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Der Pionier der Musiktherapie

Ausgabe 300

Foto: Christian Hack, via flickr | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Rahmi Oruc Güvenc wurde 1948 in der anatolischen Kleinstadt Tavsanli (Provinz Kütahya) geboren. Seine Eltern stammten beiderseits von tatarischen Familien ab, die ihre Heimat in den Wirren des 19. Jahrhunderts verlassen mussten und in das Osmanische Reich flüchteten.

Mit zwölf Jahren hatte er einen Traum: Ein Mann gab ihm eine Geige in die Hand und forderte ihn auf zu spielen. Der kleine Oruc sagte im Traum, dass er das ja nicht könne, aber der Fremde beharrte darauf. Oruc folgte seiner Anweisung, und siehe da, er konnte im Traum darauf spielen. Am nächsten Tag erzählte Oruc den Traum seinem Vater, und dieser war ein Mensch, der sich trotz des recht profanen Berufs des Druckers, sehr wohl der Bedeutung der Intuition und Träume bewusst war, und er trieb von irgendwoher eine Kindergeige für seinen Sohn auf. Damit begann seine Lebensbeschäftigung mit der Musik, die ihn später unter anderem zum Komponisten zahlreicher klassischer türkischer Musikstücke, Illahis und einer eigenen türkisch-osmanischen Makame werden ließ.

Eine andere prägende und schließlich sein Leben bestimmende Konstante, war die Beschäftigung mit Tasawwuf. Auch hier lernte er seinen ersten Lehrer in seiner Geburtsstadt kennen, seine weiteren Wege führten ihn dann sowohl im Leben und Beruf, wie auch als geistiger Schüler, zu Lehrern in Istanbul, wo er die Lehrerlaubnis von sechs Tarikatwegen erhielt.

Als Thema für seine Doktorarbeit wählte Oruc Güvenc die alte Methode der Musiktherapie, deren Grundbaustein von Ibn Sina oder Al-Farabi gelegt worden war. Erforschung und Beschäftigung dieser Therapie mündete schließlich in der Entwicklung der heutigen „Altorientalischen Musiktherapie“, die Güvenc mit seiner Forschungs- und Konzertgruppe „Tümata“ an der Universitätsklinik Istanbul und in Österreich und später in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie in einem eigenen internationalen Hochschullehrgang zu lehren begann. Unter anderem setzte er sich auch für die Errichtung des Museums in der Beyazit II.-Stiftung in Edirne ein, die heute der Dokumentation dieser alten Heilmethoden dient.

Gleichzeitig mit der Musiktherapie, der damit verbundenen türkisch-osmanischen Makama-Musik, der pentatonischen Musik Zentralasiens und den dazu gehörigen Instrumenten, begann Oruc auch seine Lehrautorität im Tasawwuf in Europa auszuüben. In Europa deshalb, weil es damals in der Türkei sehr risikoreich war, wegen des herrschenden Verbots des Tasawwuf und seiner Stellung als Staatsbediensteter der Universität. So wurde er zu einem der meistbesuchten Leiter von Seminaren und Workshops. Da er dabei vor allem Leute aus dem Milieu der geistig Suchenden in den 1980er und 1990er Jahren ansprach, konnte er zahllosen Menschen damit einen Weg hin zur islamischen Religion und ihrer tieferen Bedeutung eröffnen.

Seine Erforschung und Wiederentdeckung alter Musikinstrumente führte unter anderem zu einem osmanischen Harfenmodell, das auch einen Auftritt in der bekannten Serie „Süleyman“ im türkischen Fernsehen hatte. Neben den Instrumenten Ud und Ney spielte er vor allem meisterhaft die Rebab. Dieser Vorläufer der modernen Geige war schon vom Aussterben bedroht, durch seinen Einsatz tauchte sie in den letzten Jahren wieder in den staatlichen Orchestern der Türkei auf. Interessanterweise befindet sich das einzige alte Beleginstrument in der Sammlung der Musikfreunde in Wien, wo es der Autor dieser Zeilen bei einer Ausstellung, in dem es aber anders benannt wurde, entdecken durfte.

Während der am 1. Mai begonnenen und 114 Tage andauernden Semazeremonie unterzog sich Oruc Güvenc einer Operation, an deren Folgen er am 5. Juli 2017 aus dieser Welt schied. Mit dem Weggehen dieses großen Brückenbauers und Türöffners aus dieser Welt „verliert“, wie es der türkische Kulturminister ausdrückte, „die Welt eine Legende“. Aber die Brücken, die er gebaut hat, stehen auf festen Fundamenten und in zahllosen Herzen, inscha’Allah.