Der osmanische Harem war vor allem eine Talentschmiede

Ausgabe 219

Zu den Dingen, die bis heute die Phantasie anregen und bei Zeitgenossen für Verwirrungen sorgen, gehört der Harem des Sultans im Topkapi-Palast. Befeuert von orientalistischen Vorstellungen und Sehnsüchten wurde so eine Fata Morgana in den Köpfen geschaffen, die mit den historischen Fakten wenig zu tun hat. Auch über dieses Thema klärt das Autorenduo Akgün­düz und Öztürk seine Leser im Kapitel über das „Soziale Leben und Harem im Osmani­schen Staat“ auf.

Wenn vom „osmanischen Harem“ gesprochen wird, dann denken viele automatisch an den Topkapi-Palast. Die Leute glauben, dies sei der Ort der Sultane für Entspannung und Unterhaltung gewesen. Jede gegenteilige Erklärung wird nicht zur Kenntnis genommen. Touristenbroschüren, offizielle Führer im Palast sowie einige übel meinende Autoren und Gelehrte beschreiben den Palast als Ort, an dem sich die Sultane angeblich ihrem Vergnü­gen hingegeben hätten.

Während ich dieses Buch schrieb, besuchte ich den Harem im Topkapi-Palast ­zusammen mit einigen Fotografen, die Aufnahmen machen sollten. Ich erklärte ihnen, dass der Raum, der als Großherrlicher Speisesaal (Hunkar Sofasi) bezeichnet wird, und in dem die Sultane angeblich ihren „Ausschweifungen“ mit den Konkubinen nachgegangen seien, in Wirklichkeit anderen Zwecken gedient habe. Die Kalligrafien an den Wänden ­waren Verse aus dem Qur’an und Hadithe des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, über das Familienleben, gutes Benehmen und Verbesserung des Charakters. Als er das hörte, bekannte einer der Anwesenden, dass er bis zu diesem Zeitpunkt den Besuchern die Kalligrafien als erotische Verse der Sultane beschrieben habe. Ein Mann fragte, ob dies wirklich Qur’anverse und Hadithe seien. Als ich das bejahte, begann er zu weinen.

Handelt es sich um Paläste wie Topkapi oder Yildiz, dann sollte man von ihnen nicht als luxuriöse Gemächer denken, in denen Sulta­ne mit ihren Familien residierten. Die Gebäude waren wie Regierungssitze heutiger Regierungs- oder Staatsoberhäupter – ­inklusive der Ministerien und Kanzleien. Der Teil, in dem sie lebten, machte den Harem aus. Bei genauerer Betrachtung dürften diese nicht luxuriöser als die Räumlichkeiten heutiger Eliten gewesen sein.

Zweitens beschreibt der Begriff „Harem“ ­einen heiligen Ort oder Zufluchtsort, der nicht jedem zugänglich ist. Der Al-Haram Asch-Scharif in Mekka wird deshalb so genannt, weil er unverletzlich ist. Er ist ein Ort, der vor jeder Profanisierung geschützt ist. Eine weitere Bedeutung des Wortes findet sich in den „Haramain“; den Städten ­Mekka und Medina, die von Nichtmuslimen nicht betreten werden dürfen.

In der islamischen Welt werden damit auch die Räumlichkeiten von Frauen bezeichnet. Der Zutritt zu ihnen ist Männern – in Abhängigkeit ihres Verwandtschaftsverhältnisses – untersagt. In der osmanischen Zeit waren normale Häuser und Paläste – die Residenzen von Sultanen, Prinzen und Würden­trägern – zweigeteilt; und zwar in Haremlik und Selamlik. Im ersten Bereich hielten sich Frauen auf. Daher wurden die Gattinnen der Sultane als Harem bezeichnet, aber auch der Ort, an dem sie lebten als Harem-i Humayun (Imperialer Harem). Obwohl in der osmanischen Zeit die Räumlichkeiten, in welchen die Sultane lebten, auch Heimstatt der Glückseligkeit (Dar al-Sa’ada) genannt wurden, war der Begriff Harem viel weiter verbreitet. (…)

Die Bücher westlicher Autoren über den Harem ähneln erotischen Romanen und sind voll gänzlich erfundener Szenenarien. Unglücklicherweise waren es zuerst westliche Autoren, die über den Erwerb weiblicher Konkubinen-Sklavinnen für den Harem schrieben. Den Anfang macht Thomas Dallan im 16. Jahrhundert, der die Haremsdamen von Mehmed II. beschrieb. Ihm folgte der venezianische Botschafter Ottaviano Bon (1606-1609), Robert Withers (1650), Rico, Lady Montagu (1717-178) und der französische Fabrikant Flachet (1745-1755). Alle folgenden, westlichen Schriftsteller wiederholten Bons verschwenderische Beschreibung von Odalisken, wie diese dem Sultan vorgeführt werden. (…)

Um die Wahrheit der Angelegenheit zu erfahren und wie westliche Autoren die Tatsachen verzerrten, sollte man Muallam [Eyü­boglu, eine der ersten türkischen Architektin­nen, Anm.d.Red] Anhegger, Gattin des französischen Historikers Robert Anhegger, lesen. Sie schrieb in den 1960ern über die Restaurierungsarbeiten am Harem: „Ich erkannte, dass der Harem überhaupt keine Verbindung mit dem hatte, was Europäer darüber seit Jahrhunderten geschrieben haben. Der Harem war keine Einrichtung, die ins Leben gerufen wurde, damit der Sultan mit einer Frau seiner Wahl schlafen konnte. Dafür war er noch nicht einmal architektonisch entworfen. Es wäre dem Sultan gar nicht möglich gewesen, die Dienerinnen zu sehen oder sich eine auszusuchen. Die Türen, Räume und Gänge waren nicht entsprechend ausgelegt. Die Sklavinnen schliefen in Schlafsälen zu 25 und standen unter der strikten Überwachung durch die Kalfas im Obergeschoss. Die Sultansmutter schlief in ihrem eige­nen Apartment, seine Gattinnen ebenso und der Sultan in seinem eigenen. Die Sultansmutter konnte die Gattinnen auswählen und ihm präsentieren. Hätte der Sultan zu den Räumlichkeiten der Leibeigenen gehen wollen, dann hätte er sich in einen ­Vogel verwandeln müssen und dorthin fliegen!

Der Harem wurde als eine Universität konzipiert, mit den Sklavinnen als Studentinnen. Wie dem auch sei, über der Tür stand geschrieben: ‘Oh Allah, öffne uns alle Türen zum Guten!’ In Übereinstimmung damit wurden die meisten von ihnen verheiratet, wobei der Sultan ihre Aussteuer bezahlte. Denn die Jariyes waren keine Sklavinnen, vor allem keine Gespielinnen. Meiner Meinung nach lässt es sich am besten so formulieren, dass sie die Adoptivkinder des Sultans waren. Wie adoptierte Kinder wurden sie gut behan­delt und ausgebildet. Bei der Planung des Harems muss es das Ziel gewesen sein, dass niemand einen Augenblick nutzloser Zeit hatte. Tanzen, Musik, Nähen, Bildung… es war, als wäre der Harem eine militärische Organisation gewesen. Mir wurde dies immer wieder bewusst, während ich den Harem restau­rierte. Ich ging so darin auf, dass ich, als mir von der Regierung aus unannehmbaren Gründen das Gehalt gekürzt wurde, weiterhin vom Morgengrauen bis zu Sonnenunter­gang daran arbeitete. Um es kurz zu machen, von der Restaurierung des Harem profitierte ich nicht materiell, aber ich kam zum Verständnis einer Einrichtung, die obskur blieb. Selbst, wenn ich dafür im Dunkeln herumtasten musste.

Die Frauen im Harem waren sehr gut gebildet und geschult, intelligent und fähig. Diejenigen, die nicht nur schön, sondern auch clever waren, wollten in den Regierungsrängen aufsteigen. Ich sehe darin nichts besonderes oder falsches. Wie selbstbewusste Männer spielten die Frauen ihre Trümpfe bis zum Letzten aus. Egal, was man darüber denkt: Es gibt keine Notwendigkeit, schön zu sein, um in der Welt aufzusteigen. Diejenigen, welche die Möglichkeit zur Bildung am besten nutzten, schrieben und sprachen schön und begannen den Wettbewerb mit einem Vorteil. Aus diesen Gründen griff der Harem auch zuweilen mit seinen Händen nach der politischen Macht, was ganz natürlich war. Mit Sicherheit entstanden einige umbarmher­zige und ehrgeizige Sultane im Harem. Aber ich sehe die Frauen des Harems als Menschen, die für sich Möglichkeiten zu schaffen suchten. Und, genau wie Männer, scheiterten sie manchmal darin oder hatten Erfolg. Wenn es die Gegebenheiten erforderten, konnten sie genauso unbarmherzig wie Männer sein.“

Es wäre möglich, die obige Passage zu einer Zusammenfassung dieses Buches zu machen. In der Tat: „Die Bücher, die ausländische Autoren geschrieben haben, sind zumeist Phantasieprodukte. Sie sind nichts anderes als die schriftliche oder bildliche Darstellung von Hörensagen. Keines dieser Werke hat den Harem davon erlöst, eine dünkte und myste­riöse Welt der Einbildung zu sein. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste davon ist, dass unsere muslimischen Frauen Männer meiden, verhüllt auf die Straße gehen und sich nicht in gemischte Gesellschaft begeben. Es gibt zahllose Bilder, Statuen und Beschreibungen über die Leben, Kleider und Erscheinungen der Frauen, Töchter von euro­päischen Herrschern. Und doch, mit Ausnahme weniger Treffen mit den Botschaftergattinen in den Palästen und Bildern von ihnen, gibt es keine vergleichbaren Quellen für unsere Frauen hier.“