Augenzeugenbericht: Erste Eindrücke von der humanitären Arbeit im Grenzstädtchen Azaz. Von Rupert Neudeck

Ausgabe 208

(iz). Azaz, Sept. 2012. „Welcome to free Syria“, heißt es enthusiastisch an der türkisch-syrischen Grenze. Und der neue Staat soll so schnell entstehen, dass man keine Zeit hatte, Leute aus der Etappe zu besorgen, die ordentlich Englisch gelernt haben in ei­nem Land, in dem lange Zeit das Franzö­sische bevorzugt wurde. So leuchtet uns das große Plakat ­hinter den langen türkischen Immigrations- und Zollgrenzbefestigungen entgegen, auf dem es heißt: „Free SYRIA ­REPABLIC“. Und auf dem nächsten riesengroßen Plakat in lateinischen Lettern, die in dem arabischsprachigen Syrien nicht die Regel sind, steht in ähnlich großen ­Buchstaben „Welcome in SAFTY“.

Das mindert nicht die freundliche Atmosphäre, die den seltenen Besuchern am ersten Übergang entgegenschlägt, der von der FSA, der Free Syrian Arm (Freie Syrische Armee), erobert wurde. Die Spuren der Kämpfe um dieses weitläufige – und als Übergang zum wohl wichtigsten unmittelbaren Nachbarland Syriens strategisch wichtigen Areal – sind noch zu spüren.

Ganz sympathisch hört die neue syrische Widerstands-Bewegung nicht zu stark auf westliche Anforderungen, die ja viel Verlegenheit verbergen. Verlegen­heit darüber, dass alles in der Syrienpolitik zwischen Washington und ­Jerusalem abgemacht wurde. Die Rolle von Russ­land und China ist dabei nicht so groß, wie uns weisgemacht wurde, denn natürlich spielt die israelische Politik auf der Klaviatur alter Diktatoren-Kumpanei.

Es gibt mittlerweile eine Kommando­struktur der FSA, die von acht Leuten aus dem syrischen Widerstand gebildet wird und jetzt die Operation in und von Aleppo aus leitet. Die Opposition versuch­te auch, einen zivilen Widerstand und eine Übergangsverwaltung aufzubauen. Ausdrücklich zivile Personen leiten das politische Büro der FSA in Azaz und den Zoll- und Pass-Übergang nach Kilis in die Türkei. Die Stimmung in Azaz ist einzigartig. Jeder zeigt sich freundlich, jeder ist ein Redner, es ­herrscht Befreiungsstimmung. Jeder von denen, die geblieben sind – nach unserer Schätzung 60 Prozent –, hält sich zu Recht für einen Teilhaber der Gründung des freien Syriens.

Es ist eine Revolution junger Leute in einer Gesellschaft, in der immer noch die Alten, die Großväter das Sagen hatten. Erkennbar wird dies in der Klinik in der Stadtmitte, die typischerweise von einem Tausendsassa geleitet wird, dem Anästhesie-Krankenpfleger Dr. Anas Hi­raki. Akademisch ist Anas natürlich kein Doktor, aber hier ist er mehr als ein Doktor. Er ist nicht nur in Azaz geblieben, er schläft jede Nacht im Krankenhaus. Seine Familie lebt und überlebt in Deraa, der Hauptstadt der Revolution, von der sie am 17. März 2011 ausging. Würde man ihn als Kandidaten zum ersten Präsidenten der freien arabischen Republik Syrien vorschlagen, er würde gewählt. Gläubig, aber nicht extrem, fastet er am 6. September für den Sieg in Aleppo. Und siehe da, der Samstag, der 8. September beginnt mit der Nachricht, die alle ganz glücklich macht: Die FSA hat in Aleppo die größte Kaserne eingenommen mit einem riesigen Arsenal an Waffen.

Eine heftige Stehauf-Mentalität hat Azaz ergriffen. Noch ist hier nichts entschieden, wie in ganz Syrien nicht, aber alle nehmen diese Entscheidung schon vorweg. Geschäftsbesitzer rühren den Zement an, um ihr zerstörtes Geschäftshaus wiederaufzubauen. Photos auf der Strasse vom strahlenden jungen Bashar al-Assad werden wütend zertrampelt. Es ist noch alles in der Schwebe: Sieben Kilometer entfernt hält die Regierung den Hubschrauber-Flugplatz, der aber nur noch aus der Luft versorgt werden kann. Er ist umzingelt von FSA-Kämpfern, die aber den Ring nicht zuschnüren können; dafür fehlen ihnen die ­schweren Waffen.

Es ist möglich, dass die Assad-Propaganda gleich zwei dicke Nachrichten bis in unsere Medien hinein hat streuen konnte, die bei uns bereitwillig aufgegrif­fen wurden, ohne dass sie eine reale Grundlage hätten. Die ausländischen Truppen, die sich hier einfinden sollen, suchen wir vergebens. Wir finden nicht einen. Dagegen verfügt der Kommandeur der FSA-Einheiten kaum über die schweren Waffen, die ihm angeblich aus der Türkei, Saudi Arabien, Qatar oder vom CIA gegeben worden seien. Der FSA-Kommandeur Abu Ibrahim hat mit seinen 1.500 Kämpfern – davon 85 Prozent aus den zivilen Rängen der Bevölkerung – nur jene Waffen, die die Freie Syrische Armee der Regierungsarmee gestohlen oder weggenommen hat.

Man kann mit dem eindrucksvollen Kommandeur Abu Ibrahim über alles reden. Wie viele Soldaten hat er bisher verloren? 41, sagt er ganz traurig, und alle 41 habe er vor seinen Augen fallen gesehen. Bereitwillig sagt er auf die Frage, wie gefährlich für ihn das Leben ist: Auf seinen Kopf sei die Summe von umgerechnet drei Millionen Euro ausgesetzt worden. Ja, räumt er ein, es gäbe „Dschihadisten“, die seien aber eine kleine Minderheit von fünf Prozent und man würde auf sie einwirken, weil niemand ihre Politik mitmachen wolle. Mit den Kurden zieht man ebenfalls eine neue Linie: Sie sind beim Befreiungs­kampf willkommen, aber nur, wenn sie Syrien-zentriert sind, und nicht, wenn sie eine türkische Agenda haben. Mit der PKK hat man nichts am Hut, die wurde von Assad als letzte Reserve des ­Regimes ausgerüstet. Und sie stört auch die guten Beziehungen zur Türkei. Deshalb sind die Fragen über das künftige Verhältnis zu den Kurden noch offen. Die Kurden selbst haben elf verschiedene Gruppierungen. Nach Meinung von Kommandeur Abu Ibrahim sollten sie sich selbst erst mal richtig einigen.

Die vergleichsweise kluge Politik der Türkei wurde bisher nicht ausreichend gewürdigt. Nicht nur, dass bisher fast alle Flüchtlinge aufgenommen worden sind, es wird auch jetzt die Grenze für humanitäre Transporte geöffnet. Die türkische Hilfsorganisation IHH versorgt die mittlerweile 5.000 Flüchtlinge auf der syrischen Seite der Grenze.

Warum, fragte ich mich die ganze Woche in Azaz, macht sich 2012 das junge Europa nicht auf den Weg nach Syrien, wie es das 1936 nach Spanien aus allen Ländern Europas tat, um dort den Faschismus zu bekämpfen? Unter den heutigen Bedingungen der Mobilität und von Facebook müsste das alles viel leichter sein als zu Zeiten George Orwells und Willy Brandts. Sind wir alle ­Waschlappen geworden? Haben wir keine Phantasie mehr? Was, wenn morgen 200, übermor­gen 300, dann die nächste Woche 4.000 junge Europäer mit dem gesamten EU-Parlament, jungen Gewerkschaftsvertretern, den Parteien, Pfadfinder und Repräsentanten der Kirchen, der Moschee- und Kirchengemeinden sich aufmachen ­würden, nach Syrien gingen, um das Land für die Freiheit und die Zukunft zu retten?

Wenn man heute in Azaz George Orwell und Arthur Koestler liest, wird einem klar, dass daraus nichts wird. Es sind die Versicherungs- und Rückversicherungsregeln, die den jungen Euro­päern den Weg versperren.