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Das faschistische China

Ausgabe 303

Foto: Mashka, Shutterstock

(iz). Eines der ersten Bücher, die im Europa Verlag (damals in der neutralen Schweiz) erschienen, war 1936 die Hitlerbiographie des deutschen Journalisten und Exilanten Konrad Heiden. Heidens Buch war nicht nur die erste umfassende Biographie des Diktators, sondern auch eine intime, kenntnisreiche Anatomie der NS-Diktatur, die bis heute durch ihre Luzidität besticht und wissenschaftliche Standards setzt.

Mit Die Kronzeugin setzt der Europa Verlag diese große Tradition fort. Ihren erschütternden Bericht hat die kasachisch-chinesische Menschenrechts­ak­tivistin ­Sayragul Sauytbay, die ein chinesisches ­Konzentrationslager in Ostturkestan (Xinjiang) überlebt hat, gemeinsam mit der deutschen Journalistin Alexandra ­Cavelius verfasst. Wer ihn gelesen hat, der kann nicht mehr unbekümmert auf die Menschenrechtsverstöße der Volksrepublik China schauen.

„Mit eigenen Augen habe ich die unterschiedlichen Foltergeräte im ‚schwarzen Raum’ gesehen. Die Ketten an der Wand. Manche Inhaftierte haben sie an Beinen und Händen auf Stühlen festgeschnallt, auf deren Sitzfläche Nägeln mit der Spitze nach oben herausstanden. Viele Gefolterte sind aus diesem schwarzen Raum nicht wieder zurückgekommen, andere taumelten blutüberströmt hinaus. (…) Selbst an den Wänden hingen Waffen und Instrumente wie aus dem Mittelalter. Solche, mit denen sie die Finger- und Fußnägel herauszogen, oder ein langer Stock, ähnlich wie ein Speer, an dessen Ende sich eine dolchscharfe Spitze befand, um sie den Menschen ins Fleisch zu rammen. An einer Längsseite waren mehrere Sitzgelegenheiten für verschiedene Zwecke aufgereiht. Elektrische Stühle und Metallstühle mit Stangen und Gurten, die das Opfer daran hinderten, sich zu bewegen. Eisenstühle mit Löchern im Rücken, durch die die Arme über die Schultergelenke geschoben wurden. Mein Blick flirrte über Mauern und Boden. Rauer Zement. Grau und schmutzig, ekelhaft und verwirrend – als hauste das Böse selbst in diesem Raum und nährte sich von unserem Schmerz. Ich war ­sicher, dass ich sterben würde, noch bevor der Tag anbrach.“

Sayragul Sauytbay wurde 1976 in Ostturkestan nahe der kasachischen Grenze geboren. „In unserem Glauben vermischten sich Naturreligion und heidnische Bräuche mit Elementen des Islams“, schreibt sie. „Jeder Kasache war fähig, sieben frühere Generationen aus seiner Familie samt Namen und Geburtsort auswendig zu benennen; andernfalls war er kein echter Kasache oder ein Waisenkind.“ Und an anderer Stelle: „Die Berge und die Landschaft waren uns heilig.“ Die wehmütige Erinnerung an den gescheiterten Versuch, 1944 einen unabhängigen Staat Ostturkestan zu gründen, gehört zur familiären Überlieferung, ebenso die an die Jahre des Terrors und der Unterdrückung durch Mao.

Sayragul wird Ärztin, dann aufgrund staatlich erzwungenen Berufswechsels Kindergärtnerin, sie heiratet und wird Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Bald gerät sie in den Sinisierungsfeldzug der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), den der „warmherzige Patriarch“ Xi Jinping nach Jahren der Entspannung wiederaufgenommen hat und der sich bis ins Intimste hineinfrisst. So erfahren wir von einer staatlich verordneten Verbrüderungsaktion, bei der Uiguren und Kasachen eine Woche lang im Haushalt eines Chinesen leben müssen. Für die muslimischen Frauen heißt das de facto die Pflicht, sich vom „Gastgeber“ vergewaltigen zu lassen, wovon Sayragul sich teuer freikauft. Wir erleben ein System, dem staatliche Totalüberwachung, gegenseitige Bespitzelung und die Zerstörung jeder Privatheit inhärent sind.

Wie alle totalitären Systeme ist auch das chinesische zutiefst ichfeindlich, es lebt vom Prinzip der dauernden Selbst- und Fremdbezichtigung. Die Bildung einer psychischen Identität, die Konstituierung eines transzendenten Wertegerüsts sollen vermieden werden, und zwar mit aller Brutalität. „Ihr müsst euch fragen: Was habe ich in meinem bisherigen Leben alles falsch gemacht? Und wie drücke ich das am besten aus?“, schildert Sauytbay das regelmäßige Auditing durch die kommunistischen Kader an ihrem Kindergarten, desgleichen die politische Indoktrination: „Selbst wenn die Chinesen einen Muslim folterten, waren am Ende die USA daran schuld, weil sie es waren, die die Andersgläubigen dazu verleitet hatten, falsch zu denken und schlecht zu handeln. (…) Laut Peking waren die Demokratien im Westen ein gescheitertes Modell, das in Krisen und Chaos zerfiel.“

In Wahrheit herrscht das Chaos in China. Wir lesen über Gefangene, „die im Lager gezielt mit Tuberkulose und Hepatitis infiziert worden sind, und über schwangere Frauen, die abtreiben müssen.“ Wir lesen von Unterwassergefängnissen, in denen die Gefangenen, bis zum Hals im Wasser angekettet, teils wochenlang in ihren eigenen Fäkalien schwimmen müssen und das Becken nur zu drei Mahlzeiten am Tag verlassen dürfen. Wir lesen, dass in Ostturkestan womöglich mehr Menschen als vermutet inhaftiert sind, nämlich „fast drei Millionen“. Und wir lesen „über einen Polizisten in einem Lager bei Hulija (der Hauptstadt des Kasachischen Autonomen Bezirks Ili), der den Koran in der Hand hielt, ein Blatt nach dem anderen herausriss, um sich damit den Hintern abzuwischen, es auf den Boden zu werfen, mit den Füßen darauf zu stampfen und zuletzt darauf zu pinkeln. Nachdem er das den Häftlingen demonstriert hatte, zwang er sie, sein Verhalten nachzuahmen und dabei zu rufen. ‘Das ist unser Gott! Das ist unser Allah! Das ist unser Heiliger Koran!’“

Auch dass mit den Organen der Ermordeten gehandelt werde, berichtet ­Sauytbay. Und dass „viele Araber bevorzugt Organe von muslimischen Glaubensbrüdern“ aus Xinjiang kaufen sollen, weil diese „halal“ seien.

Das Lagersystem in Xinjiang nimmt deutliche Anleihen an den nazistischen Konzentrationslagern: „Wer rot trug, war als Schwerverbrecher abgestempelt, wie beispielsweise Imame oder sehr religiöse Menschen. Mittelschwere Verbrechen signalisierte die hellblaue Kleidung. Den schwächsten Grad an Verbrechern zeigte ‘dunkelblau’.“ Sauytbay hat es noch ‘gut’ erwischt, sie bekommt „dunkelblau“ und wird als Lehrerin in einem Lager eingeteilt, aber schon dieses Upgrade bedeutet unsagbar brutale Haftbedingungen, ­mangelhafte Ernährung, psychische und physische Gewalt.

Bald nach ihrer Entlassung soll sie wieder verhaftet und eingewiesen werden, aber diesmal als Häftling der untersten Kategorie, denn sie ist eine „Doppel­gesichtige“, also: nach außen angepasst und demütig, innerlich aber oppositionell. Sauytbay ahnt, dass sie diese Haft nicht überleben wird, und entschließt sich zur Flucht. Ihr Mann und ihre beiden Kinder sind bereits in Kasachstan; mit viel Glück, Bestechung und einigen geduldigen Mitwissern kommt sie ihrer erneuten Verhaftung zuvor und kann sich an einem Grenzübergang ebenfalls ins Nachbarland flüchten. In einem güns­tigen Augenblick – ihre Papiere werden gerade geprüft – schlüpft sie unter dem Schlagbaum durch.

Doch auch in Kasachstan lässt sie der der lange Arm Chinas nicht los. Bei ­einem Verhör durch den kasachischen Geheimdienst wiederholen sich Szenen wie im „Umerziehungslager“ in Xinjiang: „Sie prügelten mich und traten mich mit den Füßen. Ich kann nicht mehr sagen, ob die anderen Männer noch im Raum oder schon weg waren. Ich weiß nur, dass sie mich in meinem Innersten zerstörten. Dass sie meine Würde achtlos wie ein Glas in Scherben zerschlugen. (…) Da lag nur noch eine Hülle von mir. Mehr war von mir nicht übriggeblieben.“

Sayraguls Fall ist dank der Hilfsor­ganisation Atajurt und deren rührigem Leiter Serikzhan Bilashuly inzwischen so prominent geworden, dass China sich nicht traut, sie aus Kasachstan zu entführen. Stattdessen wird sie vor einem kasachischen Gericht in Scharkent wegen ihres Grenzübertritts angeklagt, unter dem Druck der Öffentlichkeit aber nur zu Hausarrest verurteilt. Weil auch dieses milde Urteil die Agenten Chinas nicht daran hindert, sie und ihre Familie weiterhin zu terrorisieren, sucht und findet Sayragul mit ihrer Familie im Juni 2019 schließlich Zuflucht in Schweden. Bis heute wisse sie nicht, ob nicht auch ihre Mutter und ihre Schwestern in ein Lager eingewiesen wurden. Wie in allen Diktaturen, so gilt auch im kommunistischen China Sippenhaft.

Der Bericht der Sayragul Sauytbay zeigt, womit es der Rest der Welt mit dem heutigen chinesischen Staat zu tun hat. Sie warnt vor „Pekings langem Arm in die Nachbarländer“ und seinem Wedeln mit „humanitärer Softpower“ (Stichwort Neue Seidenstraße), und sie benennt mehrmals das kommunistische System als das, was es in Wahrheit ist: nämlich faschistisch. Und sie zeigt auch, dass sich der Westen und der Islam nicht als Feinde betrachten sollten. Vielmehr, so die unausgesprochene Quintessenz, seien sie Verbündete im Kampf gegen die unheilige Allianz aus Gottlosigkeit und Unfreiheit.

Sayragul Sauytbay mag sich in Sicherheit gebracht haben, aber ihre Geschichte kennt kein Happy End. Schwermütig resümiert sie: „Hinter mir liegen 43 verlorene Jahre.“ Und sie hat eine Warnung für uns im Westen parat: die KPCh ­verfolge, so werde es den Häftlingen im Gulag beigebracht, einen Drei-Stufen-Plan zur Weltherrschaft, mit der „Besetzung Europas“ in den Jahren 2035 bis 2055 als dritter Stufe.

Mit Blick auf die COVID-19-Pandemie, über deren Ausbruch im chinesischen Wuhan bis heute keine Klarheit herrscht, spricht Sayragul Sauytbay von einem „chinesischen faschistischen ­Gedankenvirus“, das im „Testlabor Ostturkestan“ entwickelt worden sei. Während aber Corona sich „nach einiger Zeit allmählich zurückziehen“ werde, werde „Chinas Gedankenvirus gegen die freiheitliche Welt“, so ihre Warnung, „nicht verschwinden. Ich hoffe, dass die Menschen rund um den Erdball verstehen, welche Gefahr von der KPCh und der Regierung in Peking nicht nur den ­Chinesen selbst, sondern allen Bürgern dieser Welt droht. Dieses ‘denkende’ ­Virus ist weit gefährlicher als das Coronavirus. Es ist die Hölle!“

Alexandra Cavelius, Sayragul Sauytbay: Die Kronzeugin. Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager. Europa Verlag 2020, 352 Seiten, mit zahlreichen Fotos, EUR 22.–