Blinde Flecken in der Bildung: Warum hört man in 13 Schuljahren nicht den Namen von Yunus Emre? Von Anja Hilscher

Ausgabe 209

(IZ). Das Fach Deutsch habe ich immer geliebt. Wir haben damals, scheint mir, auch viel mehr klassische Literatur durchgenommen als heute üblich – wenn auch sicher nicht so viel wie Thilo ­Sarrazin zwanzig Jahre früher. Schon damals liebäugelte ich mit dem Übertritt zum Islam. Von Goethes „West-Östlichen Diwan“ hörte ich jedoch erst Jahrzehnte später.

Bass erstaunt war ich, als ich gar heraus fand, dass Germanisten der Ansicht sind, dass der „Diwan“ eines der wichtigsten Werke Goethes sei. Im Nachhinein drängt sich mir die Frage auf: Warum kann ich mich nicht erinnern, dass auch nur sein Titel in meinem Leistungskurs jemals erwähnt worden wäre? Warum wurde ausgerechnet dieses Werk „vergessen“?

Es ist zweihundert Jahre her, dass Goethe schrieb:
„Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.“

Eine kaum zu widerlegende Feststellung… War es Zufall, dass mein Deutschlehrer, wie bereits erwähnt, auch Lehrer für evangelische Religion, gerade den „Diwan“ vergaß? Hielt er ihn für unwichtig oder mochte er ihn nicht? Letzteres scheint mir die plausibelste Erklärung. Übrigens mochte er, im Gegensatz zu mir, auch den islamo­philen Goethe nicht besonders. Es stellt sich die Frage nach dem Warum. Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit einem Lehrerehepaar. Keine christlichen Religionslehrer, und auch sonst nicht übermäßig christlich angehaucht. Auch in keiner Weise ausländerfeindlich oder konservativ. Keine Sarrazin-Fans. Eher im Gegenteil: Nur eben ein gewöhnliches deutsches Mittel­schichts-Ehepaar, mit praktisch Null Kontakt zu Menschen mit Migrations­hintergrund. Ich trug ihnen, mit einigem Eifer, meine oben dargelegten Gedanken und Fragen vor und erwartete dabei, gerade bei ihnen offene Türen einzurennen – jedoch vergebens!

Warum werden die längst existierenden Brücken zwischen Orient und Okzident so offensichtlich ignoriert? Warum das Verkennen eines der größten Werke Goethes? Und warum erwähnte weder mein Geschichtslehrer noch das Spiel „Trivial Pursuit“ in seinen 3.600 Wissensfragen die Existenz Ibn Battutas, des berühmten Marokka­ners, der im 14. Jahrhundert fast die gesamte islamische Welt bereiste? Zwar werden seine Reisen und Erlebnisse zum Teil von Historikern in Zweifel ge­zo­gen, allerdings gilt dasselbe für den ­Italiener Polo.

Das Ehepaar verstand nicht so richtig, worauf es mir ankam. Das war nicht ihre Welt. Im Gegensatz zu viel gereisten, eingewanderten oder gar konvertierten Menschen kannten Sie den „Kampf der Kulturen“ ja auch nur als Titel eines ihnen unbekannten Buches. Spontan fiel mir dazu die bemerkenswerte Lektüre „Die Nashörner“ von Ionesco ein. In Erinnerung geblieben ist mir von diesem Stück Weltliteratur die Tatsache, dass darin ein Rudel Nashörner in irgendeiner Kleinstadt marodiert und dabei immer wieder „Ümm, üm – brrrrr!“ macht. Wahrscheinlich fehlte mir damals die sittliche Reife, um den tieferen Sinn des Stücks zu verstehen. Die einzige Überlegung war die Frage, ob es eigentlich stimmt, dass Nashörner den lieben langen Tag lang „Ümm, üm – brrrrr!“ sagen…. Übrigens habe ich erfahren, dass auch andere, durchaus intelligente Leser sich zwanzig Jahre nach der Lektüre der „Nashörner“ nur noch an „Ümm, üm, brrrrr“ erinnern, was mich irgendwie beruhigt.

Mein Lehrerehepaar vermochte nicht recht nachzuvollziehen, worüber ich mich empörte – was mich jedoch nicht davon abhielt, mit meiner flammenden Rede fortzufahren: Warum geben wir, obwohl wir es besser wissen, Menschen aus nichteuropäischen Kulturen, Veran­lassung, sich entweder minderwertig zu fühlen oder ihre Komplexe mit Aggression und Überlegenheitsgefühlen zu überkompensieren? Warum, frage ich weiterhin, erfährt der, immerhin seit vielen Jahrzehnten zuweilen in deutschen Schulen anzutreffende Schüler mit türkischen Wurzeln nichts von der Tatsache, dass auch die Türkei große Dichter hervorgebracht hat?

Warum hört man in 13 Schuljahren den Namen „Yunus Emre“ (ebenso wenig wie „Hafis“ und „Rumi“)? Warum haben die Türken bis heute das Image, eine Nation von anatolischen Hinterwäldlern zu sein und wie haben die Araber es geschafft, sich vor allem als ein Haufen demokratieinkompatibler Fana­tiker einen Namen zu machen? Sicher­lich – die aus der Türkei stammenden Gastarbeiter waren nicht die Intellektuellen ihres Landes. Das ist bekannt. Der Schulunterricht wird jedoch in Deutschland von gebildeten Angehörigen der Mittelschicht erteilt. Vorausgesetzt, diese Lehrer besitzen ein kleines bisschen Geschichtsbewusstsein und religiöse Grundbildung. Man darf in diesem Fall davon ausgehen, dass sie sich darüber im Klaren sind und waren, dass Nordwesteuropa sicherlich ein leidlich netter, fruchtbarer Ort ist, von dem viel Gutes, aber auch sehr viel Böses, ausgegangen ist – nicht aber das Zentrum des Universums.

Ich habe mich kürzlich dazu ­durch­gerungen, in Sarrazins Wälzer „Deutsch­land schafft sich ab“ ein paar längere Blicke zu werfen. Mein erster Eindruck ist, dass Thilo kein dummer Mann ist. Ich überlegte, ob ich spaßeshalber, ohne die Quelle zu nennen, einige durchaus bemerkenswerte, differenzierte Sätze bei Facebook reinstellen sollte, ohne die Quelle anzugeben. Insbesondere seine Ausführungen zum Thema Bildungskanon und Sprache als Schlüsselkompetenz, der oberste Priorität eingeräumt werden sollte, muss ich uneingeschränkt zustimmen.

Mehr noch: Er spricht mir aus dem Herzen! Beim Lesen einiger dieser ­Sätze hatte ich deshalb einen Eindruck, den ich schon zuvor bei anderen Menschen des öffentlichen Lebens gehabt hatte: „Der nimmt sich seine eigenen Behaup­tungen nicht ab!“ Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass er hier offen­sichtlich seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht wird und sich auf Angelesenes aus selektiv gewählter Populärliteratur, etwa von Necla Kelek, verlässt. Ist es eigentlich Zufall, dass Sarrazin „Wanderers Nachtlied“, und nicht den „Diwan“ erwähnte, als er den Niedergang der abendländischen Kultur vorhersagte? Gerade in diesem Zusammenhang hätte sich dieses Werk ja geradezu aufgedrängt. Setzte Sarrazin hier vielleicht auf die ach so beklagte mangelnde Bildung der Deutschen, die ihm gerade in diesem Zusammenhang sehr gut zupass kam?

Sarrazin kennt den „West-Östlichen-Diwan“ natürlich! Mein Deutschlehrer kannte ihn mit Sicherheit auch. Offenbar teilten aber weder Sarrazin noch mein Deutschlehrer Goethes Anliegen, eine Brücke zwischen Orient und ­Okzident, Islam und Christentum zu bauen.

Es ist wahrscheinlich einer mehr oder weniger gezielten Verhehlung von Tatsachen geschuldet, dass ich von der Existenz des „West-Östlichen Diwans“ erst sehr spät erfahren habe. Ebenso wie es wahrscheinlich auf mehr oder weniger gezielte Verhehlung von Tatsachen zurückzuführen ist, dass Sarrazin in ­seinem Buch die verbreitete Auffassung vertritt, das „islamische Kopftuch“ sei die „Anerkennung der Unterordnung der Frau unter den Mann“. Vermutlich hat er nur Kelek gelesen, die ihr ­besseres Wissen auf die erbarmungsloseste ­Weise heruntergebrochen hat, um es zu massen­kompatiblem Literaturpop zu verwursten. Auch Fachleute und Spezialisten sind fehlbar und lassen unbequeme Tatsachen, die das eigene Weltbild in Frage stellen, gerne einmal unter den Tisch fallen.

Viel wird heute die „Integrationsbereitschaft“ unserer neuen oder auch nicht mehr so neuen Mitbürger diskutiert. Groß sei diese bei den emsigen ­Vietnamesen und Chinesen, die sich unauffällig kleiden und verhalten, schnell Deutsch lernen und fleißig arbeiten. In erster Linie erkennt man ihre große Integrationsbereitschaft aber an der Tatsache, dass sie uns nicht mit ­ihrer eigenen Kultur behelligen. Wie ist es eigentlich bei der Mehrheitsgesellschaft um die Fähigkeiten bestellt, die wir von anderen einfordern? Um die Fähigkeit, von anderen Kulturen zu lernen, sich anzupassen an sich verändernde Verhältnisse? Schlecht, sehr schlecht. Wir spielen mit falschen Karten!. Wir vertuschen und verhehlen! Wir messen mit zweierlei Maß. Sind Fähigkeit zur Selbstkritik, Unverstelltheit und Aufrichtigkeit eigentlich Teil der viel zitierten „christlich-abendländischen Werte“, die von vielen beschworen werden? Falls ja, steigt diesen hinter der dicken Fernsehschminke vermutlich oft unbemerkt die Schamesröte ins Gesicht.

Im Grunde wissen zumindest Bildungsbürger es verdammt gut: Es gibt da noch eine Welt jenseits der Grenzen Europas. Im Grunde wissen wir seit ­verdammt langer Zeit verdammt gut, dass nicht alles Volk jenseits dieser Grenzen nur Horden von tumben Barbaren und potentiellen Terrorattentätern ist. Wir wissen eigentlich auch ganz gut, dass der Durchschnittseuropäer keineswegs „mündiger“ in seinem Verhalten ist als der Durchschnittsaraber, und dass Islam und Aufklärung keines­wegs unvereinbar sind. Zugegeben wird das aber selten.

Und das ist wahrhaftig keine Frage mangelnden Wissens. Es ist auch ­keine Frage mangelnden Platzes in den Lehrplänen. Es geht nicht darum, all diese weithin bekannten Tatsachen sämtlich zu benennen und die gesamte Welt­literatur durchzuarbeiten. Es geht nur darum, Akzente zu setzen und nicht gezielt Fakten auszublenden, die nicht ins Weltbild passen. Es geht um unseren eigenen geistigen Horizont und unsere Einstellung.

Es geht letztlich darum, ob wir vor bestimmten, unbequemen Dingen die Augen verschließen oder gar als Lehrer, Politiker und Meinungsmacher gezielt Fakten verschleiern. Ob wir wissentlich auf die falsche Fährte führen. Gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen stigmatisieren – und sei es mit ganz ­kleinen Gesten, mit vermeintlich unbedachter Wortwahl. Nein!

Ich zumindest habe oft den Eindruck: Die Wortwahl ist eben nicht unbedacht. Die Auswahl der Literatur ist nicht mangelnder interkultureller Kompetenz geschuldet. Ein Mindestmaß an Selbsterkenntnis hat jeder, und ich kann mir kaum vorstellen, dass viele Lehrer, Politiker, Meinungsmacher nicht in irgendeiner ­stillen Minute erkennen: „An diesem Punkt habe ich falsch gespielt!“

Dahinter steckt Bequemlichkeit und fehlende Zivilcourage, denn wer die Wahrheit sagt und differenziert, wird immer angefeindet. Oft steckt dahinter wohl auch ein Mangel an Demut. Fehlende Bereitschaft, vom Fremden zu lernen. (Nicht prinzipiell und mit dem verklärenden Blick des verpönten „Multikultianhänger“ – sondern nur da, wo es tatsächlich etwas zu lernen gibt!)

Fehlende Bereitschaft, das eigene Weltbild zu überdenken. Dahinter steckt mitunter gar Selbstherrlichkeit. Und wahrscheinlich ziemlich oft noch etwas. Nämlich System.