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Den Ärger in Taten wandeln

Ausgabe 291

Foto: senivpetro | Freepik.com

(Radical Middle Way). Ich arbeite als Hakim. Meine Aufgabe ist die Heilung von Menschen – alles von Halsschmerzen, über Kopfschmerzen bis zu emotionalen und psychologischen Problemen. Im Lauf der Jahre konnte ich beobachten, dass die meisten chronischen Schwierigkeiten und tiefsitzenden Krankheiten in den Einstellungen der Leute wurzeln. Diese entwickeln sich über die Jahre durch die Schwierigkeiten des Lebens. Viele Krankheiten resultieren aus dem Gegenteil dessen, was uns ein erfülltes Leben bringt.

In unseren Städten der entwickelten Welt stehen die Krankheiten in starkem Zusammenhang mit diesen Dingen: Gewalt, Ärger, Wut und häusliche Gewalt. Sie übersetzen sich zu sozialer Gewalt und Gewalt in der Welt. Wir wissen alle, dass Gewalt zu mehr Gewalt führt. Wir wissen, dass eine Person, die missbraucht, zuvor missbraucht wurde. Was lässt Menschen diesen Kreislauf wiederholen?

Wir sehen das nicht nur bei Einzelnen, sondern auch ganzen sozialen Gruppen oder Völkern. Unser Ziel in Hinblick auf Heilung muss im Ende des gewalttätigen Kreislaufes bestehen. Einmal sagte jemand zu mir: „Du weißt, auf einer gewissen Ebene kennen wir alle die Rolle des Täters und des Opfers.“ Wir kennen beide Rollen, denn wir haben diesen Impuls und diese Möglichkeit in uns.

Allah ist großzügig in Seiner Versorgung. Also gibt Er uns über das hinaus, was die eigentliche Grundlage unserer Lebensweise (arab. din) darstellt. In diesen Grundlagen, durch die wir Rechtleitung finden, hat Er uns Mittel an die Hand gegeben. Ich habe nach ihnen mein ganzes Leben zur Heilung von Menschen mit Problemen gesucht.

Wenn wir die Lebenspraxis des Islam betrachten, dann finden sich darin somatische Therapien. Wir praktizieren Gehorsam mit unseren Körpern. In den Haltungen der Niederwerfung arbeiten wir mit unserem Körper. Wir praktizieren unsere Reinigung, indem wie spenden (arab. sadaqa). Wir praktizieren Reinigung, indem wir die Kaaba umkreisen. Auf dem wachsenden Feld der somatischen Therapie bedeutet das, dass unser Nervensystem, in den hunderttausenden Nerven, die Allah uns gegeben hat, unser Dasein in Seiner Welt fühlen und erfahren können.

Eines der grundlegenden Prinzipien, die wir akzeptieren, besteht darin, dass wir uns nicht verabschieden. Wir suchen uns keinen hohen spirituellen Ort, an dem wir abwesend von der Welt sind. Heute – insbesondere in den entwickelten Ländern – sind wir abwesend in unseren Körpern. Wir sind nicht mehr Teil der Welt und nicht mehr Teil unserer Sinne. Forschungen belegen, dass die Weltbevölkerung – gerade in den reichen Teilen der Welt – zusehends die Fähigkeit verliert, den anderen zu spüren. Das gleiche gilt für das Gehör und den verwendeten Wortschatz. Das ist bemerkenswert, denn es heißt, dass wir auf einer gewissen Weise sterben. Wir sind immer weniger in der Welt anwesend.

Der Prophet, Frieden und Segen auf ihm, gilt unter den Heilern, oder Hakims, als der empfindungsfähigste Mensch; als derjenige, der am gegenwärtigsten war. Er war in der Welt, wo er handelte und mit den Menschen interagierte. Es ist als Muslime unsere Pflicht, genauso zu sein. Schwinden aber unsere Sinne, dann entfernen wir uns von unseren Körpern – ob Muslime oder Nichtmuslime. Wir müssen wieder Wege finden, „bei Sinnen“ zu sein, wie es heißt. Sind wir wirklich gegenwärtig in der uns gegebenen Lebenspraxis? Es ist kein Zufall, dass Allah sie uns in diesem Augenblick der Zeit gegeben hat. Der Moment, in dem sich Gesellschaften und Gemeinschaften in Unordnung wiederfinden.

Außerhalb sogenannter Entwicklungsländer ist es schwierig, eine Situation vorzufinden, in denen es eine zusammenhängende Gemeinschaft gibt. Menschen in England und noch mehr in den USA fragen mich: „Was kannst Du uns über unsere Gemeinschaft sagen?“ Ich antworte dann: „Von welcher Gemeinschaft sprichst du? Redest von jenen Leuten, die gelegentlich zusammenkommen, beten, sich dann wieder in ihren Autos entfernen und weit entfernt voneinander leben?“

Das ist eine einzigartige Zeit für die medizinische Weisheitstradition im Islam. Als Muslime müssen wir durch die Linse der Hikma das gegenwärtige Geschehen erkennen und angemessen einschätzen, damit wir die Natur eines Problems verstehen können. Einst war es so, dass wir durch die Weise, wie Allah uns schuf, die Fähigkeit hatten, uns von Stress und Trauma zu heilen. Wenn wir nicht in uns selbst gegenwärtig sind, kann dieser Prozess nicht stattfinden.

Es gibt heute so viele Bedürftige, die unter einem Trauma leiden und denen Gewalt angetan wurde. Unter manchen Umständen werden selbst die besten Leute durchdrehen und Grenzen überschreiten. Daher schlage ich vor, dass wir Wege finden, in denen sich vollkommene Heilung für uns findet. Nur so können wir zu Menschen werden, die Herr ihrer Sinne, Gefühle und Impulse werden.

Die Praktiken, die wir im Islam finden, haben auch den Zweck, dass wir zur Besinnung kommen. Wir müssen dabei aber eine denkende und bewusste Rolle erkennen, dass wir diese Rolle aktiv annehmen müssen. Wenn unsere Sinne schwinden und wir weniger anwesend sind, können wir in der Moderne nur auf eine abstrakte Weise leben. Das 20. Jahrhundert war darin einmalig, dass es eine Überfülle von Bildern gibt, die außerhalb von uns liegen. Das galt noch nicht vor 100 Jahren. Wir hatten nicht all diese Dinge, die uns von der Gegenwart in Allahs Schöpfung trennten – seinen Bäumen, Pflanzen und Tieren.

Vorrangig müssen wir erkennen, dass dieser Körper von Allah für uns entworfen wurde, um fühlend gegenwärtig zu sein. Wir haben diese Fähigkeit verloren und fühlen nicht mehr, wie wir sollten. Und so können wir wütend werden und protestieren. Aber seien wir ehrlich: Wären wir bei Sinnen gewesen, dann hätten wir schon längst protestiert. Wären wir in den USA so gewesen und wirklich mitfühlend, hätten wir längst gegen Kriege wie dem im Irak protestiert. Dann hätten wir bereits vor zehn Jahren Steine gegen das Weiße Haus geworfen.

Es kümmert uns, denn wir haben nicht die Fähigkeit zum Fühlen, und barmherzig gegenwärtig zu sein, was uns zum Handeln veranlassen würde. Wir setzen uns bequem hin und nehmen es leicht. Wir haben Strategien zur Vermeidung dieser Dinge entwickelt, denn es ist zu viel, auf die Sorge und die Schwierigkeit zu blicken. Ich habe Jugendliche getroffen, die mir sagten: „Die einzige Lösung, die ich für das Leben in der Welt gefunden habe, ist es, taub zu sein.“

Wir müssen atmen, zusammen essen, gemeinsam spazieren gehen, miteinander sprechen, gemeinsam Zeit verbringen und aufwachsen. Egal was wir tun, wir müssen Wege finden, das zu tun. Es geht darum, nicht nur Ideen zu haben, sondern zu fühlen. Zu fühlen, was uns zum Handeln veranlasst. Wollen wir als Muslime unsere Rolle in Allahs Schöpfung erfüllen, müssen wir uns heilen und die Mittel für diese Heilung finden.

Unter Muslimen gibt es manchmal die Vorstellung: „Wenn wir nur über diesen Wandel nachdenken, wird er geschehen.“ In den meisten Fällen bedeutet das Recycling des Selbst, dass es keinen Wandel gibt, wenn nichts von außen kommt. Wir brauchen jemanden, der uns dabei hilft, den Zyklus der Wiederholung zu durchbrechen, in dem wir immer nur die Gleichen bleiben. Ein Schaikh sagte einmal: „Es gibt keinen statischen Punkt auf dem Weg zu Allah. Entweder bewegt ihr euch auf Allah zu, oder ihr entfernt euch von Ihm.“ Es gibt keinen statischen Punkt. Und doch glauben wir, dass wir in ihm einen bequemen Ort finden. Aber Zeit ist kurz und Heilung kommt durch Handlung – mit Aufrichtigkeit und Mitgefühl von unserem Wesen. Wir beten, dass wir genug in unseren Herzen haben, um die Menschen in unserem Umfeld zu heilen.

Allah ist großzügig und Er gibt uns die zusätzlichen Werkzeuge, die wir benötigen. Und diese Dinge – wie die somatische Arbeit und Therapie – kann unsere Praxis des Dins beleben. Wenn wir gegenwärtig in unserem Körper sind und uns das durch Techniken und Methoden aneignen, dann wird unsere Anbetung Allahs bedeutungsvoller.