„anyone, anytime, anywhere“ oder Grenzen fallen. Werden auch wir zu Überwachern?

„Eine bedenkliche Form der Machtausübung ist heute die verbreitete und vor allem akzeptierte Anwendung diverser Assoziationstechniken – gerade in den sozialen Medien. Der Andersdenkende wird dabei per Assoziationsketten mit dem ‘Bösen’ in Verbindung gebracht.“

(iz). Die NSA lässt bezüglich ihrer Gründlichkeit keine Fragen offen. Die „New York Times“ veröffentlichte inzwischen ein weiteres Snowden-Dokument mit einem „Vierjahresplan“ der gruseligen Sicherheitsbehörde. Grundsätzlich sollen praktisch alle im Netz verfügbaren Daten unabhängig vom Ort erhoben werden und die erhobenen Datenmassen dann mit mathematischer Logik gefiltert werden. Welche Bücher man liest, welche Freunde man hat und in welche Moschee man geht, ergeben dann eine „Erwartungsprognose“ und natürlich auch die Einschätzung der potentiellen Gefährlichkeit des Objektes. Die gute Nachricht lautet: Wer eh unpolitisch ist, die BILD liest, keine erkennbare Religion hat und ab und zu nach Mallorca reist, hat auch weiterhin nichts zu befürchten.

Das Thema nimmt ein altes Motiv der „Islamischen Zeitung“ auf, das zu Beginn des Einsatzes unserer damaligen Wortschöpfung belächelt wurde: der private Verfassungsschutz. Wir hatten mit dem Wort eine Art institutionalisierten „Journalismus“ beschrieben, der sich durch wenig Recherche, zahlreiche Verschwörungstheorien und intimer Nähe zu den Sicherheitsbehörden auszeichnet.

Das alleinige Ziel dieses Treibens und des „Agitieren mit Tatsachen“ (nach DDR-Vorbild) ist: die Diskreditierung des Gegners. Heute ist das Phänomen der „privatisierten Dienste“ praktisch nicht mehr zu ignorieren. Ein Journalismus, der nicht mehr prüft und abwägt, sowie auch einige Berichte der VS-Ämter selbst, setzen dabei schon länger auf die Logik der Suchmaschinen. Das heißt, es geht nicht mehr um nachvollziehbare Inhalte, sondern um die Verknüpfung des „Feindes“ mit möglichst vielen negativen Attributen. Das Prinzip des „guilty by association“ (schuldig durch die Erstellung von Verknüpfungsketten) ist zu einem der wichtigsten, nicht justiziablen Instrumente gegen den Andersdenkenden geworden. Die Gesellschaft spielt mit.

Eine bedenkliche Form der Machtausübung ist heute die verbreitete und vor allem akzeptierte Anwendung diverser Assoziationstechniken. Gerade in den sozialen Medien. Der Andersdenkende wird dabei mit Hilfe von Assoziationsketten mit dem „Bösen“ in Verbindung gebracht – Suchmaschinen, NSA und privater Verfassungsschutz sorgen für Verbreitung und erledigen so den Rest. „Grüne = Pädophile“, „Muslime = Terrorismus”, „AfD = Rechtspopulismus“, „Heidegger = Rektorat“ – jeder kann Assoziationen zu Lasten des Gegners im anderen Lager bilden, anwenden und mit seiner großen oder kleinen Markierungsmacht einen entsprechenden „Verdacht“ streuen. Nur, wer über entsprechenden Medienzugang verfügt, kann sich gegen die Assoziationslogik überhaupt noch wehren. Sonst bleibt nur noch die reaktive Möglichkeit fortlaufender öffentlicher Deassoziation. Sätze wie „ich lese Heidegger, ich bin aber kein Nazi” oder ahnliches müssen dann ins Repertoire.

Die Folgen sind erbärmlich. Die brachiale Einordnung der Gesellschaft in politische Lager geschieht auf Kosten echten Austausches und geht einher mit dem Verlust evolutionärer Denkprozesse. Es herrscht Angst. Denn, wenn ich im „Lager“ der Anderen auftauche – und sei es nur um mich zu informieren oder den Gegner für meine ehrbare Position zu gewinnen –, werde ich ebenso assoziierbar wie der Gegner selbst, also verdächtig. Jeder politische Mensch, der einen Inhalt vertritt, wird mit diesen Assoziationsmöglichkeiten zur gefährlichen Spezies.

Es entstehen gewürfelte Kunstfiguren, die mit der Realität der Persönlichkeiten kaum mehr etwas zu tun haben. Logisch, dass so immer mehr über den „Feind“, aber selten mit ihm geredet wird. Oft überlagern die Assoziationen auch schwer die Wirklichkeit. Es erinnert an das alte Spiel „stille Post“, bei dem man sich auf Kindergeburtstagen ein Wort ins Ohr flüstert und am Ende der Kette etwas ganz anderes herauskommt als zu Beginn.

Auch wir Muslime spielen mit. Es kann ja durchaus auch bequem sein, sich im eigenen Lager einzurichten und sonst alle negativen Attribute noch außen zu projizieren. Das altbekannte Motto dieser Dialektik ist klar: Wir sind so gut, weil sie so böse sind! Nur: Auch wenn wir die Figur „Sarrazin“ als so unglaublich rassistisch definieren, sind wir es schon deswegen dann selbst nicht? Wehen auf unseren Moscheen keine Flaggen? Auch im Falle dieses kleinen Mannes gilt natürlich übrigens der Grundsatz Voltaires, der die Maxime einer freien und beweglichen Gesellschaft ist: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst!“

Wir Muslime wissen, dass jede politische Ideologie nicht mit der Lebenspraxis des Islam vereinbar ist. Das Immunsystem funktioniert dabei nicht nur im eigenen Haus. Mit unseren Positionen und Überzeugungen müssen wir uns also weder abschotten, noch vor einer Debatte draußen fürchten. Mit Sarrazin, der AfD, den Grünen diskutieren? Klar, warum auch nicht? Wie sonst, als in der persönlichen Begegnung, sollen wir auch den in allen Parteiungen vorzufindenden „islam-kritischen“ Tendenzen begegnen?

Teil meiner zwei Jahrzehnte langen Erfahrung im Gespräch über den Islam ist, dass grundsätzlich niemand so aus einem Gespräch geht, wie er hineingegangen ist. Das sollte die sportliche Seite – der Anspruch an unseren Intellekt – sein. Es ist kein Zufall, dass Assoziationstechniker aller Couleur die persönliche Begegnung grundsätzlich meiden müssen. Für unseren Fall gilt jedenfalls: Wir interessieren uns für die Gestalt des „Feindes“ und halten – insoweit bin ich Optimist – jederzeit auch seine Wandlung zum Guten für möglich.

Täusche wir uns nicht: Jenseits des Gezänks der Lager, lösen sich Freund-Feind-Verhältnisse und alt gewohnte Identitäten längst auf. Unser Zeitalter und unsere Existenz an sich sind durch ökonomische Transaktionen, nicht durch politische Gespräche bestimmt. Das Verharren der Menschen in alten Blöcken – während der entfesselte Kapitalismus ungestört das Regime führt – gehört dazu. Die Welt der Technik ist eben nicht dialektisch. „In der Überwachungswelt haben sich Öffentliches und Privates, Unternehmertum und staatliche Institutionen vermischt“, heißt es schön auf „telepolis“ über die Integrationskraft des technischen Prozesses. Die Grenzen zwischen Sicherheitsbehörden und Privatwirtschaft werden also nicht zufällig brüchig. Weitere Grenzen könnten bald fallen.

Auch wir werden schnell selbst zu Organen einer unsichtbaren Autorität. Und – mit Verlaub – überwachen wir nicht auch schon in unseren Netzwerken die politische Korrektheit des Anderen? Für wen die Datenmassen schlussendlich erhoben werden – für unsere Sicherheit, die Wall Street, das Gesundheitsamt oder die Steuerbehörden – bleibt im Grunde offen und steht im eigentlichen Zentrum künftiger politischer Debatten.