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Der Kampf um die Bürgerlichkeit

Ausgabe 292

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(iz). „Der Staat ist eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger zum Zweck der Erfüllung der besten Lebensführung“, heißt es bei Aristoteles, dem Begründer der europäischen Politikwissenschaften. Das alte Griechenland mit seinen Stadtstaaten lieferte die Bühne für die Gründung der ersten Demokratien und einer ersten Idee von Bürgerrechten. Heute ist die Lage komplizierter. Der Begriff des Bürgers und des Bürgerlichen ist Gegenstand vieler Debatten: was macht den Bürger aus? Wer ist überhaupt Bürger und unter ­welchen Voraussetzungen nimmt man am demokratischen Gemeinwesen teil?

Das moderne Staatsbürgerrecht der Bundesrepublik hat den Begriff verfeinert, teilweise neu definiert. Es spielt keine Rolle mehr ob man eine Frau ist, einen Immigrationshintergrund hat, oder welcher Religion man angehört. Das Grundgesetz geht grundsätzlich von der Gleichberechtigung aller Bürger aus, solange sie den Gesetzen des Landes ­folgen und die sich daraus ergebenden Pflichten einhalten. Auch wenn die rechtliche Definition des Bürgers eindeutig ist, hat sich dennoch ein politischer Streit um das Wesen des Bürgerlichen entzündet.

Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 spielt das wachsende Bewusstsein über die Existenz von neuen und alten Bürgern muslimischen Glaubens eine Rolle. Ihr wachsendes Selbstbewusstsein, selbst deutsche Bürger muslimischen Glaubens zu sein, provoziert Teile der deutschen Gesellschaft. Fakt ist, die große Mehrheit der in Deutschland ­lebenden Muslime nimmt ihre Bürgereigenschaft ernst und grenzt sich insoweit von einer Minderheit von Fundamentalisten und Extremisten ab, die sich ausdrücklich nicht als Bürger definieren wollen. Die meisten Muslime sind nicht nur bereit die Verfassung zu achten, Steuern zu bezahlen oder zu wählen, sie beanspruchen auch verfassungsrechtlich abgesicherte Rechte, unter Anderem ihre Religion auszuüben, sich zu organisieren oder Moscheen zu bauen.

Inzwischen ist es vor allem die AfD, die die Möglichkeit eines muslimischen Bürgertums mehr oder weniger offen ablehnt. Ironischerweise unterliegt sie selbst dem Vorwurf keine bürgerliche Partei zu sein und zumindest in Teilen ein legalistisches Verhältnis zur Demokratie zu pflegen. In der WELT ist ein Streit zu diesem Thema, zwischen dem AfD-Sprecher Alexander Gauland und dem Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt dokumentiert. Gauland behauptet in seinem Beitrag, dass es den Bürger in der islamischen Vorstellungswelt nicht gebe, sondern nur den Glaubensbruder als Teil der Umma. Die These basiert auf der Binsenweisheit, dass es im Ursprung des Islam, ebenso wie zu Beginn des Christentums, noch keinen Begriff des Bürgertums gab. Er unterstellt gleichzeitig, dass die Muslime, quasi als ewige Fundamentalisten, nicht in der Lage seien mit neuen politischen Realitäten umzugehen. Gönnerhaft fügt Gauland hinzu, dass zwar der einzelne Muslim auch ein normaler Staatsbürger sein könne, aber die Implementierung muslimischer Strukturen verantwortungslos sei. Poschardt erinnert dagegen in seiner Replik an die andere Seite der Realität muslimischer Präsenz in Deutschland: „Dass in Elitegymnasien ebenso wie in Verla­gen, Kliniken oder Notarskanzleien muslimische Bürger zum Besten, Inspirierendsten, Weltoffensten, Liberalsten gehören, was dieses Land zu bieten hat – dazu fehlt Gauland die Vorstellung.“

Die AfD, ähnlich wie die FPÖ in ­Österreich, fordert nicht offen die Abschaffung des Religionsverfassungsrechts, wohl aber das Verbot des politischen ­Islam. Es ist genau dieser Begriff des Politischen, der im Zentrum aller Debatten über die Existenz muslimischer Bürger steht. Die Logik der islamkritischen Stimmen ist zunächst simpel. Jeder Bürger, unabhängig von seiner Konfession, darf sich grundsätzlich für politische Ziele einsetzen, allerdings, nicht für Ziele des politischen Islam. In der FAZ definieren die Politikwissenschaftler Heiko Heinisch und Nino Scholz die – aus ­ihrer Sicht – eindeutige Absicht des ­politischen Islam: die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung eines weltweiten islamischen Staates unter ­einem Kalifat. Natürlich ist in dieser These impliziert, dass diese Absichten nicht bürgerlich sein können.

Eine Kritik am Begriff des „Islamismus“ war bisher, dass die Schnittmenge der „Islamisten“ undifferenziert Verbrecher und Mörder, aber auch beispielsweise einfache Funktionäre des organisierten Islam umfasst. Die Zweiteilung in „militante“ und „legalistische“, also mit friedlichen Mitteln agierende, „Islamisten“ soll hier Abhilfe schaffen. Dabei ist es nicht das angebliche Ziel, dass diese Muslime trennen soll, wohl aber die Methodik. Während die Einen offen kämpfen und agitieren, soll die andere Gruppe die Gesellschaft „nur“ unterwandern. „Legalistische Islamisten nutzen die Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaat, aber es wäre ein fataler ­Irrtum in ihnen Demokraten zu sehen“, schreiben die Autoren in der FAZ ­abschließend.

Zweifellos sind militante und gewaltbereite Muslime in der deutschen muslimischen Gemeinschaft weitgehend ­isoliert. Darüber hinaus ist es leichter den Verdacht zu äußern, als wirklich zu ­belegen, dass eine relevante Zahl von Muslimen tatsächlich die Abschaffung der Demokratie plant und eine Etablierung eines Kalifats anstrebt. Viele Statistiken, die die angebliche politische Einstellung von Muslimen prüfen, sind hier wenig differenziert. Auch wenn die Existenz radikaler Muslime kaum ­geleugnet werden kann, die reale Möglichkeit einer derartigen Islamisierung der deutschen Gesellschaft liegt wohl eher auf der theoretischen Ebene. Die Angst vor dem Islam bleibt gleichzeitig ein wichtiges Element rechter Mobilisierung.

Das praktische Problem liegt auf der Ebene des organisierten Islam in Deutschland. Sind diese Strukturen wirklich, folgt man der obigen Theorie, Teil des legalistischen, politischen Islam, ihre Mitglieder per se keine Bürger und keine Demokraten? Wer entscheidet darüber und wer erforscht die geheimen Absichten dieser Menschen? Susanne Schröter fordert in ihrem neuen Buch über den „politischen Islam“ nicht nur den Abbruch der Beziehungen des ­Staates zu den islamischen Verbänden. Sie sieht in ihrem Text die islamisch geprägte Welt überhaupt am Scheideweg. Sie folgert: „ein Teil der Muslime ist entschlossen, am Aufbau der säkularisierten Welt festzuhalten, ein anderer Teil treibt die Durchsetzung einer islamistischen normativen Ordnung voran“. Später ­gesellen sich zu dieser Vorstellung weitere Begriffspaare, der eine Teil dieser zwei Gruppen ist aus Sicht Schröters liberal, der andere Teil konservativ. Sie schreibt weiter, in diesem Sinne des „Entweder-Oder“: „Es gibt konservative und liberale Muslime, rückwärtsgewandte Funda­mentalisten und progressive Erneuerer, patriarchalische Hardliner und aufmüpfige Feministinnen.“

Da der Vorwurf, dem politischen ­Islam angehörig zu sein, mit erheblichen sozialen Folgen einhergeht, flüchten viele Muslime in Deutschland in das Private oder aber sie gründen neue Organisationsformen des politisch korrekten Islam, der sich ganz ausdrücklich zur Liberalität und Demokratie bekennt. Die neuen Strukturen sind ein Ausdruck der po­litischen Unzufriedenheit gegenüber dem mangelnden Reformwillen der Verbände. Ob damit der generelle Argwohn gegenüber organisierten Muslimen schwindet, oder sich die Misstrauenskultur gegen jede muslimische Organisationsform durchsetzt, ist eine offene Frage. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass das politische Bekenntnis inzwischen als wichtiger Teil der Religionsausübung angesehen wird.

Letztendlich führt die Debatte um den politischen Islam und die Bürgerlichkeit auch bei Muslimen immerhin zu einer grundsätzlichen Selbstreflexion: Was ist der Islam? Was ist Deutsch? Inzwischen drehen sich viele Veranstaltungen im innermuslimischen Diskurs um diese Frage. Dabei wird erinnert, dass der ­Islam soziale und ökonomische Antworten gibt und nicht nur auf Politik reduziert werden kann. Viele Muslime sehen ihre eigene Rolle und die Funktion ihrer Einrichtungen als eine Stärkung der ­Zivilgesellschaft an. Diskutiert wird aber, ob der sogenannte politische Islam nur und ausschließlich in Diktatur und Gewalt führen muss. Viele Muslime wehren sich auch gegen die dialektische Zuspitzung entweder liberal oder konservativ, rückwärtsgewandt oder fortschrittlich zu sein. Die Lebensrealität der Muslime ist letztlich deutlich komplizierter als es die politische Dialektik und ihre Einteilungen manchmal wahr haben will.

Hannah Arendt hat daran erinnert, dass das Private niemals politisch ist. Der Rückzug in das Private und eine Entpolitisierung der Muslime birgt für die Minderheit die Gefahr, dass es kein ­politisches Subjekt mehr geben könnte, dass auf die Rechte der Muslime in diesem Land pocht. Die kleinen, neuen Verbände der Muslime haben bisher kaum politisches Gewicht. Die Lage ist aber durchaus ernst. Nicht wenige Muslime fürchten bereits, dass eines Tages dem Verbot des politischen Islam, dass Verbot des öffentlich praktizierten Islam folgen könnte. Muslime bilden mit ihren Moscheen schließlich in jedem Fall eine öffentliche Sphäre und jede Form der Öffentlichkeit ist schließlich auch ­politisch.