Cizres schuldlose Leben

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(iz). Eine Stadt in der Türkei, unweit der Provinz Şırnak und der türkisch-syrischen Grenze gelegen, die in den letzten Wochen und Monaten traurig stimmende Bekanntheit erlangte. Der Name Cizre steht nun in unmittelbarer Assoziation zum „Kurdenkonflikt“, dem Dilemma der Minderheitenpolitik und so auch zu den Beschüssen zwischen dem türkischen Militär und der Terrormiliz PKK, die sich selbst als eine kurdische Befreiungsbewegung versteht.
Während die Stadt mit rund 113.000 überwiegend kurdischen Einwohnern zu einem Schlachtfeld militärischer und paramilitärischer Ausschreitungen mutiert, fungiert sie auf der anderen Seite als Bunker. Für die gesamte Bewohnerschaft, die sich unter staatlich auferlegten Ausgangssperren und wegen der von der PKK systematisch geschaffenen Straßengräben in ihrer Stadt verschanzen muss. Straßenschlachten und am helllichten Tag geführte Waffengefechte sind der Alltag. Cizre hat sich nun, ähnlich wie Diyarbakir, zum Sinnbild einer Zeit politischer Erschwernis und einem in sich verwobenem Konfliktgemenge innerhalb der Türkei entwickelt, aber auch zur lokalen Manifestation eines langwierig existenten und doch gegen jedwede Ansätze von Diplomatie und rationaler Betrachtung resistenten gesellschaftlichen Diskurses.
So ist der Blick auf die Kurdenproblematik beidseitig extrem emotional gestimmt, vergangene Subversionen und Unmengen an verlorenen Menschenleben trüben den klaren Blick. Es ist folgetechnisch nicht verwunderlich, wenn nicht sogar ein fast schon natürlicher, affektiver Reflex, dass angesichts des politischen Zwistes und immens polarisierenden Diskurselementen sowohl Türken als auch Kurden übersteigende Nationalgefühle entwickelten.
Parallel zu der steigenden militärischen Expansion und dem enormen terroristischen Auswuchs macht sich ein gesonderter, seit der Aushandlung des Vertrages von Lausanne 1923 unter der Oberfläche ruhender, innerstaatlicher Unmut breit. Dieser erlebte seinen Auftakt bereits durch die seit der Französischen Revolution entfachte Idee des Nationalismus, welche gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt in integraler, aber auch exklusiver Form in den Nahen Osten und Anatolien herüberschwappte und diese Regionen kollektiv beeinflusste.
Auch die Ethnien der Türkei verfielen ihm; so fixierten sich beispielsweise Kurden immer weiter auf die eigene kulturelle Identität, die aber vor allem angesichts der damaligen politischen Drangsalierung und als Identität einer Minderheit eine ganz andere Bedeutung gewann. Durch Repressionen in Form von Verboten des offiziellen Gebrauchs der kurdischen Sprache und der rigorosen Assimilationspolitik Mustafa Kemal Atatürks begannen sich Aufstände auf kurdischer Seite herauszukristallisieren, die ab 1978 in die Gründung der PKK mündeten. Was oft vergessen wird: Bis heute verzeichnet die PKK neben türkischen auch eine Vielzahl an kurdischen Opfern. Zu Anfangszeiten fanden so auch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Stämmen in der Stadt Urfa statt, wobei vor allem gegen Andersdenkende vorgegangen wurde, die eine militante Mobilisierung kritisch betrachteten und aufgrund dessen des Volksverrates beschuldigt wurden. Bis heute nimmt die Untergrundorganisation neben militärischen auch viele zivile Ziele ins Visier und verübte etliche Vergeltungsschläge, für die Unschuldige sühnen mussten.
Dennoch stößt die PKK neben Distanzierung und Kritik teilweise auf Unterstützung und Bekräftigung innerhalb des kurdischen Volkes, aber auch von vielen vermeintlich links motivierten und kulturell ungebundenen Sympathisanten. Hierbei herrscht ein ideologisches Mitgefühl, welches sich in denselben binären Mustern verhält, wie jenes der Gegenseite. In apodiktischer Manier blenden so Gegner und Kritiker der Erdogan-Regierung alle Missetaten, Kriminalitäten und zivilen Morde der PKK aus, vermindern und suchen sie mit Hilfe der erlebten Repressionen und heutigen Kollektivstrafen in Südostanatolien als Totschlagargument zu rechtfertigen.
Andererseits werden diese von Verfechtern der Regierungsspitze aus der Realität der politischen Zustände vollends getilgt oder heruntergespielt. Zudem wird Diskretion gegenüber dem linientreuen Parteimann-Jubel nicht selten als eine stumme Zustimmung des Vorgehens der PKK verstanden. Dies alles wird nicht minder in einem Großteil der deutschen und türkischen Medienlandschaft widergespiegelt, mit dem Unterschied, dass in den beiden verschiedenen Extremen agiert wird. Über zivile Opfer in Cizre oder Diyarbakir wird in türkischen Medien kaum bis gar nicht berichtet, in Deutschland dafür mit teilweise beleglosen, von NGOs angegebenen, deutlich abweichenden Zahlen hantiert. Medial wird sowohl verharmlost als auch aufgebauscht, nur selten werden klare Fakten geboten.
Auch fällt jeder schnell unter Verdacht, Verteidigung und Rechtfertigungsintentionen für die PKK zu hegen, der das Vorgehen des türkischen Militärs nicht kompromisslos hinnimmt, sondern Kritik an seinem stark glorifizierten Status ausübt. Doch kann nicht negiert werden, dass sich ein gewisser Märtyrerkult, der übrigens auch auf nationalistisch-kurdischer Seite durchaus anzutreffen ist, und eine Unantastbarkeit des militärischen Handelns vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Terror abzeichnet. So wird in einigen Argumentationslinien sogar davon ausgegangen, dass das Militär während der Interventionen, weil es ja muslimisch sei, niemals auch Zivilisten getötet habe oder die „Eliminierung“ von Terroristen auch mal der Sicherheit der kurdischen Bevölkerung im Südosten vorgezogen habe. Eine absurde Reinwaschung einer politisch betrachtet durchaus zu kritisierenden Instanz, auf deren Konstrukt ebenfalls Leben von Zivilisten lasten und welche schwere Brüche gegen Menschenrechte beging.
Trotzdem erscheint das Militär durch seinen nahezu unantastbaren Status in allen Handlungen automatisch als legitim und berechtigt, oft auch in einem islamischen Kontext. Dabei wird selten in Betracht gezogen, dass das türkische Militär als solches, Organ eines laizistischen Staates ist, an sich keine Verbindung zum Islam hat und das Vorgehen so auch niemals mit diesem begründet oder gerechtfertigt werden sollte. Es ist ein staatliches Konstrukt, für dessen Vergehen die Regierung vollste Verantwortung trägt. Auch, weil ein ungleichmäßiges Machtverhältnis vorhanden ist: Auf der einen Seite steht eine ohnehin seit 2002 auf die Terrorliste gesetzte paramilitärische und illegale Miliz, auf der anderen eine Staatsgewalt, die für den Schutz der inneren Sicherheit verantwortlich ist und niemals befugt sein kann, Kollektivstrafen mit bewusstem Blick auf Verluste in der Zivilgesellschaft zu begehen.
Fakt ist, was in Cizre geschieht und was die Bewohner Cizres in den letzten Monaten erlebten, war nichts anderes als ein Ausharren zwischen zwei Frontenverhärtungen. Bürgerkriegsähnliche Zustände brachten Bilder von Panzern und Straßenzügen hervor, ließen erahnen, welche Folgen die Kollision der terroristischen Fehde mit der militärischen Intervention für die zivilgesellschaftliche Ebene schuf. Wer schlussendlich für das politische Dilemma mit dem Leben bezahlt, sind die vollkommen Unbeteiligten, die unschuldigen Bewohner der Stadt, aber auch die einfachen Soldaten, ob türkisch oder kurdisch, die dem Ende ihrer Wehrpflicht und der Rückkehr zu ihren Familien entgegenblickten. Wer leidet, ist das einfache Volk, während betont alle beteiligten Parteien des Konfliktes Verantwortung dafür tragen.