Autor erinnert an Regeln des Marktes

(Horizonte). David Graeber ist eine schillernde Figur: Der zum Anarchismus neigende Professor für Ethnologie gilt als der Vordenker der Occupy-Bewegung. In seinem Buch „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ ­erzählt Graeber die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Schulden. Schulden sind dabei für Graeber „eine morali­sches Prinzip“, das nur die Macht der Herrschenden stützte. Mit seinem antikapitalistischem Standardwerk durchbricht Graeber die Logik des Kapitalismus und befreit unser Denken vom Primat der Ökonomie.
Erfrischend ist darin sein Ausflug in die islamische Geschichte und das Marktverständnis im Islam. Während die Muslime im Westen mit ­Integrationsdebatten und Islamkritik beschäftigt sind, widmet sich der Occupy-Aktivist Graeber in seinem Buch den muslimischen Gelehrten und Denkern Al-Ghazali (1058-1111) und At-Tusi (1201-1274) und fragt danach, was sie zur Ökonomie sagen.
Vor einiger Zeit urteilte Graeber in einem FAZ-Interview: „Mit der Einführung von Geld, mit der Verpflichtung, Steuern, Abgaben, dann auch geschäftli­che und private Schulden zu monetarisieren, schließlich mit der Entstehung von Zins und Zinseszins wurden die ‘humanen Ökonomien’ zerstört.“ Völlig ungewohnt für die Debatten der letzten Jahre zur Finanzkrise geht Graeber in ­seinem Buch auf das Marktverständnis und das Zinsverbot im Islam ein. Die „humane Ökonomie“ des Islam mit seinem Marktverständnis scheint Graeber fasziniert zu haben. Denn im islamischem Markt ginge es weniger um Wettbewerb, sondern vielmehr um die Schaffung und Pflege von zwischenmenschlichen Vertrauensbeziehungen oder um Gewinnbeteiligung anstelle von Zinsen.
Graeber sieht im Gegensatz zur gegen­wärtigen Lage des globalen Wirtschaftssystems in den islamischen Märkten die wirklich freien Märkte und verweist damit auf die prophetische Tradition, nicht nur eine Moschee zu etablieren, sondern auch einen Markt. Moschee und Markt waren über Jahrhunderte für die islamische Zivilisation von elementarer Bedeu­tung. Die Moscheeanlage ist nicht nur ein tristes Gebetshaus, sondern der Ort, an dem man gemeinsam betet, lernt und lebt und an dem es soziale Einrichtungen für Männer, Frauen und Kinder gibt. Die Existenz des Marktes – nicht etwa die technische Realität von Vereinen oder Parteien – ist ein Zeichen davon, ob die Muslime jenseits der Einschränkungen von Ideologie oder Kultur handelnd ­zusammenkommen.
Die Händler in der islamischen Geschichte, so Graeber, hätten ein ungewöhnliches Kunststück vollbracht, ­indem sie einerseits den Wucherhandel aufgege­ben hätten, und andererseits an der ­Seite der Religionsgelehrten zur Führungsschicht der Städte aufgestiegen seien. „Die Städte ruhten weitgehend auf zwei Säulen: der Moschee und dem Basar. Dank der Ausbreitung des Islam stieg der Markt zum globalen Phänomen auf und funktionierte weitgehend unabhängig vom Staat entsprechend seinem eigenen inneren Gesetzen.
Gerade, weil es sich hier nicht um einen vom Staat eingerich­teten und von dessen Polizei und Gefäng­nissen gesicherten, sondern um einen in gewissem Sinn wirklich freien Markt handelte – wo Vereinbarungen mit Handschlag besiegelt und schriftliche Versprechen gegeben wurden, die nur mit der Integrität des Unterzeichners abgesichert ­waren –, konnte er sie nie in das verwandeln, was jenen ­vorschwebte, die später viele gleichartige ­Vorstellungen und Argumente übernahmen: In einem Markt, auf dem sich durch und durch eigennützige Individuen mit allen verfüg­baren ­Mitteln einen materiellen Vorteil zu schaffen suchten.“
Für Muslime wie auch für Christen sind die Freiheit und die Freiheit erhaltenden Ordnungsgedanken göttlichen Ursprungs. Das deutet nicht auf eine Theokratie, sondern darauf, dass eine rein innerweltliche Vernunft schnell zur Unvernunft wird, weil ihr die korrigierenden, ihre Schwächen ergänzenden umfassenden Ordnungsgedanken ­fehlen. Gedanken, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht den Markt und seine Gesetze.
Die absolute Vorherrschaft der Marktgesetze führt in die Gesetzlosigkeit und in wüste Willkürherrschaft. Die Vorstel­lungen des Islamischen Rechts und auch des Christentums von einer gerechten Wirtschaftsordnung können interessante Impulse für die aktuelle Debatten geben. Umso spannender, dass David Graeber in seinem monumentalen Werk über die Schulden einen ersten Beitrag dafür geleitet hat.
Der Artikel wurde von „Horizonte. Magazin für muslimische Debattenkultur“ zur Verfügung gestellt.