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Das laut zu Lesende

Ausgabe 263

Foto: Pixabay | Lizenz: CC0 Public Domain

(iz). Das arabische Wort „Qur’an“ bedeutet wörtlich „das laut zu Lesende, zu Rezitierende“ im Gegensatz zum Wort „Kitab“ („das Geschriebene, das Buch“). In Diskussionen taucht immer wieder die Frage auf, wie denn der Qur’an in seiner heutigen Form entstanden sei. Im Abendland entstanden deshalb auch bei „seriösen Wissenschaftlern“ diverse wilde Theorien: Der Qur’an sei eine spätere Konstruktion und damit sei der ganze Islam und sein Prophet ebenfalls eine Erfindung…
Jeder Muslim weiß: Der Qur’an wurde tatsächlich erst viel später nach seiner göttlichen Offenbarung an den Propheten Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, in der heutigen Buchform zusammengestellt und aufgeschrieben. Selten wird erklärt, warum. Zu Lebzeiten des heiligen Propheten schrieben zwar auch schon einige seiner Gefährten auf kleine Tafeln, Holzscheiben, Knochenplatten oder Lederstücke die Verse und Suren des Qur’an auf. Immer dabei war aber die Kontrolle durch die Prophetengefährten, die direkt bei Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, gelernt hatten.
Die eigentliche Überlieferung war ja mündlich, das heißt die dem Propheten geoffenbarten Verse des Qur’an wurden von ihm direkt zu seinen Gefährten laut gesprochen weitergegeben, wurden dann von ihm genau kontrolliert, von ihnen sorgfältig auswendig gelernt und aufschrieben. Diese Form der genauen Überlieferung ist aber klar und mit Absicht gewählt worden, weil nur so Fehler und Veränderungen verhindert werden. Aber auch die besondere Art und Weise, wie der Text gelesen wurde, konnte so von Anfang an genau beibehalten werden, denn der Qur’an wird in einer musikalischen Weise, rhythmisch und klanglich harmonisch aufeinander abgestimmt. Sogar die Gegner des Islam in Mekka lauschten fasziniert, wenn die heiligen Worte laut rezitiert wurden. Mancher wurde sogar allein dadurch zum Muslim, wie etwa ‘Umar ibn Al-Khattab, Allah sei mit ihm zufrieden.
Die schriftliche Fassung des Qur’an hat der Khalif Uthman, Allah sei mit ihm zufrieden, bekanntlich circa 25 Jahre nach dem Tode des Propheten, Allahs Segen und Frieden auf ihm, „herausgegeben“, also etwa um 650 christlicher Zeitrechnung. Uthman ließ alle schriftlichen „Original-Überlieferungen“ sammeln und dann mit Hilfe derjenigen Prophetengefährten, die den Qur’an noch selbst vom Propheten derart gelernt hatten, sorgfältig überprüfen und zu dem zusammenstellen, was wir heute Qur’an kennen. Alle sind in späteren Zeiten namentlich bekannt geworden als Überlieferer von Hadithen, den Aussagen und Aktivitäten des Propheten. Uthman ließ dann fünfmal, nach anderer Version sechsmal, diesen genauestens geprüften und damit endgültig festgelegten Original-Qur’an in Buchform fassen, als Grundlage und Gedächtnisstütze für die verschiedenen Länder, die sich inzwischen zum Islam bekannten.
Gleichzeitig wurde aber auch durch diese Aktion damals schon festgelegt, wie die Weitergabe, das Lernen des Qur’an zu erfolgen hat: Jeder, der ihn lernen will, und sei es auch nur ein kleines Stück, muss bei einem Lehrer „live“ die heiligen Worte lernen, so wie es der Lehrer selbst wiederum bei seinem Qur’an-Lehrer gelernt hatte, also von Mund zu Ohr, genauso wie der Prophet, Allahs Segen und Frieden auf ihm, seinen Gefährten die heiligen Worte beibrachte. Auf diese Weise gibt es eine lückenlose Weitergabe des heiligen Textes von damals bis heute. Man sollte sich dieser Authentizität immer wieder bewusst sein: Es sind nicht nur die gleichen Worte, auch der Klang, die Betonung, die Melodie ist unverändert seit über 1.400 Jahren.
Wir wissen, dass Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, sogar sieben verschiedene Lesarten beschrieben hat, die alle ihre besondere Funktion hatten: schnell oder langsam, einfach oder mit der Möglichkeit, melodisch zu improvisieren, oder auch für das gemeinsame laute Rezitieren in einer Gruppe geeignet. Diese sieben Lesarten sind also keine späteren „Entwicklungen“.
Erst später erfand man die kleinen Zeichen, die über oder unter die Buchstaben gesetzt wurden, um die Worte, die meist nur in Konsonanten geschrieben waren, zu vokalisieren, auch um die verschieden langen Dehnungen, die Pausen beziehungsweise die Stellen, an denen man keine Pausen machen sollte, zu kennzeichnen und vieles mehr. Einerseits, um das Lernen und Lesen zu erleichtern, aber auch, um Fehler und Abweichungen schon beim Lesen und Lernen zu vermeiden. Denn natürlich kann und soll man den Qur’an ja auch, wenn man alleine ist, leise lesen, um ihn zu studieren und um über seine Inhalte nachzudenken. Besonders empfehlenswert ist es, die heiligen Worte, die äußerlich lautlos bleiben, innerlich in sich klingen zu lassen, so schön und so laut wie möglich. Gerade dann wird einem klar, wie wichtig es ist, bei einem Lehrer laut gelernt zu haben.
Auch wer mit den heutigen technischen Möglichkeiten, etwa phonetische Umschriften in den jeweiligen Landessprachen oder CDs und Qur’an-Lesungen im Internet lernt, sollte nach Möglichkeit bei einem Lehrer vor Ort das Gelernte überprüfen. Er wird schnell feststellen, dass schon die Artikulation einzelner arabischer Buchstaben für uns „Fremde“ sehr schwer ist und sich nur durch das mündliche laute Üben mit einem Qur’an-Lehrer dauerhaft einprägt. Ohne diese Lehrmethode, ohne diese persönliche Kontrolle prägen sich unbemerkt ganz schnell Aussprachefehler ein, die man später nur schwer wieder loswird.
Das Ergebnis dieser „richtig gelernten“ heiligen Worte ist dann aber wie eine große Belohnung: Es entsteht eine intensive Verbindung zum Propheten, Allahs Segen und Frieden auf ihm, der diese Worte ja genau so vor über 1400 Jahren gesprochen hat. Denn wir dürfen sicher sein, dass die Kette der Überlieferer absolut lückenlos ist.
Es gibt nichts Vergleichbares bei anderen Religionen. So wurden zum Beispiel die christlichen Evangelien erst im Konzil zu Nicäa 325 n. Chr. aus einer Vielzahl von inzwischen vorhandenen Textfassungen mit verschiedenen Sprachen zu den vier heute bekannten lateinischen Texten zusammengestellt, die dann aber auch immer wieder in den folgenden Jahrhunderten überarbeitet wurden. Jesus, Allahs Segen und Frieden auf ihm, hat bekanntlich aramäisch, einen hebräischen Dialekt der damaligen Zeit, gesprochen. Sicher verstand er auch die lateinische und griechische Sprache der römischen Besatzungsmacht, aber von seinen eigenen Worten ist im Original nichts mehr vorhanden, schon gar nicht im Originalklang.
Die heiligen Schriften der Juden, wie wir sie heute kennen, haben auch nicht mehr den Urtext, in dem sie offenbart wurden. Ihre Sprache ist ein Hebräisch aus der Spätantike. Der Originalklang, den sie bei ihrer Offenbarung hatten, ist auf jeden Fall unwiederbringlich verloren. Dazu kommen noch spätere Ergänzungen und „redaktionelle“ Überarbeitungen.
Selbst uralte Sprachen wie die Sanskrit-Texte der Hindus wurden und werden nach aufgeschriebenen Texten gelernt und man kann den Originalklang nur noch ahnen. Auch wir in Europa haben viele mittelalterliche Texte schriftlich erhalten, aber wie sie ausgesprochen wurden, wie sie geklungen haben, weiß niemand mehr. Linguisten benutzen heute beispielsweise deutsche Dialekte, die sicher älter sind als das Hochdeutsch, um wenigstens eine Ahnung zu bekommen, wie etwa das Nibelungenlied geklungen haben könnte.
Diese absolute Authentizität des Qur’an in Wort und Klang ist für manche moderne Wissenschaftler, die sich gerne auf sogenannte schriftliche Quellen berufen wollen, schwer nachvollziehbar. Aber es gibt keinen anderen und vor allem keinen besseren Beweis für die unverfälschte Richtigkeit des Originals. Wir haben gesehen: Alle schriftlichen Quellen, selbst wenn sie aus alter Zeit stammen, können verändert, sogar gefälscht sein. Auf keinen Fall aber haben sie den Urklang bis heute bewahrt. Die Regeln des mündlichen Weitergebens beim Heiligen Qur’an sind denn auch nicht aus Zufall entstanden, etwa weil der Prophet, Allahs Segen und Frieden auf ihm, nicht lesen und schreiben konnte, sie sind von ihm mit Absicht festgelegt worden, um das heilige Buch der göttlichen Offenbarung für immer unverfälscht zu erhalten.
Der Qur’an bewahrt somit das „laut zu Lesende“ Original mit einfachsten menschlichen Mitteln durch diese Methode seiner Übermittlung absolut authentisch in der Originalsprache, die nicht „modernisiert“ werden darf, nicht einmal in die verschiedenen arabischen Dialekte, die heute gesprochen werden. Und wir spüren beim richtigen Lesen des Qur’an auch heute noch durch den Klang und die Schwingung der Worte, den Duft der Zeit seiner Entstehung. Wir spüren dabei aber auch die Verbundenheit mit all den Muslimen überall auf der Welt, die sich in der gleichen Weise bemühen, den Qur’an so zu lesen. Der gleiche Klang der gleichen Worte weht durch alle Länder der Erde und verbindet alle Muslime.
Auch heute kann nichts dieses persönliche, durch einen Lehrer kontrollierte Lernen ersetzen. Jeder der auf diese Weise Qur’antexte gelernt hat, kennt die uralte einfache Methode, die der Lehrer anwendet: Er spricht vor, der Schüler wiederholt, und das so oft, bis Klang und Text sich eingeprägt haben. So können auch Menschen, die nicht Arabisch lesen können, sogar absolute Analphabeten, wie zum Beispiel Kinder im Vorschulalter den Qur’an lernen und den Segen spüren, der davon ausgeht.
Diese Originalität und Authentizität des „gesprochenen Wortes“ hat schon vor über 200 Jahren Goethe fasziniert. Er drückt das im Einleitungsgedicht seines „West-östlichen Diwans“ unnachahmlich aus, besonders in den letzten beiden Zeilen der dritten Strophe. Im Anfang der ersten Strophe schildert er die Situation in Europa zu seiner Zeit. Leider ist heute der „reine Osten“ nicht mehr das, was er noch zu Goethes Zeit war. Längst ist auch dort überall die Zerstörung am Werk. Der Titel des Gedichtes „Hegire“ ist vom arabischen Wort „Hidschra“ (Auswanderung) abgeleitet. Hier die ersten drei von insgesamt sieben Strophen:
Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten;
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen.
Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr’ in Erdensprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.
Wo sie Väter hoch verehrten,
Jeden fremden Dienst verwehrten;
Will mich freu’n der Jugendschranke:
Glaube weit, eng der Gedanke,
Wie das Wort so wichtig dort war,
Weil es ein gesprochen Wort war.