Das Benehmen des Propheten war eine Reflektion der qur’anischen Weisheiten. Von Schaikh ‘Abdalhaqq Bewley

Ausgabe 208

(iz). Blicken wir kurz auf die letzte dieser Spezialisierungen: die Wissenschaft vom Tasawwuf. Wie wir bereits gesehen haben, gab es in der Zeit der ersten Gemeinschaft keine absolut verbindliche Trennung zwischen Iman und Islam. Aber wir alle wissen aus dem Hadith von Dschibril, dass es ein drittes Element gibt, das gemeinsam mit den beiden anderen die Totalität von ­Allahs Din ausmacht. Dieses Element ist Ihsan. Ihsan wurde im Verlauf der Jahrhunderte von den anderen beiden Aspekten getrennt. Sein Studium erhielt den Namen „Tasawwuf (Sufismus)“. Es entwickelten sich sehr spezifische Formen und ein hoch technisiertes Vokabular, das jene Wissenschaft von dem unterschied, was landläufig als „normaler Islam“ verstanden wurde. Jedoch wurde dieses Element in den frühesten Tagen des Islam ausgedrückt, bevor die erwähnte Trennung in Kraft trat. Ein späterer Sufi sagte dazu: „Tasawwuf war eine Wirklichkeit ohne Name und wurde jetzt zu einem Namen ohne Wirklichkeit“.

Schaikh Moulay Murtada erzählte vor Kurzem eine erhellende Geschichte bei einer Veranstaltung im marokkanischen Kela’a Mgouna. Er wiederholte eine Bege­benheit von Saijjiduna ‘Ali während des Khalifats von Saijjiduna ‘Umar ibn Al-Khattab, möge Allah mit ihnen beiden zufrieden sein. Eines Nachts hatte ‘Ali einen Traum, in dem er am Morgen (Subh) hinter dem Propheten betete. Nach dessen Ende ging er zur Tür der Moschee, wo er auf eine Frau traf, die ein Tablett voller Datteln in Händen hielt. Sie bat ihn, das Tablett dem Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden gewähren, zu geben, damit dieser die Datteln unter seinen Gefährten verteilen könne. In dem Traum stellte er das Tablett vor den Propheten, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, der eine nahm und in ‘Alis Mund steckte. Sie schmeckte wunderbar süß und als er sie aß, sagte er dem Propheten, wie süß sie sei und bat den Gesandten ­Allahs, ihm eine weitere zu geben.

In dem Augenblick, als der Ruf zum Morgengebet ertönte, erwachte ­Sajjiduna ‘Ali aus seinem Traum, ohne dass er eine zweite Dattel empfangen hätte. Er machte die Gebetswaschung, ging zur Moschee und betete hinter dem Khalifen, ‘Umar ibn Al-Khattab. Als das Gebet beendet war, stand er auf und ging zur Tür der Moschee, wo – wie es in seinem Traum war – eine Frau ein Tablett mit Datteln trug. Sie bat ihn, es dem Khalifen zu geben, damit jener die Früchte unter ­seinen Gefährten aufteilen konnte. ‘Ali nahm das Tablett und stellte es vor ‘Umar ab, der eine Dattel nahm und sie in den Mund von ‘Ali steckte. Und, wie es ebenfalls im Traum war, schmeckte sie wunderbar süß. Er sagte, wie süß diese sei, und bat ‘Umar um eine weitere. ‘Umar entgegnete ihm: „Hätte der Gesandte ­Allahs dir eine weitere gegeben, würde ich es auch tun.“

Saijjiduna ‘Ali atmete vor Erstaunen hörbar ein und sagte zu ‘Umar, möge ­Allah mit ihnen beiden zufrieden sein: „Bei Allah, sag mir die Wahrheit: Kommt dies aus einem Traum von dir oder ist es etwas aus dem Unsichtbaren, zu dem du Zugang hast.“ Der Khalif ­entgegnete ihm: „Bei Allah, es war weder ein Traum und nichts aus dem Unsichtbaren. Aber wenn ein Gläubiger sein Herz um Allahs willen aufrichtig macht, dann wird er in die Lage versetzt, mit dem Licht Allahs zu sehen. Hab Taqwa vor Allah und du wirst Wunder sehen.“ Die Sprache von „Fana“ und „Baqa’“ und die anderen technischen Begriffe, die die Sufis später entwickelten, wären dem Khalifen ‘Umar unbekannt ­gewesen. Die folgende komplexe Strukturalisierung des spirituellen Pfads im Islam hätte ihm nichts bedeutet. Und doch besteht dank dieser und anderer Begebenheiten kein Zweifel darüber, dass ihm die höchsten spirituellen Wirklichkeiten absolut vertraut waren. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass er sich besonders rigorosen spirituellen Praktiken unterworfen hätte, die sich von der Art der Anbetung unterschieden, wie sie von der ersten Gemeinschaft getan wurde. Und dies in Hinsicht der Tatsache, dass sie ihr Leben beinahe ausschließlich der Einrichtung des Dins von Allah gewidmet hatten. Sie alle waren Vollzeit-Muslime. Und was für Sajjiduna ‘Umar galt, traf ebenfalls auf eine beträchtliche Anzahl anderer Gefährten [des Propheten] zu.

Der Schlüssel zu dieser erhabenen und trotzdem integrierten Spiritualität – integriert in dem Sinne, dass es keine speziellen Praktiken gab und keine gesonderte, exklusive Gruppe – liegt in ‘Umars abschließender Bemerkung gegenüber ‘Ali: „Hab Taqwa vor Allah und du wirst Wunder sehen.“ Taqwa wird oft als Gehorsam vor Allah Befehlen und eine Vermeidung seiner Verbote definiert. Gekoppelt ist dies mit einem wirklichen Bewusstsein von der Göttlichen Gegenwart, das heißt, wirklich zu wissen, dass Allah sieht, was wir tun. In anderen Worten: Sie ist eine äußerliche Handlung, die von einem inneren Glauben – untrennbar miteinander verbunden – begleitet wird, der sie hervorbringt. Diese Integrität wurde in den frühen Tagen des Islam als gegeben betrachtet. Erst später wurden die verschiedenen Elemente des Dins analysiert, differenziert und in ­Kategorien aufgeteilt. Es ist dieses integrierte Ganze, welches die große Wiederentdeckung darstellt, die wir machen, wenn wir betrachten, was dem Islam über die Jahrhunderte hindurch widerfuhr.

Unser Din wurde im Lauf der Jahrhunderte in mehr und mehr Wissenschaften und Spezialgebiete separiert – ei­nige von ihnen haben nur sehr wenig mit dem ursprünglichen Phänomen zu tun. Eine Wiederentdeckung des Islam beinhaltet eine Rückkehr zu dem Punkt, an welchem er noch nicht verzweigt war. Ein Punkt, an dem alle Elemente in ein allgemeines Verständnis und eine allgemeine Praxis integriert werden; der ursprüngliche Ausdruck des Islam, wie er sich im Leben des Propheten, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und seinen Gefährten, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, in Al-Medina Al-Munawwara manifestierte.