Das Ziel ist der Norden

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Ein Kind ist mit wenig Geld und ohne Rückfahrkarte allein auf einem fremden Kontinent unterwegs. Für Eltern ist das eine Horror-Vorstellung. Für Tausende Flüchtlingskinder bei uns ist es Realität. Einige tauchen ab, andere kommen unter die Räder. Eine Spurensuche an oft unwirklichen Orten.
Hardheim/Rom (dpa). Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern stapft Karam im Nieselregen die Straße entlang. An einem Kreisverkehr sieht der 15-jährige Syrer zwei große Plakate. „Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichert, ist keiner mehr“, steht auf dem linken Plakat. Es ist blau. Ein Schlagbaum ist zu sehen. Und ein „Stop“-Schild. Dass er es ist, der da gestoppt werden soll, weiß der schlaksige Flüchtling mit dem Oberlippen-Flaum nicht. Er spricht nur Arabisch und ein bisschen Englisch. Von der Partei AfD, die Grenzen für Menschen wie ihn dicht machen will, hat er noch nie gehört. Auch den freundlich-ernst dreinblickenden älteren Mann auf dem zweiten Wahlplakat kennt Karam nicht. Er buchstabiert: „Winfried Kretschmann“ und fragt: „Ist der hier Provinzgouverneur?“
Seit November lebt der junge Syrer in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Hardheim in Baden-Württemberg. Mit seiner verwitweten Mutter hatte er zuvor in der türkischen Großstadt Kahramanmaras Zuflucht gefunden. Sie liegt rund 100 Kilometer von der Grenze zum Bürgerkriegsland Syrien entfernt. Als die Behörden seine mit Geld aus Deutschland finanzierte Flüchtlingsschule dicht machten, brach er auf. Mit drei Schulfreunden machte er sich auf den Weg. Heimlich – seine Mutter war entsetzt, als er ihr ein Handy-Foto von der Überfahrt im Schlauchboot nach Griechenland schickte.
So wie Karam ziehen Tausende Teenager aus Krisengebieten allein nach Europa. Ihr Ziele: ein Onkel in Schweden, ein Schulabschluss, Geldverdienen. Sie schlagen sich durch – oft mit Hilfe von Schlepperbanden, bis sie an Grenzen oder Bahnhöfen gestoppt und registriert werden. Einige schlüpfen durch alle Netze. Bis Anfang 2016 wuchs die Gruppe der jungen Flüchtlinge, die in Deutschland betreut werden, auf über 60.000. Vor rund einem Jahr wurden zwischen 14.000 und 18.000 gezählt. Behörden und Helfer, so warnen Kinderrechtler, kommen kaum mehr hinterher: mit dem Zählen, dem Unterbringen, dem Aufpassen, dem Helfen.
Eigentlich dürfte auch Karam nicht mehr in der ehemaligen Kaserne in Hardheim wohnen. Denn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – so das Fachwort – müssen in Heimen oder Jugendwohngruppen mit Betreuern einquartiert werden. Sein Umzug in den Nachbarort stehe kurz bevor, erzählt der Syrer. Eine Sozialarbeiterin habe gesagt, er werde dort mit fünf anderen Jugendlichen wohnen.
Karam wirkt unsicher, wie er das finden soll. Der Junge kommt aus Latakia, einer sonnigen Küstenstadt am Mittelmeer. Der dünn besiedelte Landstrich um Hardheim – im Volksmund „Badisch Sibirien“ genannt – ist ihm fremd.
Karam denkt manchmal daran abzuhauen, weiterzuziehen. Irgendwo anders in Deutschland ist es vielleicht besser, weniger einsam. Er sagt: „Hier im Dorf gibt es kaum Menschen“, und dass er endlich Abitur machen wolle. Andere Jugendliche reißen aus. Helfer melden sie als vermisst, die Suchaufträge versanden meist.
Anfang Februar schlug die europäische Polizeibehörde Europol Alarm: In den vergangenen zwei Jahren seien mindestens 10.000 allein reisende Flüchtlingskinder nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden. In Italien und Deutschland sei die Lage besonders schlimm. Nach einer Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) waren zu Jahresbeginn 4749 Minderjährige hierzulande als vermisst gemeldet.
Der Alarmruf wurde rasch abgeschwächt, etwa weil es Doppelzählungen gab. Aber die Horrorszenarien von schutzlosen Kindern, die womöglich von Pädophilen missbraucht werden, die für Hungerlöhne schuften oder von Bandenchefs zum Stehlen geschickt werden, bleiben im Kopf.
In Deutschland dürften solche Flüchtlingsschicksale Einzelfälle sein, sagen Ermittler. Rund 1000 Kilometer weiter südlich, in Italien, springt einem das Elend eher ins Auge. Vor einem Fastfood-Restaurant am römischen Hauptbahnhof Termini lungern jeden Tag Jungen rum. Sie suchen Kundschaft. Für schnellen Sex. Der afrikanische Türsteher des Imbiss’ begrüßt die meisten mit Handschlag, man kennt sich. Italienische Zeitungen nennen den Ort, hinter den sich die Stricher dann zurückziehen, die „Klagemauer“. Die meisten Jungen sind zwischen 14 und 17 Jahre alt.
„Das sind fast alles Ägypter, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge“, sagt Paolo Rozera, Generaldirektor der Kinderhilfsorganisation Unicef Italien. Unicef zählt die rund 1300 jungen Ägypter, die nach Regierungsangaben illegal in Italien arbeiten und untergetaucht sind, mit zu den verschwundenen Minderjährigen. Oliviero Forti von der Caritas berichtet: „Sie wollen in Italien schnell viel Geld machen, um ihre Familien zu unterstützen.“ Der psychologische Druck, den ihre Familien ausübten, sei immens. Oft werde der Älteste vorgeschickt, um den Weg für andere zu ebnen. „Es handelt sich um ein Migrationsprojekt der ganzen Familie“, sagt Forti.
Auch in den Markthallen von Guidonia vor den Toren Roms bieten junge Migranten ihre Dienste an. Für Minilöhne von teils zwei Euro die Stunde hieven sie Kisten von Lastwagen, verrichten Schwerstarbeit. Durch den Haupteingang können die Schwarzarbeiter nicht. Deshalb haben sie den Zaun aufgebogen, auf der Rückseite der Märkte, wo kiloweise Müll lagert.
Die große Masse der vermissten Minderjährigen aus Afrika und Asien hat Italien aber wohl längst wieder verlassen. Ziel: Nordeuropa. Auf dem Weg schlafen sie auf Straßen, in besetzten Häusern oder Zelten. Manchmal schicken Familien aus der Heimat Reisegeld. „Diese Jugendlichen sind nur schwer zu kontrollieren“, erläutert Michele Prosperi von der Kinderschutzgruppe Save the Children. Die meisten weigerten sich, in Italien ihre Fingerabdrücke abzugeben. Gewalt dürften die Behörden bei Minderjährigen nicht anwenden.
In Italien klappt die Kontrolle nicht. In Deutschland setzen sich die Lücken fort: „Dass so viele Jugendliche als vermisst gelten, liegt vor allem daran, dass wir kein einheitliches Registrierungssystem hatten“, erklärt Birgit Zeller, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Sie sagt: Wenn ein minderjähriger Flüchtling irgendwo abgehauen ist und später an einem anderen Ort wieder auftaucht, gibt es oft keine Rückmeldung. Sein Name wird deshalb nicht von der Liste der Vermissten gestrichen.
Dass Minderjährige abtauchen, gehört auch für Sozialarbeiter Thomas Köck, Leiter des Christophorus Jugendwerks in Breisach am Rhein, zum Alltag. „Etwa 20 Prozent der Jugendlichen verschwinden auf diese Tour.“
Vereinzelt sei es vorgekommen, dass Schlepper versucht hätten, Jugendliche als Drogenkuriere einzusetzen oder zum Diebstahl zu zwingen, um „Reisekosten abzuarbeiten“, sagt Köck. Doch die meisten Fälle sind anders gelagert. Einige wollen weiterziehen zu Verwandten, andere in die Großstädte.
„Manchmal haut ein Jugendlicher ab, weil er zum Beispiel nach Berlin will und wir ihm sagen, dass wir ihm dabei nicht helfen können“, erklärt Martin Albinus vom Jugendamt im niedersächsischen Braunschweig. Die Jugendlichen werden auf die Bundesländer verteilt, und Berlin habe seine Aufnahmequote schon übererfüllt.
Die Bundespolizei registriert an der Grenze und den Bahnhöfen täglich Hunderte von jungen Neuankömmlingen. „Wir haben keine Hinweise darauf, dass ausländische Kinder und Jugendliche, die hier am Hauptbahnhof ankommen, von Kriminellen angesprochen werden und dann verschwinden“, sagt Ralf Ströher, Sprecher der Bundespolizeiinspektion in Frankfurt am Main.
Auf seinem Schreibtisch liegt der Bericht von letzter Nacht. Die Kollegen haben dem Jugendamt fünf Jungen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak übergeben. Auch eine 14 Jahre alte Äthiopierin war dabei.
Mädchen kommen viel seltener ohne Familie nach Europa. In Deutschland ist nicht mal jedes zehnte Flüchtlingskind, das allein eintrifft, weiblich. Und sie haben oft andere Fluchtgründe. Mädchen fliehen etwa vor Gewalt oder sexuellem Missbrauch.
Was den Ausländerbehörden ebenfalls Sorgen bereitet, sind die sehr jungen Mädchen, die von Flüchtlingen als angebliche Ehefrauen mitgebracht werden. Einige Männer beantragen die Vormundschaft für ihre „Frau“. Monika Michell von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes warnt vor solchen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie sagt: „Es mag im Einzelfall so sein, dass das Mädchen bei dem Mann bleiben will, der ja oft die einzige Bezugsperson für sie ist, aber in jedem Fall muss das Jugendamt die Vormundschaft übernehmen und sie über ihre Rechte aufklären.“
In Freiburg wurde unlängst ein 23 Jahre alter Syrer mit seiner 15-jährigen „Ehefrau“ und einem gemeinsamen Kind im Alter von zwei Jahren vorstellig. Das sei für die Behördenvertreter keine einfache Situation gewesen, sagt Sozialarbeiter Köck. Vater, Mutter und Kind seien schließlich von einer deutschen Familie aufgenommen worden.
Anders liegt der Fall der achtjährigen Zeinab. Sie kam mit ihrem Bruder Rodi Hasan (21). Das kurdische Geschwisterpaar aus der syrischen Stadt Kamischli teilt sich jetzt ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Auf der Fensterbank stehen Stofftiere, die Helfer gebracht haben. Auf dem Gang riecht es streng.
In der Hauptstadt lebt schon eine ältere Schwester. Sie hat einen Kurden aus Neukölln geheiratet und kam über den Ehegattennachzug nach Deutschland. Mann, Kind und Baby wohnen in einem Zimmer. „Wenn sie eine größere Wohnung gefunden haben, wollen sie Zeinab zu sich nehmen und vielleicht auch mich“, sagt der Bruder. Die Flucht sei schrecklich gewesen und teuer, erzählt Rodi Hasan. Zu zweit hätten sie 10 500 Euro bezahlt. Die Summe habe die Familie zusammengespart, Verwandte hätten ihnen einen Teil geliehen.
Den Großteil des Geldes kassierten Schlepper. Sie seien über die „Balkan-Route“ gekommen, berichtet der Automechaniker. Eingepfercht in einem Lebensmittel-Laster, mit 50 anderen Flüchtlingen, manche ringen nach Luft. Dann die langen Fußmärsche durch den Wald. „Ich musste Zeinab manchmal auf meinen Schultern tragen“, sagt er. „Wenn ich gewusst hätte, wie schwer dieser Weg ist, ich wäre nicht gekommen.“
Zeinab leidet unter der Trennung von den Eltern, die in der Türkei sind. „ICH LIB MAMA“, hat sie auf einen Zettel geschrieben, den sie fest in der Hand hält. Deutsch lernt das schmale Mädchen in einer „Willkommensklasse“.
Warum sind er und die Schwester überhaupt allein nach Deutschland gekommen? Rodi Hasan sagt, ihre Eltern und die beiden anderen Schwestern seien an der grünen Grenze in die Türkei aufgehalten worden. Und hätten die Geschwister nicht in der Türkei auf sie warten können? Nun, der Vater ist Bauarbeiter, die Familie nicht reich, und die Schlepper wollen viel Geld. Rodi Hasan weiß, dass er als Erwachsener keinen Anspruch darauf hat, seine Eltern und die anderen Geschwister über einen Antrag auf Familienzusammenführung legal nach Deutschland zu holen.
Das kann nur Zeinab, für die ihm die Eltern zwischenzeitlich die Vormundschaft übertragen haben. Martin Albinus vom Jugendamt in Braunschweig findet die Idee, den Familiennachzug für Minderjährige zu begrenzen, „politisch richtig“, damit Kinder und Jugendliche nicht mehr allein losgeschickt werden. Gleichzeitig fordert er einen „Bestandsschutz“ – also das Gelten der alten Regeln – für diejenigen Minderjährigen, die schon in Deutschland sind.
Weder registriert noch vermisst ist ein anderer Flüchtling: Der Name des schmächtigen Jungen, der an einer Autobahnraststätte an der A7 bei Hamburg wartet, taucht in keiner Statistik auf. Am späten Abend sind die Gardinen der Lastwagen auf dem Parkplatz zugezogen, die Fahrer schlafen. Im Restaurant ist wenig los. Ein idealer Ort für ein Gespräch, das niemand beobachten soll.
Den Treffpunkt hat ein Mann ausgesucht, der anonym bleiben will. Er darf Michael genannt werden, in Wirklichkeit heißt er anders. „Hier sind wir unter uns“, sagt der Enddreißiger und blickt sich dennoch ständig um. Seit dem vergangenen August lebt der Junge – sein Name soll hier Emad sein – bei Michael. Genau genommen wird Emad von Michael versteckt. Der Mann sagt, der Junge sei 13 Jahre alt und stamme aus Murzuk im Süden von Libyen. Kennengelernt hätten sie sich im August in München. In einer Feldküche unweit des Hauptbahnhofs, wo Michael Suppe an Flüchtlinge verteilte, die mit Zügen aus Budapest kamen.
Papiere hat Emad demnach keine, nichts, was an sein früheres Leben erinnert. Michael spricht Arabisch. An der Fluchtgeschichte, die ihm der Junge geschildert hat, zweifelt er nicht. Sie habe begonnen, als Emad elf Jahre alt war. Zusammen mit seinem 17-jährigen Bruder sei er über Ägypten nach Griechenland gelangt. In Serbien habe er den Bruder aus den Augen verloren. „Er hatte mich in einen Zug nach Ungarn gesetzt“, übersetzt Michael Emads Schilderung. Er sagt, für Emad habe dann ein Leben als Straßenkind begonnen, mit Stehlen und Betteln – bis er in München ankam.
Der Junge wirkt älter. Die Augen reglos, keine Tränen, der Blick meist auf den Boden gerichtet. „Ich weiß bis heute nicht, wo mein Bruder ist“, fügt er nach kurzer Pause hinzu.
Michael sagt, die Entscheidung, Emad unter seine Fittiche zu nehmen, habe er „aus dem Bauch heraus“ getroffen. Er weiß, dass das, was er tut, nicht erlaubt ist – und nicht kontrollierbar. Für minderjährige Flüchtlinge ist das Jugendamt zuständig. „Ich bin weder ein Held, noch ein Verbrecher. Ich folge einzig meinem Gewissen“, rechtfertigt sich Michael. Und: „Unser Asylsystem ist nicht für die besonderen Schutzbedürfnisse der Kinder ausgelegt. Sie bleiben auf der Strecke.“
Emad wolle zu Verwandten nach Schweden. Mit einem kleinen Kreis von Unterstützern bereitet Michael seine Weiterreise vor. In wenigen Tagen soll es losgehen.