Brennpunkt Ägypten – Ägypten Hintergründe zu einer politischen Bewegung und Partei

Ausgabe 219

Die ägyptischen Muslimbrüder sind der älteste Zweig des politischen Islam im Nahen Osten. Seit ihrer Gründung pendelt die Bewegung zwischen Kampf im Untergrund und der Teilnah­me am politischen Geschäft. Momentan gehen Beobachter davon aus, dass ihr politischer Zweig vom regierenden ­Militär verboten wird.

(iz). Die Muslimbruderschaft als religiöse, aber letztendlich auch politische Gruppierung, versteht sich als Bewegung der Mitte (Wasa­tiyya). Von ihr – oder durch sie inspiriert – spalteten sich „liberale“ und extremistische Gruppierungen ab, denen diese von ihnen postulierte Position der Mitte als zu inkonsequent oder zu starr erschien.

Kritiker warfen der Führung der ­Muslimbruderschaft (MB) in politischer Hinsicht vor, sich aus Pragmatismus und Kalkül nicht zu scheuen, Bündnisse mit deklarierten politischen Gegnern einzugehen. Auch nicht, wenn es um die Anwendung von Gewalt geht, um eine Änderung der politischen Lage herbeizuführen.

Das führte zum Vorwurf, ihre wahren Absichten zu verbergen und nicht vertrauenswürdig zu sein oder gar wie eine Geheimgesellschaft zu operieren. Was aber alle Kritiker vereint, ist der Vorwurf der politischen Einflussnahme der Muslimbruderschaft und ihre ständige Opposition zu herrschenden Verhältnissen. Kritiker beanstanden auch, dass man die eigenen Mitglieder und Sympathisanten – wie 1982 im syrischen Hama oder zuletzt in Ägypten – für politische ­Ziele ins offene Messer laufen lässt.

Ein weiterer Vorwurf ist, dass im Laufe der Zeit die jeweilige politische Agenda, die Weltanschauung und das somit begründete Handeln als letztendlich göttlich legitimiert gesehen wurde. So habe am Ende die Organisation die eine wahre, alternativlose und eben rechte Verei­nigung zu sein. So wird aus dem Aufruf zum rechten Weg ein Aufruf zur eige­nen Gruppe.

Der somit postulierte Anspruch, die göttlich legitimierte Gruppe zu sein, wird weiter zu einem Anspruch auf politische Macht gedacht. Gegner dieses Machtanspruches stehen so – konsequent weitergedacht – Gott im Weg. Die radikalisierte Variante des politisierten Religiösen findet sich bei den später entstandenen Gruppen Jamat Islamiyya oder Al-Jihad, welche die „Gottesgegner“ bekämpften. Im Traktat „Die vernachlässigte Pflicht“ des politisch extremistischen Autors Al-Faraj findet sich die religiös begründete Aufforderung zum Kampf gegen das politische Establishment in den eigenen Ländern als eine Pflicht für Muslime. Damit legitimierte er den bewaffneten Kampf gegen den inneren Feind und mündete in einem Attentat gegen den damaligen Staatschef As-Sadat, ausgeführt durch den durch Al-Faraj inspirierten Khaled Islambuli, der rief: „Ich habe Pharao getötet.“

In den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi Arabien ist die Muslimbruderschaft unerwünscht, weil sie einen politischen Führungsanspruch stellen würde und damit eine Gefahr für das Könighaus und die Herrschenden darstellt. Das sich als islamisches Königreich verstehende Saudi Arabien und deren Ulama werfen den Muslimbrüdern vor, es gehe nicht nur um Religion, sondern auch um politische Macht. So wurden vor kurzem in den Vereinigten Arabischen Emiraten mehrere Dutzend Anhänger der Muslimbruderschaft verurteilt, denen Umsturzpläne vorgeworfen wurden. Dementsprechend erstaunte es nicht, als Saudi Arabien dem ägyptischen Putschisten in Ägypten mehrere Milliarden Dollar als Sicherheit versprachen, nachdem sie den demokratisch gewählten Mursi stürzten.

Eine Ausnahme bildet Katar. Das Emirat ist nicht nur der Sitz des Senders Al-Jazeera, sondern bietet auch dem aus Ägypten stammenden geistigen Führer der MB, Yusuf al-Qaradwi, Zuflucht.

1928 Jahren rief der Lehrer Hassan al-Banna in der ägyptischen Stadt Ismailia eine Bewegung ins Leben, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das aus ihrer Sicht richtige islamische Verständnis als weiterhin wichtigen Faktor im Leben der Ägypter und in der ganzen Umma wieder zu beleben. Zudem wollte er den britischen Einfluss in seiner Heimat zurückzudrängen. Dies spiegelte sich besonders in der britischen Kontrolle des Suez-Kanals wider, welche unter Jamal Abdel-Nasser 1956 zum Krieg führte, als ­deren Gewinner Ägypten hervorging. Das politische Begehren der MB war an ein sozial-kulturelles Anliegen gekop­pelt: Die ägyptische Gesellschaft sollte die eigene kulturelle Identität ­bewahren und sie sollte die Diskrepanz im technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt – welcher in der „westlichen Welt“ sichtbar war – Wett machen. Innerhalb weniger Jahre wuchs die Bewegung auf mehrere hunderttausende Mitglieder und Sympathisanten an.

Das Ansinnen der Muslimbruderschaft war es (analog zu Al-Afghani, Abduh und Rida) eine Wiederbelebung herbeizuführen. Diese beinhaltete auch die Kritik an der, aus ihrer Sicht, erstarrten muslimischen Orthodoxie beziehungsweise deren Gelehrten. Diese Bewegung bezeichnet man auch als „Reform-Salafiyya“, sie ist nicht mit der neo-hanbalitischen „Neo-Salafiyya“ zu verwechseln, welche durch Muhammad ibn Abd-al-Wahab (verkürzt und als Fremdbezeichnung „Wahabiten“ bezeichnet) auf der arabischen Halbinsel etabliert wurde und der Muslimbruderschaft partiell feindlich gesinnt ist, was sich in verschie­denen Publikationen unmissverständlich klar wird.

Diesen „reformsalafitischen“ Bewegungen ist der politische Utopismus gemein. Dazu gehört ein sich Abwenden von jeder Form der (negativen) Asabiyya, welche als Stammestum und Nationalismus für die Trennung der weltumspannenden muslimischen Umma angesehen wird, die unter einer religiösen und politischen Führung vereint werden solle.

Dieser Einheitsgedanke wird der Muslimbruderschaft von ihren Kritikern zum Vorwurf gemacht, nämlich ihren Anspruch, als „die eine“ Bewegung zu gelten, deren man sich anschließen sollte. Letztendlich bedeutet dies dann auch den Führungsanspruch auf religiöser, sozialer und politischer Ebene. Das provozierte schon zur Anfangszeit der Muslimbruderschaft dementsprechenden ­Widerstand.

Die soziale Arbeit, Speisung für Arme, medizinische Hilfe und das restliche soziale Engagement machte die Muslimbruderschaft bekannt und sie gewannen nicht nur deswegen viele Anhänger. Schon früh gerieten sie wegen ihrer politischen Haltung mit den Herrschenden in Ägypten in Konflikt. Hassan al-Banna wurde 1949 auf offener Straße erschossen. Später wurden nach der Machtergreifung Jamal Abdel-Nassers zahlreiche Muslimbrüder eingesperrt, ­teilweise gefoltert oder hingerichtet. Die führte zu einer Radikalisierung von einigen Anhängern, darunter auch Sayid Qutb.

Der Lehrer Sayid Qutb kehrte nach einem zweijährigen Studienaufenthalt in den USA noch in das Ägypten vor Abdel-Nasser zurück. Die Angst, in seiner Heimat könnte sich eine Gesellschaft wie in den USA entwickeln („gewalttätig, sexualisiert und materialistisch“) verstärkte sein Engagement. Er schloss sich der Muslimbruderschaft an, die anfänglich mit Gamal Abdel-Nasser und den Offizieren ein gutes Einvernehmen hatten. Nach dem Attentatsversuch auf Nasser wurden MB-Mitglieder festgenommen, angeklagt und teilweise gefoltert.

Darunter auch Sayid Qutb, der sich in dieser Zeit radikalisierte. In der Haft verfasste er das Traktat „Im Schatten des Qur’an“, in welchem er formulierte: Nicht mit Allahs Gesetz zu regieren ist Kufr, der nicht nur Sünde ist, sondern einen Abfall vom Islam bedeutet. In dem Buch „Meilensteine“ setzte er die ideologische Saat für die kommenden radikalen Gruppierungen. Der Vorwurf, die politische Salafiyya sei eine durch modernistische Ideen beeinflusste, nicht religiös legitimierte Bewegung, gewann so an Gewicht.

Verkürzt gesagt setzte Qutb die Wiedererrichtung einer islamischen Ordnung, welche sich in der Organisation des Staates widerspiegeln sollte, voraus, damit der Islam umgesetzt und die Muslime auch Muslime genannt werden könnten, die sich derzeit im Zustand der Jahiliyya befanden. Den Islam sah er in der bipolaren Welt als eine konkurrierende politische Weltanschauung. Sich unter anderem an Teile seiner ­Ideen anlehnend, entstanden radikalisierte Splittergruppen.

Diese gingen zu Kommandoaktionen über, welche sich gegen Vertreter des Staates oder teilweise ­gegen Touristen richtete. Die Muslimbruderschaft, konkret ihr Vorsitzender Hasan Al-Hudaibi, distanzierte sich in „Prediger, nicht Richter“ von den Vorstellungen Qutbs.