum, obwohl wir hauptsächlich auf Deutsch Gespräche führen. Auf Nachfrage sind andere Sprachen möglich, wenn Kollegen und Kolleginnen das anbieten möchten.
Grundsätzlich geht es darum, anonym und aus muslimischer Hand seelsorgerisch (nicht theologisch!) über Probleme sprechen zu können, die einen gerade beschäftigen oder belasten. Moscheegemeinden können das sicherlich bis zu einem gewissen Grad auch leisten, aber spezifische Expertisen und Methodiken sind dort nicht gegeben. Wir haben übrigens auch Imame in der Telefonseelsorge ausgebildet, die sich dann sehr über dieses Rüstzeug gefreut haben. Und sie meinten, dass eine Verankerung seelsorgerischer Elemente in ihrer Ausbildung begrüßenswert sei. Denn es geht nicht nur darum, über das Was zu sprechen, sondern auch um das Wie.
Islamische Zeitung: Welche Problemfelder werden denn von den Anrufenden bei Ihnen am häufigsten angesprochen?
Imran Sagir: Am häufigsten geht es sicherlich um zwischenmenschliche Beziehungen – seien es partnerschaftliche, familiäre, kollegiale oder nachbarschaftliche. Dabei gibt es aber häufig Anlässe, anhand derer die Themen aufkommen. Es gibt aber natürlich auch weitaus gravierendere Probleme wie Drogen oder häusliche Gewalt. Hier ist die ganze Palette vorhanden.
Zur Anführung muss ich sagen, dass Telefonseelsorge im Nachkriegseuropa durch einen massiven Anstieg von Selbstmordraten hervorgebracht wurde. In England hat dann ein Pfarrer namens Bell die Idee mit den Worten bekanntgemacht: „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie uns an!“ Sie begann also als Suizidprävention. Das Selbstverständnis der Telefonseelsorge ist, hier ein Gespräch über Themen zu ermöglichen, über die man sich andernfalls nicht zu sprechen traut. Man kann bei uns anfragen, das Gespräch suchen, und so den Mut fassen, um vielleicht eine Beratungsstelle aufzusuchen. Oder es lassen sich erst einmal die Gedanken sortieren.
Wir sind keine Ratgeber, sondern begleiten das Gespräch. Wir werfen Fragen auf. Wir versuchen auch, einen Austausch herzustellen. Wir geben manchmal eine Idee in das Telefonat hinein, die dann diskutiert werden muss, ob die anrufende Person etwas damit anfangen kann.
Manchmal geht es auch um Einsamkeitsbegleitung. Das sind Menschen, die wirklich vereinsamt sind. Oder es sind solche, die in ihrer Thematik einsam sind. Das heißt, sie haben niemanden, mit dem sie über das reden können, was sie bewegt.
Islamische Zeitung: Oder weil es mit einem Tabu belegt ist…
Imran Sagir: Genau. Das größte Oberthema ist Einsamkeit. Ruft jemand bei uns an, dann heißt das, die Person kann sich jetzt erst einmal nicht direkt an ihr Umfeld wenden. Oftmals können wir die Menschen ermutigen, dass ein Gespräch, wenn auch nicht immer unbedingt schön oder angenehm, nicht so unmöglich ist, wie es den Anschein hat.
Islamische Zeitung: Haben sich die Phänomene beziehungsweise die Anlässe für die Anrufe bei Ihnen verändert?
Imran Sagir: Es gibt natürlich Nuancen, die sich wandeln. Gerade bei der muslimischen Community gibt es gewisse Verunsicherungselemente wie beispielsweise die öffentlichen Debatten. Wir merken, dass diese auftreten als vor zehn Jahren. Andererseits ist der Mensch im gewissen Sinne eine Konstante. Da wird sich nicht dramatisch viel ändern. Natürlich haben wir auch mit Klischee-Themen wie Zwangsheirat zu tun. Hierbei gibt es allerdings recht gute Versorgungssysteme, sodass es bei uns nicht so häufig aufkommt.
Islamische Zeitung: Unterscheiden sich die Themen oder die Anrufe beispielsweise bei Geschlecht, Herkunft oder Altersgruppe?
Imran Sagir: Durch unsere hauptsächlich deutschsprachige Werbung haben wir ein gewisses Klientel. Mehrheitlich sind die AnruferInnen zwischen 20 und 40. Dadurch sind die meisten in Deutschland sozialisiert. Je nachdem, woher die Leute ursprünglich herkommen, gibt es eine besondere kulturelle Note, wenn es sich um Personen mit migrantischem Hintergrund handelt.
Uns rufen aber auch Nichtmuslime an – nicht viele, aber es sind mit Sicherheit zwischen 5 und 10 Prozent. Größtenteils handelt es sich dabei um Menschen, die entweder in irgendeiner Weise mit Muslimen in Beziehung stehen. Oder sie rufen gezielt bei uns an, weil sie mit jemand anderem sprechen möchten. Wegen des anderen Bezugsrahmens entstehen dabei manchmal interessante Gespräche, obwohl die Methodik die gleiche ist.
Wir können sagen, dass wir uns in Hinblick auf eine Thematik deutlich von der kirchlichen Telefonseelsorge unterscheiden. Die alte vereinsamte Frau oder der einsame Mann, deren Kinder weggezogen sind oder die kinderlos blieben, kommt bei uns sehr selten vor. Das kann an mehreren Faktoren liegen: Zum einen gibt es diesen Fall noch nicht so sehr in der muslimischen Community. Zum anderen hätte diese Klientel, wenn sie betroffen wäre, sprachliche Schwierigkeiten mit einem Anruf bei uns. Warum sollten sie außerdem bei uns anrufen? Viel eher suchen sie jemanden in der Gemeinde oder in ihrem Verein auf, mit dem sie Kontakt suchen.
Sicherlich kann man sagen, dass Religion bei uns eine deutlich größere Rolle spielt. Nicht, dass sie immer angesprochen wird. Sie liefert aber einen der Kontexte. Wenn jemand mit einem albanischen oder nordafrikanischen Hintergrund anruft, dann kann ich die einzelnen kulturellen Traditionen gar nicht kennen. Der oder die Anrufende gibt mir aber einen gewissen Vertrauensvorschuss, weil er vermutet, dass ich wahrscheinlich Muslim bin und einen migrantischen Hintergrund habe. Die Personen können davon ausgehen, dass daher ein Grundverständnis vorhanden ist und dass sie sich für bestimmte Gedanken nicht rechtfertigen müssen. Grundsätzlich ist das sicherlich ein großer Unterschied.
Islamische Zeitung: Werden die Anrufenden je nach Anliegen etc. „vorsortiert“ oder landen sie bei einem freien Platz?
Imran Sagir: Man braucht rund 80 ehrenamtliche Telefonseelsorger und -seelsorgerinnen, um eine Leitung 24 Stunden am Tag bedienen zu können. Denn es gibt Ehrenamtliche, die gerade nicht können etc. Sie sind verpflichtet, jeweils drei Schichten à vier Stunden im Monat zu arbeiten. Dann geht es ungefähr auf. Wir haben tatsächlich nur eine Leitung.
Islamische Zeitung: Wenn also beispielsweise eine Frau mit einem spezifischen Anliegen anruft, wird sie nicht automatisch mit einer Frau verbunden?
Imran Sagir: Nein. Die Seelsorge arbeitet ja anonym. Manchmal gibt es Frauen oder Männer, die mit dem eigenen Geschlecht sprechen wollen. Wir können ihnen sagen, wann ungefähr jemand kommt, der ihrer Präferenz entspricht. Wir sagen ihnen aber gleichzeitig auch, dass der Anruf anonym ist und sie mit uns sprechen können. Manchmal ist es sogar besser. Hat beispielsweise ein Mann gerade Schwierigkeiten mit der Ehefrau, kann das Telefonat mit einer Frau auch sehr gut sein.
Mittelfristig möchten wir zu bestimmten Zeiten zwei Leitungen freischalten. Technisch wäre das möglich. Aber dafür braucht es entsprechend viele Leute.
Islamische Zeitung: Die AnruferInnen kommen nicht nur aus Berlin, sondern dem ganzen Bundesgebiet?
Imran Sagir: Theoretisch können sie weltweit bei uns anrufen, was sogar manchmal auch passiert.
Islamische Zeitung: Bekommt MuTeS auch mal von anderen Stellen, wenn man eine Person an eine Beratungsstelle vermittelt, eine Rückmeldung?
Imran Sagir: Nein. Das ist das große Problem der Anonymität. Manchmal gibt es Einzelne, die sich per Email oder telefonisch melden, um sich zu bedanken oder uns ein Feedback zu geben. Wir haben täglich 15 bis 20 Anrufer. Im äußersten Fall melden sich jährlich zehn Anrufer bei uns zurück. Wir kommen ungefähr auf 5.500 Anrufer jährlich.
Islamische Zeitung: Wird gezielt unter bestimmten Berufsgruppen nach SeelsorgerInnen gesucht?
Imran Sagir: Nein. Wir sind keine Therapeuten. MuTeS sucht ganz allgemein. Bei uns soll sich auch die Gesellschaft abbilden. Klar haben wir auch Akademiker und Akademikerinnen unter uns. Es ist aber nicht so, als wäre das eine Voraussetzung, um beim Seelsorgetelefon mitzumachen. Die Leute werden ausgebildet, sollen mitten im Leben stehen und stabil sein.
Islamische Zeitung: Lernen die Ehrenamtlichen bei ihrer Ausbildung auch Mechanismen, wie sie die Erfahrungen bei den Telefonaten verarbeiten können?
Imran Sagir: Ja es geht in der Ausbildung auch um die Themen Nähe und Distanz und die Unterscheidung von Empathie und Identifikation. Außerdem haben sie in der Zeit nach der Ausbildung neben den verpflichtenden drei Diensten auch die Pflicht, monatlich eine Supervisionsgruppe zu besuchen. Jede/r ehrenamtlich Tätige hat alle Telefonnummern von den jeweiligen Ausbildern, den er oder sie konsultieren können. Darüber hinaus können sie auf die Nummern anderer Ehrenamtlicher zurückgreifen. Auch bei mir oder meinem Mitarbeiter können sie sich 24 Stunden am Tag melden. Wenn es etwas gibt, das sich nicht so leicht verarbeiten lässt, stehen wir zur Verfügung.
Islamische Zeitung: Wäre es ignorant zu sagen, die Mehrheit der HelferInnen seien weiblich?
Imran Sagir: Na ja, das hat sich im Laufe der Jahre so herauskristallisiert. Derzeit haben wir ein Verhältnis von 60 Prozent Frauen und 40 Prozent Männern. Man muss dazu sagen, dass Männer grundsätzlich weniger geneigt sind, über ihr Inneres zu sprechen.
Eine Entsprechung haben wir bei den AnruferInnen. Hier ist das Zahlenverhältnis ungefähr das gleiche. Frauen sind hierbei sensibilisierter, dass sie sich Hilfe holen können. Viele Männer meinen, sie müssten das mit sich selbst ausmachen. Sie rufen nicht selten dann in einer Phase an, in der kaum noch etwas zu retten ist. Sie sind dann oft in einem Stadium, in welchem das Ganze für sie kaum noch zu handhaben ist. Frauen rufen relativ früh an.
Islamische Zeitung: Muslimische Therapeuten und Psychologen beklagen unter anderem, dass es unter Muslimen bei psychischen und ähnlichen Problemen häufig eine „Kopf Hoch“-Mentalität gebe und dass man sich doch mal zusammenreißen müsse. Gibt es da Ihrer Meinung nach ein Manko, nichtmaterielle oder -physische Probleme nicht ernst genug zu nehmen?
Imran Sagir: Ja, das ist deutlich. Man muss sagen, dass unter Muslimen das Verständnis für solche Fragen wächst. Aber grundsätzlich werden 2-3 Ansätze bevorzugt. Erstens, wird gesagt, es handle sich um eine Glaubensschwäche, die durch Qur’anlesen usw. zu lösen sei. Es guter Muslim könne demnach beispielsweise gar nicht depressiv sein. Man muss daran erinnern, dass es ein Krankheitsbild ist, das zum Beispiel bei einer Frau durch eine Geburt ausgelöst werden kann. Zweitens, gibt es tatsächlich diese „Kopf Hoch“-Mentalität. Das mag ja richtig sein, erklärt aber eben nicht alles. Und schließlich gibt es die Vorstellungen von der Welt der Dschinn etc. Alle drei Erklärungsmuster können ihren Anteil haben, sind aber eben nicht alles.
Hier kommen wir ins Spiel. Über unsere Medienkanäle teilen wir beispielsweise relevante Artikel zum Thema. Wir möchten hierzu sensibilisieren und zeigen, dass es eine Welt gibt, in der das Therapeutische wichtig wird. Wir beginnen auch mit Vernetzungen zu relevanten muslimischen Therapeuten und Psychologen.
Islamische Zeitung: Faszinierend an MuTeS ist ebenso, dass es sich dabei um einen kultur- und herkunftsübergreifenden Ansatz handelt. Gibt es das Gefühl, hier Vorreiter zu sein?
Imran Sagir: Ja. Wenn man sich beispielsweise unsere Mitarbeiter anschaut, ist das tatsächlich so. Die Vielfalt betrifft nicht nur die Herkunft, sondern auch innermuslimische Strömungen. Das liegt sicherlich daran, dass Islamic Relief als unser Träger ebenfalls übernational ist. So hatten wir andere Startvoraussetzungen, aus denen wir heraus agieren konnten. Wir hatten seit der ersten Ausbildung eine kunterbunte Truppe.
Islamische Zeitung: Abschließend gefragt, gibt es weitere Pläne und Wünsche für die Zukunft?
Imran Sagir: Wir überlegen derzeit, welche weiteren Schritte wir gehen wollen. Überlegungen gehen unter anderem in Richtung eines muslimischen Beratungszentrums, das auch das Angebot der Ehe-, Lebens- und Familienberatung machen soll. In dem Fall dann auf direkter, zwischenmenschlicher Ebene.
Wir sind mit unserer Expertise – in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen – dabei, einen Krankenhausbesuchsdienst im Klinikum Neukölln aufzubauen. Solche Sachen spielen auch noch eine Rolle. Natürlich ist die Telefonseelsorge unser Hauptschwerpunkt, den wir auch weiterhin ausbauen wollen. Wir möchten aber darüber hinaus die anderen Bereiche entwickeln. Vielleicht ergibt sich dort ja noch mehr. Bei der Gefängnisseelsorge beispielsweise sind wir nicht alleine. Das machen wir auch mit anderen Verein zusammen.
Islamische Zeitung: Lieber Mohammad Imran Sagir, wir bedanken uns für das Gespräch.