Der heilige Gral: Das Jungfernhäutchen der muslimischen Frau

Ausgabe 259

(iz). Die Versessenheit nicht weniger unserer Glaubensgeschwister, vermeintlich absolute Kontrolle über fremde Vaginen zu erlangen, erreichte zuletzt in Ägypten einen neuen Höhepunkt. Mit seiner Forderung, dass Bewerberinnen an Universitäten sich zukünftig Tests unterziehen lassen sollen, die ihnen ihre Jungfräulichkeit attestieren, entfachte der ägyptische Parlamentsabgeordnete Elhami Agina über die Landesgrenzen hinweg eine Debatte, die an Wahnsinn grenzt und symbolisch eine Krankheit attestiert, an der zig muslimische Communities leiden.
Akt der Gewalt
Das Offensichtliche und Wichtigste zuerst: Die Realisierung solch eines abstrusen Gesetzesentwurfes würde einem Akt der Gewalt gleichkommen, der einen eklatanten und traumatisierenden Einschnitt in die Privatsphäre und die körperliche Integrität von Frauen darstellt. Man(n) müsse sich nur ausmalen, selbst davon betroffen zu sein und als kleine Aufmerksamkeit zum Start des Studiums – zusätzlich zu Notizblock und Stift mit Uni‐Logo – im wahrsten Sinne des Wortes in den Schritt gefasst zu werden.
Doch selbst jenseits solcher Überlegungen: Aus rein medizinischer Perspektive betrachtet ist allein der Versuch, die Jungfräulichkeit einer Frau anhand ihrer körperlichen Merkmale zu attestieren, unmöglich, da zum einen nicht jede Frau mit einem Jungfernhäutchen geboren wird und zum anderen es nicht selten schon vor dem ersten Geschlechtsakt reißen kann. Darüber hinaus müssen sexuelle Aktivitäten von Frauen keineswegs ihr Jungfernhäutchen involvieren. Was in solchen Fällen überhaupt noch Jungfräulichkeit bedeutet, wäre damit ein weiterer Diskussionsgegenstand.
Dass eine solche Untersuchung auch aus islamisch-theologischer Perspektive ohne Weiteres abzulehnen ist, beweist zum einen der Qur’an selbst, da er als Beweis für außerehelichen Geschlechtsverkehr ausschließlich eine Zeugenschaft von vier vertrauenswürdigen Personen vorsieht. Das Prinzip hinter dieser Vorschrift ist auch klar: Es ist das direkt bezeugte Handeln selbst, nicht irgendwelche anhand von körperlichen Merkmalen abgeleiteten Schlussfolgerungen zweiter Ordnung, die den Beweis für einen Bruch der Vorschrift liefern. Daneben findet sich in keiner Hadith-Sammlung ein Hinweis darauf, dass der Prophet Muhammad, Friede und Segen auf ihm, je jemanden unterwies, die Genitalien seiner Gefolgschaft zu analysieren. Auch unternahmen Rechtsgelehrte jeglicher Rechtsschulen über die islamische Geschichte und verschiedenste Herrschaftsformen hinweg nie den Versuch, die „Jungfräulichkeit“ der Menschen bis zur Abtastung ihres Intimbereichs zu attestieren und das Recht auf Intimsphäre derart zu beschneiden. Vor dem Hintergrund des islamischen Scheidungsrechts, das bekanntlich mehrmalige Verheiratungen sowohl von Männern als auch von Frauen anerkennt, ist die Heiratsfähigkeit beziehungsweise der „Heiratswert“ einer Frau explizit nicht an irgendwelche körperlichen Reinheitsvorstellungen wie etwa die Jungfräulichkeit gebunden.
Selektive Scharia-Polizei
Abgesehen von solchen – zugegebenermaßen eher theoretischen – Überlegungen stellt sich hier vordergründig eine ganz pragmatische Frage: Wieso lässt es jene Moralapostel, die stets deklarieren, die „Reinheit“ und den „Schutz der Ehre der Frau“ zu verteidigen, kalt, dass ganze muslimische Familien und Gesellschaften tagtäglich Gottes Botschaft ohrfeigen und verfälschen, indem sie der weiblichen Keuschheit Vorrang vor der männlichen geben und qur’anisch-egalitäre Richtlinien ignorieren? Oder besser gesagt: Wieso interessiert die Jungfräulichkeit des Mannes so gut wie niemanden? Wo bleibt die Sorge um den Schutz der männlichen „Ehre“?
Was spielt sich im Kopf und Herzen eines Muslims ab, der etwa mit 15 Frauen vorehelichen Geschlechtsverkehr hatte und mir im Gespräch fordernd klarmachen will, dass Gott ihm das Recht einräume, nur eine Jungfrau zur Frau zu nehmen?
Wie kann es sein, dass ein muslimischer Bekannter mir im Beisein seiner muslimischen Frau weismachen will, dass der Qur’an Männern erlaube, vor der Ehe sexuell aktiv zu sein, und es gleichzeitig Frauen streng untersage? Wie ist es möglich, dass in Situationen wie solchen, in denen sogar erfundene Qur’anbezüge zur Legitimation von patriarchalen und sexistischen Ideologien erfunden werden, keine der anwesenden Frauen es für notwendig hielt, verbal zu protestieren?
Da verwundert es wenig, dass viele Kinder und junge Erwachsene, die solchen Elternhäusern und Gemeinschaften entstammen, den vorgelebten Denkstrukturen schnell erliegen und sie selbst vertreten – so beispielsweise, wenn keiner fragt, wann der Sohn nach Hause kommt, mit wem er unterwegs ist und wohin er geht, während das Mädchen pünktlich um 20 Uhr an der Türschwelle antanzen muss. Nicht zu vergessen, dass sie akribisch aufpassen muss, ja nicht von irgendeiner lästergeilen Schwiegermutter der Cousine fünften Grades mit einem Arbeitskollegen oder Kommilitonen in der Öffentlichkeit gesichtet zu werden. Sonst ist der „gute Ruf“ schnell weg oder, um es in den Worten einer Freundin auszudrücken, „die Chance, einen anständigen Jungen zu heiraten“, flöten gegangen.
Wo bleiben wir?
Sind wir bereits so verblendet, dass wir nicht sehen, dass in unserem Umfeld dieser Wolf im Schafspelz – unter dem Deckmantel des Islam – allgegenwärtig seine Bahnen dreht? Sind unsere Herzen schon so tot, dass uns diese Ungerechtigkeit nichts ausmacht? Uns mangelt es nicht an Elan, lauthals gegen PEGIDA, AfD, Trump, Klöckner und Co. zu protestieren, hier aber schon?
Missstände in den eigenen Reihen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen beseitigen. Das ist klar. Ein persönliches Bekenntnis zur Gerechtigkeit kann aber durchaus jeder für sich machen.
Lasst uns doch, wenn wir in unseren Kontexten mit solchen Aussagen und Fehlkonzeptionen konfrontiert werden – auch wenn wir keine großartige Lust auf lange und ermüdende Diskussionen haben – zumindest durch einen göttlichen Vers gerecht sprechen und den besten Gegenentwurf gegen diese Art der Besessenheit und religiösen Unbildung anbieten, indem wir Gott das letzte Wort einräumen, der sagt:
„Gewiss, muslimische Männer und muslimische Frauen, gläubige Männer und gläubige Frauen, ergebene Männer und ergebene Frauen, wahrhaftige Männer und wahrhaftige Frauen, standhafte Männer und standhafte Frauen, demütige Männer und demütige Frauen, Almosen gebende Männer und Almosen gebende Frauen, fastende Männer und fastende Frauen, Männer, die ihre Scham hüten und Frauen, die ihre Scham hüten, und Allahs viel gedenkende Männer und gedenkende Frauen, für (all) sie hat Allah Vergebung und großartigen Lohn bereitet.“ (Al-Ahzab, 35)