Das Monster in uns

Ausgabe 280

Foto: Bundesarchiv, Bild 101I-137-1032-14A / Kessler, Rudolf / CC-BY-SA 3.0

„Der Sklave will nicht frei werden. Er will Sklavenaufseher werden.“ (Gabriel Laub)
Krieg entblößt eine verstörende Wahrheit. Nur wenig trennt den Unterdrücker vom Unterdrückten. Geblendet von Hass und Ideologie, mit der unbegrenzten Macht, tödliche Gewalt anzuwenden, vom Staat oder der dominanten Autorität der moralischen Entscheidung entbunden, gehüllt in den Absolutismus des nationalistischen, religiösen oder ethnischen Chauvinismus, taub für Emotionen. Menschen bedürfen wenig, um sich zu Monstern zu wandeln.
Die Macht zur unterscheidungslosen Auslöschung von Menschenleben ist verführerisch und berauschend. Gerade für jene, die aus der Position der Machtlosigkeit kommen. Sie gibt den Mördern die gottähnliche Fähigkeit, sich als Titanen aufzuspielen. Und lässt die Betreffenden andere zwingen, ihren verdorbenen und degenerierten Launen zu gehorchen.
Diese Fähigkeit gibt ihnen die Möglichkeit, Furcht, sogar Terror, in ihrer Umgebung zu erzeugen. In Kriegszeiten sind sie die All-Mächtigen und vollkommen Machtlosen. Dieser große Graben, den ich in Kriegen, über die ich berichtete, in Zentralafrika sowie später im Nahen Osten und ehemaligen Jugoslawien beobachtete, schafft eine wahnsinnige Welt, in welcher die Kräfte des Todes über alles herrschen. Dunkelheit gibt es in uns allen. Sie muss in Schach gehalten werden.
Krieg hat eine unbestreitbare Erotik für jene, die Waffen führen. Menschen werden im Krieg zu Objekten. Sie werden entmenschlicht. Sie existieren, um die Launen schwerbewaffneter Krieger zu befriedigen. Die Schwachen – Frauen, Kinder, Behinderte und die Alten – werden ausgegrenzt oder wie die Bauern des Schachspiels verschoben. Wahl der Worte, wie der Feind beschrieben wird, Entmenschlichung des Gegners – all das ist ein Prozess, der dazu führt, dass sie geschlagen, missbraucht, gefoltert und ermordet werden.
Krieg feiert Hypermännlichkeit. Er überhöht den Kaltschnäuzigen, Gefühllosen, Harten und Starken. Er wird durch Sadismus definiert. Und erniedrigt Sanftheit, Mitgefühl, Pflege und Liebe. Sexualität wird in Kriegszeiten in einen Akt der Bestialität verwandelt. Einer, der in der Sprache des Militär mit Stuhlgang gleichgesetzt wird.
Die Vergeistigung des Selbst in der Masse erzeugt Allmachtsgefühle. Hier wird Macht verstärkt und nach außen projiziert. Die Masse zu hinterfragen, die Brutalität und Unmenschlichkeit der bewaffneten Einheit irgendwie herauszufordern, führt dazu, aus dem magische Zirkel ausgeschlossen und selbst in ein Objekt des Hasses verwandelt zu werden.
Ich sah häufig physischen Mut auf dem Schlachtfeld. Nur selten beobachtete ich Zivilcourage. Diejenigen, die vom Geschehen angeekelt waren, schwiegen. Sie wollten die „Kameradschaft“ fürs Leben nicht gegen ein Paria-Dasein eintauschen. Ihnen fehlte die überragende Stärke, als Individuum aufzustehen. Von dem Augenblick an, ab dem man in die Brüderschaft der Killer eintritt, werden die niedrigsten und verdorbensten Lüste gefeiert. Widerstand ist insbesondere für junge Männer schwierug, die sich nach Macht und Bedeutung sehnen.
Primo Levi, der im Nazi-Todeslager Auschwitz war, schrieb über Chaim Rumkowski, einen jüdischen Kollaborateur, der das Ghetto Lodz als kleiner Tyrann für die Nazis leitete. Rumkowski, den man auch „König Chaim“ nannte, verwandelte das Ghetto in ein Sklaven-Arbeitslager, das die Nazis bereicherte – und ihn auch. Er ließ seine Gegner in die Todeslager deportieren und vergewaltigte oder belästigte junge Mädchen und Frauen.
Rumkowski forderte uneingeschränkten Gehorsam. Er verinnerlichte das Böse seiner Unterdrücker. Und er war, für Levi, ein Beispiel dessen, zu dem zu viele unter vergleichbaren Umständen werden können. „Wir sind alle in Rumkowski gespiegelt. Seine Uneindeutigkeit ist unsere. Sie ist unsere zweite Natur. Wir Zwitterwesen sind aus Lehm und Geist geformt“, schrieb Levi in seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“. „Sein Fieber ist unseres. Das Fieber unserer westlichen Zivilisation, ‘das mit Trompeten und Trommeln in die Hölle hinabsteigt’, und seine erbärmlichen Verzierungen sind das verzerrende Bild unserer Symbole des gesellschaftlichen Prestiges.“
„Wie Rumkowski sind wir auch so geblendet von Macht und Ansehen, dass wir unsere entscheidende Brüchigkeit vergessen“, fügt Levi hinzu. „Bereitwillig oder nicht, arrangieren wir uns mit Macht. Vergessend, dass wir alle im Ghetto sind, dass das Ghetto eingemauert ist, dass außerhalb des Ghettos die Herren des Todes regieren, und dass in der Nähe der Zug wartet.“
Das Problem, auf das Levi verweist, ist Macht; insbesondere die Macht über Leben oder Tod. Im Krieg muss unsere ganze moralische Stärke versammelt sein, um den Einflüsterungen der Macht zu widerstehen. Das ist schwierig. Gesellschaften im Krieg sind ihrem Wesen nach manichäisch. Es gibt keinen Raum für Schattierungen, Kontexte und Verständnis. Einmal diskutierte ich mit Christopher Hitchens. Als ich die Ungerechtigkeiten zu erklären suchte, die wir im Nahen Osten begangen hatten, schnitt er mir schreiend das Wort ab: „Schämen Sie sich, dass sie Selbstmordattentäter verteidigen!“ Die Menschlichkeit der Machtlosen und Dämonisierten im Krieg anzuerkennen – eine Menschlichkeit wie die unsrige – bedeutet, sich in Gefahr zu bringen. Jeder Versuch, die Stimmen der Anderen ertönen zu lassen, wird mit einem leeren Gerede wie dem von Hitchens beantwortet. Und die Dokumentation oder Zurückweisung der Missbräuche, die von unseren Mördern begangen werden, heißt, ein Verräter zu sein.
Nationalismus oder religiöser Extremismus sind narzistisch. Sie werden rassistisch kodiert. Er feiert unsere einzigartige Güte und Tugend, während wir diese Eigenschaften unseren Gegnern verweigern. Wir sehen in unsenrem gewaltsamen Handel eine Kraft zur Reinigung der Erde, sie vom Übel zu befreien, die in anderen Menschen verkörpert wird. Diese Feier unseres Selbst ist verführerisch.
Als ich öffentlich die Forderungen der Bush-Regierung nach einer Irak-Invasion zurückwies, kam ich an den Arbeitsplatz bei der „New York Times“. Dort fand ich meinen Anrufbeantworter voller anonymer Drohungen und hasserfüllter Nachrichten. Die von meiner Kritik ausgelöste Aggression war nicht politisch. Das war die Wut von Leuten, die Gründe bekamen, sie moralisch überlegen zu fühlen sowie ihre Verzweiflung und Entfremdung abzuschütteln. Viele fühlten sich, vielleicht zum ersten Mal, als zugehörig. Sie waren in der Lage, ihre Machtlosigkeit und Entfremdung zu kompensieren, indem sie sich mit der militärischen Macht identifizierten, die vom Staat und seinem edlen Kreuzzug projiziert wurde. Ich gefährdete diese Gefühle der Inklusion, des moralischen Triumphalismus und der Ermächtigung. Sie liebten die Euphorie und wollten nicht, dass ihr ein Dämpfer versetzt wurde.
Wie widersteht man dem giftigen Gebräu aus Narzismus, Gewalt und Kameradentum? Wie errichten wir ins uns Mauern, die uns daran hindern, wie Levi warnte, wie Rumkowski warnte? Wie finden wir einen, im Angesicht der Kräfte des Todes ein moralisches Leben zu führen?
Ich sehe die Welt durch die Linse meines Glaubens. Ich wuchs in einem religiösen Haushalt auf. Mein Vater war ein presbyterianischer Pfarrer. Meine Mutter, eine College-Professorin, hatte ebenfalls ein theologisches Seminar besucht. Lange Zeit lernte ich zu ignorieren, was Menschen verkündeten. „Religion ist“, wie H. Richard Niebuhr sagte, „eine gute Sache für gute Leute und eine schlechte Sache für schlechte Menschen“.
Nichtsdestotrotz musste ich im Nahen Osten und in den USA feststellen, als ich ein Buch über die christliche Rechte schrieb, dass religiöse Eiferer oder Fundamentalisten selten aus einer religiösen Tradition kommen. Üblicherweise haben sie eine säkulare und oft gestörte Vergangenheit. Sie suchen vielmehr den Anschein der Religiosität zur Heiligung von Unduldsamkeit, Heuchelei, Gewalt und Kriminalität. Sie verkehren die Kernlehren der großen monotheistischen Religionen: Das Wissen, dass Menschen, wenn sie sich vergöttlichen wollen, zu Satan werden. Diejenigen, die in einer religiösen Tradition aufwuchsen, sind sich normalerweise überaus bewusst vom inneren Kampf, den wir gegen die Versuchungen des Bösen, die Sünde und die Dunkelheit in unserem Inneren führen müssen. Sich selbst zu vergöttlichen, ist eine sehr andere Form des religiösen Ausdrucks als die Suche nach Verzeihen, Verständnis und Demut.
Es waren die monotheistischen Religionen, welche das Konzept des Individuums entwickelten. Das heißt, die Idee, dass wir verschieden von der Menge oder dem Stamm existieren können. Diese Glaubenslehren unterwiesen uns, dass wir als Individuen zu moralischen Entscheidungen aufgerufen sind – sogar jenen, die unseren Status und unsere Sicherheit gefährden können. Die zentrale Bedeutung der persönlichen Verantwortung im Islam, dem Judentum und Christentum wird vom Aufruf zur Uneigennützigkeit begleitet. Die Idee vom Einzelnen als einem eigenen moralischen Wesen – verbunden mit der Bedeutung der Nächstenliebe – legte den Grundstein für die offene Gesellschaft.
Uns wurde die Liebe zum Nächsten beigebracht, nicht zu unserem Stamm. Die Propheten – Moses, Muhammad und Jesus – sahen abweichende Meinung und Kritik zugunsten der Machtlosen als eine religiöse Beschäftigung. Sie verstanden die Wichtigkeit der Gewaltenteilung. Kultur und Gesellschaft wurden nicht geschaffen, um ausschließlich den Privilegierten und Mächtigen zu dienen. Das religiöse Leben, das diese Glaubenslehren unterrichteten, verlangt häufig von uns, dass wir der Macht widersprechen. Immanuel Kant basierte seine Ethik auf diesem radikalen Individualismus. Kants Motto, „erkenne immer, dass menschliche Individuen Ziele sind, und gebrauche diese nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“, wurzelt in den Lehren des Qur’an sowie der hebräischen und der griechischen Bibel.
Der Autor des Buches Salomo sagt, dass Gott dem menschlichen Bewusstsein „olam“ einhauchte. „Olam“ meint „Ewigkeit“, aber es kann auch als „Mysterium“ oder „Dunkelheit“ übersetzt werden. Wir wissen nicht, was dieses Mysterium meint. Es lenkt uns, wie der Dichter Kohn Keats schrieb, vom Denken ab. Sobald wir dieses Mysterium erkennen und ehren, funktionieren simple Arbeiten nicht mehr. Wir sind alle verloren geboren. Wir leiden alle. Und „das einzige gewisse Glück im Leben“, sagte Leo Tolstoi, „ist, für andere zu leben“.
Widerstand gegen das Böse, den abstrakten Hass, macht es für uns nötig, Beziehungen Dämonisierten und Unterdrückten aufzubauen. Er fordert von uns augenblickliches Bewusstsein unserer Fähigkeit zum Bösen. Er benötigt die emotionale Fähigkeit, das Heilige in allen Menschen, eigentlich im ganzen Leben, zu sehen. Dafür müssen wir in einer Welt des Mitgefühls und der Sanftheit verwurzelt sein und nicht der Hypermaskulinität. Wir müssen Wege finden, die tiefe Zersetzung zu überwinden, die das moderne, digitale Zeitalter kennzeichnet. Dafür braucht es die Fähigkeit zum Bewusstsein des Selbst, das alle Verlockungen der Massengefühle abwehren kann.
Die Fähigkeit zu lieben – nicht im Abstrakten, sondern im Spezifischen –, ist das Gegengift. Diejenigen, denen die Fähigkeit zu lieben fehlt, fürchten sich am meisten vor dem Tod. Sie wollen verzweifelt um jeden Preis leben – inklusive des Preises, den andere dafür zahlen müssen. Aus diesem Grund wird Liebe in Kriegszeiten verbannt und von ihrem Gegenteil, Kameradschaft, ersetzt. Letztere wird mit Freundschaft verwechselt.
Darauf verweist J. Glenn Gray in seinem Buch „The Warriors: Reflections on Men in Battle“. Darin schreibt er: „Der wesentliche Unterschied zwischen Kameradschaft und Freundschaft besteht meines Erachtens in einem gesteigerten Bewusstsein des Selbst in der Freundschaft und in der Unterdrückung des Selbstbewusstseins in der Kameradschaft.“
Diejenigen, die am fähigsten zur Gewaltausübung sind, wurden taub gemacht. Ihnen fehlt Selbstbewusstsein und daher auch Gewissen. Sie haben keine echten Freunde. Sie wollen zu Gott werden. Je entfremdeter sie sind, desto effektivere Killer werden sie. Eiferer und Fundamentalisten – und sie erscheinen auch in Form „neuer Atheisten“ wie Sam Harris – begehen die größtmöglichste Ketzerei. Sie verlagern das Böse nach außen. Sie wollen die Welt von ihm reinigen und personifizieren es in anderen Menschen. So werden sie zu Befähigten des Üblen.
Religiöses Leben ist nicht dazu gedacht, uns glücklich, sicher oder zufrieden zu machen. Es hat nicht den Zweck, uns ganz oder vollständig zu machen. Noch befreit es uns von Sorgen und Ängsten. Seine Absicht ist der Schutz vor uns selbst. Um menschliche Gemeinschaft zu ermöglichen. Uns erkennen zu lassen, dass die größte Kraft im Leben nicht Macht oder Vernunft ist, sondern Liebe.
In jedem Krieg, über den ich berichtet habe, ob im Nahen Osten oder dem ehemaligen Jugoslawien, waren es diese seltenen moralischen Individuen, denen die Überquerung kultureller, religiöser oder ethnischer Linien gelang, die sich am besten vor Hass schützten. Sie hatten die Fähigkeit zu echter Freundschaft und erkannten im Feind ihr eigenes Gesicht. Sobald ein Konflikt begann, retteten sie diese Beziehungen und ihr radikaler Individualismus, der oft in einem Glauben wurzelte, auch wenn sie als spezifische Individuen nicht immer überlebten.
Eine polarisierte Welt verdammt uns; eine, in der wir uns in unseren Stamm zurückziehen, und in der uns die sprachlichen, historischen und kulturellen Fertigkeiten fehlen, miteinander in Austausch zu treten. Unwissenheit fördert Hass. Hass sieht Gewalt als Errettung.
Die Straße zur Erlösung führt äußerlich in andere Kulturen und Gemeinschaften. Ihr Verständnis erfordert Zeit und Mühe. Sie wurzelt in Selbst-Erkenntnis. Sie fußt in der Stärke, ein moralisches Individuum zu sein, was dem Glauben wesensmäßig zu eigen ist. Und beruht auf der Erkenntnis, dass wir, wenn wir auf Seiten der Unterdrückten stehen, wie diese behandelt werden. Der Mut zu diesem Standpunkt nährt ungeachtet der Kosten die Güte, die auch in uns ist. Das ist ein Ausdruck von Glauben.
Das englische Original dieses Textes erschien am 5. Juni in „Renovatio“, dem Magazin des US-amerikanischen Zaytuna College.