Debatte: Erziehung ist etwas anderes als die Zurichtung unserer Kinder. Von Khalid Baig

Ausgabe 209

„Wenn sie die Schule verlassen, dann haben meine Jungs vier Dinge, deren Vermittlung ich als meine Pflicht ansehe: Gottesfurcht, Loyalität, Mut und Großzügigkeit.“ (Thomas Arnold, bedeutender ­britischer Pädagoge des 19. ­Jahrhunderts)

(iz). Die Erziehung ist – wie freier Handel, Pressefreiheit und die “universalen Menschenrechte” – eines jener Themen, deren Wert als augen­scheinlich betrachtet wird. Logisch­erweise qualifiziert sich jedes Paket vor unseren Toren, das mit diesem quasi-magischen Etikett versehen ist, für einen sofortigen Einlass. ­Fragen werden nicht gestellt. ­Diese unkritische Akzeptanz hat die Diskussion derartiger lebenswichtiger Fragen ernsthaft beschädigt.

In der Erziehung beispielsweise drehen sich die meisten unserer Diskussionen um Statistiken zur Schreib- und Lesefähigkeit ­sowie um die Notwendigkeit von ­Min­destmengen bei Studienabschlüssen in einem bestimmten Land – basierend auf dem Standard der Industrieländer. Die zentrale Frage nach dem Lehrplan – oder sogar die fundamentalere nach dem Sinn von Erziehung – erregt unsere Aufmerksamkeit nicht. Unsere Aufgabe besteht augenscheinlich nur darin, den Fußstapfen des ­Bisherigen zu folgen.

In der Moderne wurde Erziehung zu einer Verlängerung des ­ka­pitalistischen Systems. Ihr Zweck ist demnach die Bereitstellung qualifi­zierter Arbeitskräfte für ­seine Maschinerie und willige Konsumenten für seine Produkte. Oder um es höflicher zu formulieren: Der Sinn der Erziehung ist die Schaffung von wirtschaftlichem Wohlstand für ein Land. Gleiches gilt heute für die Sinnhaftigkeit der ­Er­ziehung auf individueller Ebene. Sie gilt nur als die Befähigung, sich einen anständigen Lebensunterhalt zu verdienen.

Obwohl ein [islamisch] ­erlaubter Lebensunterhalt und die Sorge um das ökonomische Wohlergehen für ein Land selbstverständlich ebenfalls wichtige Ziele für Muslime sind, ist die Verbindung von Erzie­hung mit finanziellen Zielen extrem unglücklich. Eine solche Haltung verwandelt die Zentren des Lernens in bloße Berufs­bil­dungs­zentren, soweit es Form und Geist betrifft. Dergleichen ­degra­diert Erziehung und dadurch die Gesellschaft.

Wir müssen uns an die ausschlag­gebende, aber ihre vergessene Rolle erinnern. Ohne einen gemeinsamen Rahmen, der ihre Mitglieder verbindet, kann keine menschliche Gesellschaft dauerhaft existie­ren. Sie wird sich auflösen und von anderen Gesellschaften aufgesogen werden.

Des Weiteren muss diese Gesellschaft sicher­stel­len, dass die gemeinsame Grundlage von Generation zu ­Generation weitergegeben wird. Dies ist der wirkliche Sinn von Erziehung. Der Zustand des Erziehungswesens lässt sich direkt in die Gesundheit oder Krankheit jener Gesellschaft übersetzen, der sie dienen soll.

Materielle Probleme plagen alle Schichten der muslimischen Gemeinschaften. Warum finden sich so viele von ihnen heute im Griff von so viel Materialismus wieder? Wie könnte man etwas anderes erwarten, wenn unser gesamtes Erzie­hungssystem das Evangelium des Materialismus predigt? Warum sehen wir in unserem Verhalten ­ge­genüber unserem Nächsten so wenige Manifestationen des Verhaltens und der Ethik des Islam? Weil es dem dominanten Erziehungswesen sämtlicher moralischer Unterweisung fehlt.

Erziehung im Islam bedeutete immer auch eine Pflege des mensch­­lichen Wesens. Moralische Unterweisung, Tarbija, war einer ihrer unveräußerlichen Bestandteile. Der Lehrer war nicht nur ein bloßer Dozent oder ein bloßer ­Profes­sioneller, sondern ein Mentor und ein Vorbild.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Kein Vater kann seinen Kindern ein größeres Geschenk geben als gute, moralische Unterweisung.“ Alle Pläne zur Verbesserung unserer Erziehung bleiben vollkommen ergebnislos, solange wir diese wichtige Tatsache nicht verstehen.