Das Drama der Deutschen

Ausgabe 290

In seinem Faust, an dem er sich sein ganz Leben lang abmühte, verwirklichte der inzwischen 82-jährige Goethe nicht nur eine weltberühmte Tragödie, die der sprichwörtlichen Zerrissenheit der Deutschen Ausdruck gibt, sondern gleichzeitig auch ein Drama des Lebens und der Menschheit an sich. Es entwickelt sich um das Spannungsverhältnis von Him­mlischem und Teuflischem, Irdischem und Göttlichem, in dem menschliches Streben stets verortet ist.

(iz). Die kontroversen Debatten über die kollektive Identität der Deutschen, die Renaissance des deutschen Nationalismus bis hin zu anti-deutschen Haltungen, erinnern an das Drama der Deutschen: den Faust. Die Frage, wer die Deutschen sind, hat Dieter Borchmeyer unlängst, bezeichnenderweise in einem Buch von über 1.000 Seiten, zu beantworten versucht. Was ist deutsch? Naturgemäß verweist der ­Lite­raturwissenschaftler in seiner ­Untersuchung auf geistige Grundlagen, die bereits weit vor der Gründung des deutschen Nationalstaates ihre Wirkung entfalten. Hierher gehört Goethes Skepsis gegenüber den Nationalismen, den untersten Stufen der Kultur, die ihn beschäftigen, bevor er, post mortem und nicht ganz ohne Ironie, zum Nationaldichter der Deutschen wurde. Natürlich gehört hierher ebenso die Fausttragödie, die den Weltruhm des Dichters mitbegründet.

In seinem Faust, an dem er sich sein ganz Leben lang abmühte, verwirklichte der inzwischen 82-jährige Goethe nicht nur eine weltberühmte Tragödie, die der sprichwörtlichen Zerrissenheit der Deutschen Ausdruck gibt, sondern gleichzeitig auch ein Drama des Lebens und der Menschheit an sich. Es entwickelt sich um das Spannungsverhältnis von Him­mlischem und Teuflischem, Irdischem und Göttlichem, in dem menschliches Streben stets verortet ist.

In seiner Einführung zum Faust („Prolog im Himmel“) erklärt Gott in einem Gespräch mit dem teuflischen Charakter, Mephistopheles, höchstpersönlich die paradoxe Situation des Menschen: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ und „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst“. Beide Lehrsätze sind in der deutschen Sprache längst zu sprich­wörtlichen Bestimmungen der menschlichen Lage geworden. Am Ende des zweiten Teils, nachdem Tod des Fausts, werden die Engel ergänzen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

Diese letzte Ergänzung, die Möglichkeit der Gnade, zeigt bereits Goethes Sicht auf die Grenzen teuflischer Verfüh­rungskünste auf. Die Folge mag tröstlich sein, Mephistopheles wird den Menschen nie ganz verstehen, er kann ihn nur verführen, aber niemals ganz bestimmen. Deswegen ist das Teuflische „Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Schon im Prolog im ­Himmel deutet sich die ganze Aktu­alität der Tragödie an. Gott rechtfertigt in dem Prolog, hier bedient sich Goethe einem ironischen Unterton, sogar die Existenz des Teuflischen: „Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh; drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen…“

Nur ein Jahrhundert später, nach dem Teufelspakt der Deutschen mit dem ­nationalsozialistischen Regime, dem Holo­caust und dem 2. Weltkrieg, wird diese, ursprünglich ironisch gemeinte Passage, in manchen Ohren heute eher als Zynismus vernommen. Der Pakt der Deutschen mit dem Bösen wird nicht nur die (verständliche) Grundlage anti-deutscher Gefühle werden, sondern auch – sozusagen als weitere Folge der Verarbeitung des historischen Traumas – in den Abgrund eines verbreiteten Nihilismus führen.

Nach dem „Prolog im Himmel“ folgen zunächst die berühmten Charakterisierungen des Faust. Der Universalgelehrte verkörpert ein maßloses Begehren nach Wissen, Macht und Herrlichkeit, aber auch ein Streben, dass zutiefst unerfüllt bleibt. So in eine existentielle Krise gera­ten, heute würden man sagen nach einem „Burn-Out“, stellt er resigniert fest: „Hier steh ich nun ich armer Thor, und bin so klug wie stets zuvor.“ Faust sucht sein Heil schließlich in der Magie, um das Gesetz, das die „Welt im Innersten“ zusammenhält, tiefer zu verstehen. In seiner größten Verzweiflung trifft der Forscher Mephistopheles. Sie schließen eine legendäre Wette: Wenn es Mephistopheles gelingt Faust in eine Situation zu führen, in der Faust ausspricht „Augenblick verweile!“, dann wird Faust untergehen und sein neuer Kumpan die Wette gewinnen.

Es beginnt ein fulminanter Ritt in menschlich-allzumenschliche Situationen, in der Mephistopheles immer wieder versucht mit allen Mitteln seine Wette zu gewinnen. Nach einer Verjüngungskur, die Mephistopheles für Faust arrangiert (Mephistopheles: „Du siehst mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe“) trifft er zunächst ein schönes, aber auch naives Mädchen: Gretchen. Gretchen reagiert verstört und instinktiv verunsichert auf Fausts Werben und Liebeswerben, seinem Verhältnis zu Mephistopheles und seiner gleichzeitigen Distanz zur Kirche. Innerlich bleibt das junge Mädchen den christlichen Konventionen ihrer Zeit verbunden. Sie stellt Faust schließlich die berühmte Gretchenfrage: „Wie hält’s Du es mit der Religion?“ Obwohl Faust kein Christentum mehr hat, lässt sich Gretchen auf die ­außereheliche Beziehung ein. Das Verhältnis endet schließlich in einer Tra­gödie. Gretchen wird, nachdem aus ­Versehen ihre Mutter getötet wurde, zur Kindesmörderin, sie wird zum Tode ­verurteilt und wird – nachdem sie sich gegen den Willen Fausts zu ihrer Verantwortung bekannt hat – von der Gnade Gottes gerettet, während Faust immer weiter streben muss.

Im zweiten Teil des Dramas entfesselt Goethe seine ganze Sprachgewalt. In ­Reimen, Sprechgesängen, Chören, Dialogen und Monologen offenbart sich eine Weltbühne, die reale, symbolische und imaginäre Vorstellungen vermischt. Der staunende Leser wird in die griechische Mythologie, das Mittelalter und in allerlei Zukunftsvisionen entführt, wohnt gar der künstlichen Schaffung einer Menschwerdung bei und bekommt die Schöpfungsgeschichte von tausenden Jahren in Reimform präsentiert. Der Dichter kümmert sich dabei weder um strenge ­Chronologie noch um Einschränkungen strenger Logik. Bis heute mühen sich ­Generationen von Regisseure auf deutschen Bühnen ab, den maßlosen Stoff und seine visionären Anspielungen auf die Zukunft – von Fragen der Bioethik bis zur Kapitalismuskritik – auf eine ­Bühne zu bringen.

Faust entwickelt sich als Hauptfigur endgültig zu einem Art Archetyp der Moderne, einem Tatmenschen, eine Figur, die radikal mit den kulturellen, religiösen, philosophischen und politischen Traditionen seiner Zeit bricht, um eine zweite, ganz neue Welt aufzubauen. Faust und Mephistopheles werden zu Partnern, die    – wenn auch aus unterschiedlicher Motivation heraus – alles was entsteht auch stets verneinen. Michael Jaeger (Global Player Faust) beschreibt diese Verwandlung, hin zum Geist permanenter Revolution, wie folgt: „… Faust verwandelt sich selbst in einen Geist, der jedes gegenwärtige Dasein, jeden Augenblick und jedes bewußt-reflektierende Verweilen in ihm stets verneint, weil alles, was da ist, seinen Ansprüchen von vornherein nicht genügen kann und infolgedessen wert ist, dass es zugrunde geht.“

Faust wird unter dem Einfluß des ­Mephistopheles zu einem Getriebenen, in dem sich durchaus ehrenwerte Ziele nach dem Fortschritt der Menschheit mit niedrigen Aspekten, Gier und Wille zur Macht, vermischen. Fausts Wille zur Macht äußert sich, wie Jaeger schreibt „als Fluch, als heroische Geste der Negation. Doch ist der Fluch in Wahrheit ein Ausdruck des äußersten Zwangs, die Realität zu verdrängen, eine Zwangslage, die hervorgeht aus der modernen Furcht vor dem Entgegengesetzten, aus der ­Todesangst“.

Tatsächlich verstrickt sich Faust im zweiten Teil der Tragödie in der Durchführung planetarischer Vorhaben, in Kriegen und Machenschaften in neuen Kolonien, bis hin zur Schaffung, mit Hilfe des Mephistopheles, eines neuen magischen Instrumentes: dem Papiergeld. Faust lädt im Rahmen seines Expansionsplans immer mehr Schuld auf sich, auch weil sein teuflischer und gewissenloser Gehilfe jeden Kollateralschaden in Kauf nimmt. Das technologisch-ökonomische Projekt der Neuzeit wird so zu einem Segen und Fluch des modernen Menschen werden. Immer neue Pakte, sei es mit Diktatoren oder Finanzmärkten, sind zum Machterhalt nötig. Das faustische Projekt der maßlosen Weltunterwerfung, mit Hilfe neuer Technologien der Macht, ist dabei längst nicht mehr das Schicksal der Deutschen oder Europäer alleine, es wird zum allge­meinen Weltschicksal. In allen Erdkontinenten verdrängt es zunehmend die ­alten, lokalen Maßstäbe der Kultur oder Religion.

Nur in einer imaginären Begegnung Fausts mit dem alten Griechenland und der göttlichen Helena, wird Faust ausnahmsweise nicht gejagt vom panischen Schrecken vor dem Verweilen. In diesen Bezügen zur griechischen Klassik steht er ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft des modernen Veränderungszwangs. In dieser Welt höchster geistiger Ansprüche hat auch Mephistopheles und seine Tendenz zu den Niederungen des Seins, keinen Zugriff auf ihn. Natürlich ist sich Goethe dabei bewusst, dass es ­keine reale Rückkehr zur Klassik geben kann. Ob es in der Zukunft ebenso keine Hinwendung zum Religiösen mehr geben kann lässt Goethe dagegen offen. In der Welt Goethes ist Gott niemals tot. Eckermann zitiert Goethe wie folgt: „Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr hat an ihr (der Welt) und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.“

Hatte Goethe eine Lösung für die ­Probleme des Faust? Hier streiten die Gelehrten bis heute. Eduard Spranger, um nur eine Möglichkeit vorzustellen, sieht den Lösungsansatz in einem „unablässigen Emporringen“, zu dem der Mensch fortlaufend geführt wird. „In der Folge des heiligen Stirb und Werde begegnen sich die Reiche der Natur und der Gnade. In ihrem Schnittpunkt bewegt sich der Mensch“ schreibt Spranger über die Lösung des Faust, dass auch eine Selbstbekenntnis Goethes beinhalten könnte. Am Ende des zweiten Teils zeigt sich dann tatsächlich Goethes Hoffnung, dass die weltumspannende, göttliche Liebe eine Rettung verspricht. Gleichzeitig entzieht sich der Dichter, der sich in dem Feld der Kunst als Polytheist begreift, den einschränkenden Dogmen der Religionen. Michael Jaeger beschreibt diese Seite Goethes wie folgt: „Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritu­eller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte.“

So lädt das Meisterwerk die Deutschen zu immer neuen Interpretationsversuchen ein. Das Dämonische, das Göttliche, das Natürliche und das Geistige in einem Lebensentwurf zu vereinen, lädt zu neuem Streben und Scheitern ein. Die aktuellen Zeichen der Erde, von der Klimakatastrophe bis zu den Finanzkrisen, gestatten dem Menschen kein Verweilen. Noch immer kann es dem modernen Menschen nicht nur um Achtsamkeit ­gehen, sondern auch, angesichts des ­drohenden Untergangs, um politische Wirkung. Im Chorus Mysticus heißt es auf der letzten Seite des Faust: „Alles ­Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis, das Unbeschreibliche, hier ist’s getan; das Ewig-Weibliche, zieht uns hinan.“