„Unverhältnismäßig und irreführend“: Soziologin Amiraux zum Verbot religiöser Symbole an Schulen

Montreal/Bonn (KNA). Frankreich ist verfassungsrechtlich eine laizistische Republik – ein Staat, in dem eine strenge Trennung von Kirche und Staat praktiziert wird. Diese wurde 1905 per Gesetz festgehalten. Vor zehn Jahren erhielt die gesetzliche Trennung eine neue Facette: Am 10. Februar 2004 beschloss das französische Parlament das Verbot religiöser Symbole an Schulen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit der französisch-kanadischen Soziologin Valerie Amiraux, die an der Universität Montreal zu Laizismus forscht, über das Gesetz und seine Auswirkungen.

Frage: Frau Amiraux, die ehemalige UN-Sonderberichterstatterin für Religionsfreiheit, Asma Jahangir, hat nach einem Besuch in Frankreich 2005 Folgendes festgehalten: Positiv sei, dass das Laizismus-Gesetz die Autonomie von Mädchen fördere; negativ sei, dass es das Recht derer beschränke, die freiwillig ein Kopftuch tragen. Trifft das den Kern des Problems?

Amiraux: Es trifft die Kernfrage: Gibt es ein Davor und ein Danach? Vor dem Gesetz 2004 war Laizismus ein Prinzip, Politik und öffentliches Leben zu organisieren. Grundlage war die 1905 in Frankreich festgelegte Trennung von Kirche und Staat sowie eine damit verbundene Neutralität des Staates. Beides hatte zum Ziel, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichheit der Religionen zu garantieren. Das Gesetz 2004 hat der wachsenden Bewertung des Laizismus als „nationalem Wert“ ein rechtliches Fundament gegeben.

Frau Jahangirs Kritik richtete sich an die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem, was das Gesetz erreichen wollte – nämlich zu vermeiden, dass junge Frauen zum Kopftuchtragen gezwungen werden – und den tatsächlichen Auswirkungen. So kritisierte sie, dass mit dem Gesetz vorgeschrieben wird, jede religiöse Haltung abzustreifen, wenn man als Bürger auftritt. Das ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch irreführend. Es vermittelt die Idee, dass man nicht beides sein könne: guter Bürger und gläubig.

Frage: Manche Stimmen befürchten, dass ein religiöses Symbol, zum Beispiel ein Kopftuch, Nichtgläubige zu stark beeinflussen könnte.

Amiraux: Das ist eine extreme Position. Vor dem Gesetz 2004 waren die einzigen Fälle, in denen das Kopftuch verboten werden durfte, solche, bei denen jemand unter Zwang Kopftuch trug oder versuchte, religiöse Ansichten einer anderen Person aufzudrängen. Seit der Gesetzgebung haben wir in Frankreich mehr und mehr die Annahme, dass sich Religion und Vernunft ausschlössen.

Darüber hinaus dreht es sich bei der Debatte hauptsächlich um Muslime und andere religiöse Minderheiten. Selten ist die Rede von Kippas oder christlichen Kreuzen. Nach der Verabschiedung des Gesetzes gab es bei rund zwölf Millionen Schülern in Frankreich 47 Schulverweise, weil ein religiöses Symbol getragen wurde. Um damit umzugehen, hätte es kein Gesetz gebraucht.

Frage: Wie steht es um die Idee, dass Religion im Privaten und damit völlig getrennt von der öffentlichen Person gelebt werden kann. Geht das überhaupt?

Amiraux: Da liegt der Widerspruch quasi auf der Hand. Der Staat zieht sich auf der einen Seite mehr und mehr aus dem Privatleben zurück. Mit diesem Gesetz tut er aber genau das Gegenteil: Bürger werden dazu aufgefordert, auch im Privaten säkular zu leben. Säkularismus muss aber vom Staat ausgeübt werden, nicht vom Bürger. Dieses System ist durch das Gesetz 2004 leicht verzerrt worden.

Frage: Papst Johannes Paul II. hat einmal gesagt, Frankreich sei die älteste Tochter der Kirche. Frankreich nennt sich selbst einen neutralen Staat.

Amiraux: Das Zitat stammt aus der französischen Geschichte. Es bezieht sich auf die Zeit der Könige, als diese direkt mit der katholischen Kirche verbunden waren. Das Gesetz von 1905, das die Trennung von Staat und Kirche und damit die Neutralität gegenüber jeglicher Religion festlegte, sollte vorrangig diese enge Verbindung kappen und die katholischen Einflüsse, etwa in Schulen, eindämmen. Diese Neutralität ist eine Schutzmauer für die Gleichheit und Freiheit aller Bürger. Aber diese Mauer musste gesetzlich verankert werden, denn sie ist nicht natürlich.

Frage: In der Türkei gab es zuletzt einen Schritt weg von einer Trennung von Staat und Religion im öffentlichen Leben. Frauen im Staatsdienst dürfen künftig wieder Kopftuch tragen.

Amiraux: Das Beispiel Türkei muss getrennt von der Debatte in Europa und in Frankreich betrachtet werden, denn die Beziehung zwischen Religion und Politik ist dort eine andere. Dass Frauen das Kopftuch wieder tragen dürfen, ist meines Erachtens weder eine Gegenreaktion zu Europa noch eine Radikalisierung. Mit Blick auf die türkischen Umstände gibt es den Frauen vielmehr ein Recht zurück. Trotzdem würde ich sagen, dass die Türkei immer konservativer wird.

Frage: Wo passen die Proteste gegen die „Homo-Ehe“ in die Staat-Kirche-Debatte?

Amiraux: Frankreich hat eine sehr konservative und starke bürgerliche Gesellschaft. Die Demonstranten gegen die „Homo-Ehe“ kommen aus allen mögliche Bereichen. Eine ähnliche Entwicklung sieht man auch jetzt wieder bei der Abtreibungsdebatte. Die Gesetzänderung, die den Passus herausgenommen hat, dass Frauen nur in Notlagen abtreiben dürfen, hat die selben Gruppen und Kritiker mobilisiert.

Frage: Noch einmal zur UN-Sonderberichterstatterin Jahangir. Sie erwähnt in ihrem Bericht die Sorge, dass das Verbot Gläubige beleidigen könnte – mit der Folge, dass diese sich radikalisierten.

Amiraux: Dafür gibt es keine Belege. Das Gesetz hat aber eine anti-muslimische Haltung in Frankreich verstärkt. Darüber hinaus birgt das 2010 eingeführte Burka-Verbot in der Öffentlichkeit Risiken, da es junge Frauen und Mütter betrifft. Sie könnten als Folge jeglichen Kontakt zur Gesellschaft abbrechen – und das könnte tatsächlich eine Radikalisierung zur Folge haben.

Frage: Sollte das Gesetz von 2004 also wieder abgeschafft werden?

Amiraux: Das Problem ist nicht allein das Gesetz. Es ist auch die öffentliche Debatte. Selbst wenn wir das Gesetz ändern: Die Diskriminierung und feindliche Haltung gegenüber Muslimen hört damit ja nicht sofort auf.