,

Das verhängnisvolle Jahr 1979

Ausgabe 284

Foto: Wikimedia Commons | Lizenz: Public Domain

(KNA). Die Welt drehte sich rasend schnell. Kaum sei man von einem Ereignis überrollt worden, folgten auch schon zwei weitere mit doppeltem Tempo, schrieb die Londoner „Times“ in einem Rückblick auf das Jahr 1979. Man werde ganz schwindelig.
Der Potsdamer Historiker Frank Bösch hat diesen Strudel der Ereignisse vor 40 Jahren kühl analysiert. Er kommt zu der Einschätzung, dass 1979 eine Zeitenwende bedeutete: Chomeinis Ankunft im Iran, Johannes Paul II. in Polen, die Sowjets in Afghanistan und Deng Xiaopings kapitalistische Reformen in China: „In diesem Jahr häuften sich globale Ereignisse, die Türen zu unserer Gegenwart aufstießen“, schreibt der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in seinem Buch „Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann“.
Ins Wanken geriet die bipolare Ordnung des Kalten Krieges: Die Sowjetunion schwächelte – durch die Reise des polnischen Papstes in sein Heimatland und die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc, Chinas Kooperation mit den kapitalistischen Staaten und den Einmarsch und den zermürbenden Krieg in Afghanistan. Doch auch die USA waren verletzlich: durch die Revolution der Sandinisten in Nicaragua, die Geiselnahme im Iran und die ausgelöste zweite Ölkrise.
Wirtschaftspolitisch öffnete die Wahl von Margaret Thatcher in Großbritannien 1979 den Weg zu neoliberalen Deregulierungen. Entscheidend für ihren Wahlsieg war nicht zuletzt die vom Iran ausgelöste zweite Ölkrise und die dadurch verursachte Wirtschaftskrise. Auch in Deutschland schwenkten Union und FDP auf marktorientierte Reformen ein. Selbst China begann unter Deng Xiaoping eine wirtschaftliche Öffnung.
Zeitgleich stellte die Kernschmelze des Atomkraftwerks im US-amerikanischen ­Harrisburg die Nutzung der Atomkraft infrage. Das beflügelte die Gründung der Grünen, die sich 1979 europaweit zusammenschlossen und kurz danach auch auf Bundesebene.
1979 zeigte sich laut Bösch auch eine neue öffentliche Bedeutung der Religion – was ziemlich überraschend war. Mit Chomeini und Papst Johannes Paul II. veränderten zwei charismatische Religionsführer die Welt. Die Revolution polarisierte von Anfang an: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus positionierte sich der Islam als dritte globale Gestaltungsmacht. Im Westen wurde der „Islamismus“ zunehmend zum Feindbild. Doch Chomeinis Revolution polarisierte auch die muslimische Welt – machtpolitisch zwischen Saudi-Arabien und dem Iran.
Für Bösch zeigte sich die zunehmende Bedeutung der Religion auch im Einfluss der Befreiungstheologie in Lateinamerika und im Engagement der evangelischen Kirche für die Opposition in der DDR. „Generell wuchs in Deutschland seit ­dieser Zeit das Interesse an religiösen ­Formen jenseits des etablierten Kirchenbetriebs“, schreibt der Historiker. Dies zeigte sich bei Kirchen- und Katholikentagen und Friedensdemonstrationen, aber auch bei der Unterstützung für ­Nicaragua oder der Faszination der Linken für asiatische Religionen.
Die dramatische Verdichtung von Ereignissen im Jahr 1979 und ihr Zusammenspiel über nationale Grenzen und Regionen hinweg führt der Historiker auch auf die Medien und die wachsende internationale Verflechtung zurück. Die Rede ist von einer „beschleunigten Globalisierung“. Bis weit in die 1970er Jahre hätten Politiker Krisenherde nur selten persönlich besucht, schreibt Bösch. Der preisgünstige Flugverkehr habe es ermöglicht, dass Journalisten, Politiker, Unternehmer und Aktivisten rastlos um die Welt reisten und so zu einer globalen Wirkung von Ereignissen beigetragen hätten.
Auch die Medien sorgten für Beschleunigung und Verdichtung: Erstmals lieferte das Satellitenfernsehen Live-Bilder direkt in die Wohnzimmer. Die Flüchtlingsboote der vietnamesischen Boat-People, verschleierte Frauen im Iran oder lange Autoschlangen vor geschlossenen Tankstellen schufen „ikonische Situationen“. Persönlichkeiten wie Chomeini und Johannes Paul II. lockten Millionen auf die Straßen und wurden vor den Kameras zu charismatischen Persönlichkeiten, die die Geschichte selbst in die Hand nahmen.