Bilanz von 18 Jahren Afghanistankrieg

Foto: >a href=https://www.flickr.com/people/29456680@N06>ISAF Public Affairs, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0

Berlin/Kabul (iz).  Neue Belege für schwerste Kriegsverbrechen westlicher Soldaten in Afghanistan überschatten die Debatte um den beschleunigten Abzug vom Hindukusch. Die Ankündigung der Trump-Administration, die Zahl der in Afghanistan stationierten US-Truppen schneller als geplant zu reduzieren, ist in Berlin mit deutlichem Unmut aufgenommen worden; das Vorgehen gefährde „all das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben“, wird Außenminister Heiko Maas zitiert.

Tatsächlich jedoch ist die Bilanz der westlichen Streitkräfte verheerend: Dem Krieg in Afghanistan sind Hunderttausende zum Opfer gefallen; die Armut in dem weitgehend zerstörten Land ist größer als noch zu Beginn der Besatzungszeit; die Bundeswehr muss jedem ihrer Militärausbilder mehrere Personenschützer zur Seite stellen, um sie vor Anschlägen ihrer Rekruten zu schützen. Zu den Erfahrungen der Afghanen gehört, dass Angehörige westlicher Spezialtruppen willkürlich unbewaffnete Zivilisten ermordeten, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Die Bundeswehr war einem deutschen Militärhistoriker zufolge darüber zumindest im Bilde.

Beschleunigter Abzug
Die Ankündigung der scheidenden Trump-Administration, den Truppenabzug aus Afghanistan zu beschleunigen, war in der vergangenen Woche in Berlin auf Unmut gestoßen. Die Vereinigten Staaten hatten bereits in dem Abkommen, das sie am 29. Februar mit den Taliban geschlossen hatten, festgelegt, die Zahl ihrer Soldaten am Hindukusch von rund 13.000 zunächst bis Mitte Juli auf 8.600, dann bis Ende April kommenden Jahres vollständig abzuziehen. Jetzt soll der Abzug noch etwas beschleunigt werden: Bis zum 15. Januar würden die Truppen von zur Zeit rund 4.500 auf etwa 2.500 reduziert, teilte der geschäftsführende Verteidigungsminister Christopher Miller am 17. November mit.

Die letzten verbleibenden Soldaten sollten dann spätestens im Mai 2021 heimkehren. Die Entscheidung, die von Washington ohne jede Rücksprache mit den NATO-Staaten getroffen wurde, wirkt sich auf sämtliche in Afghanistan stationierten Einheiten aus, da sie in der einen oder anderen Form von operativer Unterstützung durch US-Militärs abhängig sind. Dies gilt auch für die Bundeswehr, die gegenwärtig noch über 1.200 – von insgesamt rund 12.000 – auswärtigen Soldaten am Hindukusch stellt. Außenminister Heiko Maas protestiert: Es sei „fatal“, „all das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben“, mit einem eiligen Abzug zu gefährden.

Hunderttausende Tote, mehr Hunger denn je
Tatsächlich ist die Bilanz dessen, was die westlichen Staaten im Verlauf ihres inzwischen knapp 19 Jahre währenden Krieges in Afghanistan erreicht haben, schon längst die Bilanz eines umfassenden Scheiterns. Die Zahl der Distrikte, die von den Taliban kontrolliert werden, wird in offiziellen US-Darstellungen seit vergangenem Jahr nicht mehr genannt; Beobachter schätzten sie zuletzt auf über die Hälfte.

Im vergangenen Jahr – also vor der Unterzeichnung des Abkommens mit den Taliban – kamen bei Kampfhandlungen und Anschlägen laut Angaben der UNO 3.403 Zivilisten ums Leben; die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) beziffert damit die Ziviltoten seit Beginn ihrer Zählung im Jahr 2009 auf mehr als 35.000. Laut einer Untersuchung der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) kamen in Afghanistan allein von 2001 bis 2015 sogar mindestens 220.000 Menschen zu Tode.

Der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsschwelle lebt, lag bereits im Jahr 2017 mit etwa 54,5 Prozent höher als 2002 – und er ist seither noch weiter gestiegen. Hilfsorganisationen warnen, wegen der Covid-19-Pandemie drohe eine Hungerkatastrophe; 13 Millionen Afghanen seien von Hunger bedroht.

Mehr Leibwächter als Ausbilder
Die aktuellen Aktivitäten der Bundeswehr kontrastieren mit der katastrophalen Lage auf geradezu absurde Weise. So heißt es in einem Bericht über die rund 1.000 in Mazar-e-Sharif stationierten deutschen Soldaten, „ihr Auftrag“ bestehe darin, „die Einsatzbereitschaft der afghanischen Streitkräfte zu verbessern“.

Allerdings sei ihre „Mission … stark beeinträchtigt von einer hohen Zahl an Fahnenflüchtigen“ und von „massiver Korruption“. „Persönliche Verbindungen zwischen Deutschen und Afghanen gibt es kaum noch“, heißt es weiter; bei afghanischen Rekruten sei eine „grundlegende [..] Abneigung gegen die Ratschläge der Ausländer“ verbreitet. Ob dies damit zusammenhängt, dass schon im Jahr 2016 im Durchschnitt 22 afghanische Militärs und Polizisten pro Tag im Dienst zu Tode kamen, im Jahr 2018 laut Schätzungen von Experten zeitweise sogar über 50, ist nicht bekannt. Fest steht allerdings laut dem Bericht, dass für „jeden der wenigen deutschen Ausbilder … drei, vier Leibwächter“ abgestellt werden müssen, die verhindern sollen, „dass die Schüler die Instrukteure ermorden, was in Afghanistan immer wieder vorkommt“.

Zusätzlich sind im Bundeswehrcamp in Mazar-e-Sharif „Kräfte zur Selbstverteidigung stationiert“. Über das Verständnis der Truppe für das Land, in dem sie operiert, heißt es: „Die Geflechte der ethnischen Interessen, der Drogenkartelle, des religiösen Fanatismus am Hindukusch durchblickt auf deutscher Seite kaum jemand, auch nicht nach 18 Jahren Einsatz“ in Afghanistan.

„Blooding“
Zusätzlich überschattet wird die Lage einmal mehr dadurch, dass schwerste Kriegsverbrechen westlicher Militärs in Afghanistan Schlagzeilen machen. Dabei handelt es sich um mindestens 39 Morde, die Angehörige australischer Spezialkräfte begangen haben. Mehrere dieser Morde sind bereits vor geraumer Zeit durch Medienberichte bekannt geworden, obwohl die australischen Behörden dies mit Repressalien gegen Journalisten zu unterbinden versucht hatten. So ist etwa per Video dokumentiert, wie ein australischer Soldat einen wehrlos in einem Kornfeld liegenden afghanischen Zivilisten mit drei Schüssen aus nächster Nähe ermordet.

Vergangene Woche ist nun ein umfassender Untersuchungsbericht vorgelegt worden, der das Ergebnis seit 2016 durchgeführter offizieller Ermittlungen zu zusammenfasst. Demnach sind zahlreiche derartige Morde geschehen; so gehörte es zu den Initiationsritualen bestimmter Einheiten, dass neue Mitglieder außerhalb jeden Kampfgeschehens einen unbewaffneten Zivilisten ermorden mussten, um ihre angebliche soldatische Eignung unter Beweis zu stellen; die Praxis wurde demnach „blooding“ genannt. In dem Untersuchungsbericht werden Strafverfahren gegen 19 frühere sowie gegenwärtige Soldaten vorgeschlagen, denen 39 Morde an wehrlosen Zivilisten vorgeworfen werden. Die Verbrechen wurden gewöhnlich verschleiert, indem den Afghanen nach der Tat Waffen untergeschoben wurden.

Nicht nur Australier
Die offenkundigen Kriegsverbrechen sind keine Besonderheit der australischen Streitkräfte. Auch für mutmaßliche Kriegsverbrechen britischer Spezialeinheiten, insbesondere Morde an Zivilisten, sind zahlreiche Belege bekannt [10]; die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat jetzt ihre Forderung bekräftigt, sie endlich zu untersuchen.

Identische Vorwürfe werden seit langem in deutlich größerem Umfang auch gegen US-Einheiten erhoben. Dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im März Ermittlungen dazu zuließ, hat allerdings nur dazu geführt, dass die Trump-Administration Sanktionen gegen die IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda und einen ihrer Mitarbeiter verhängte.

Mitwisser und Mittäter
Über mutmaßliche US-Kriegsverbrechen ist die Bundeswehr im Bilde gewesen. Dies berichtet der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam in seinem jüngst erschienenen Buch „Deutsche Krieger“. Neitzel schildert unter Berufung auf zahlreiche Interviews mit – zumeist noch aktiven – Militärs, „selbst hartgesottene Soldaten des KSK“ (Kommando Spezialkräfte]) seien „erschüttert“ gewesen, „als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“.

Es habe in den deutschen „Stäben durchaus unterschiedliche Auffassungen von legitimer und illegitimer Gewalt“ gegeben. Es sei sogar vorgekommen, dass deutsche Offiziere abgezogen worden seien, weil sie offenkundige Kriegsverbrechen verurteilten. Das sei allerdings lediglich die Ausnahme gewesen: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin.“ Die deutschen Militärs seien „loyale Allianzpartner“ gewesen, „die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten“: nicht nur Mitwisser, sondern demnach auch Mittäter.