Der wahre Zweck des Daseins

Ausgabe 256

Foto: Heike Zappe, Humboldt Universität Berlin | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Im Folgenden möchten wir uns mit verschiedenen Ideen des Lebenssinns beschäftigen. Dazu wird die Lehre des deutschen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt mit den Lehren des Islams verglichen.
Um die Frage nach dem Lebenssinn des Menschen beantworten zu können, schauen wir uns erst die Menschenbilder der entsprechenden Autoren an. Ist es ein positives oder negatives, und wie wirkt sich dieses auf den Lebenssinn des Menschen aus? Möchten wir wissen, wie dieser Lebenssinn erfüllt werden kann, so spielt die Bildung des Menschen eine große Rolle. Wir werden feststellen, dass, trotz der Unterschiedlichkeit der Absichten und der Quellen der Erkenntnis, die Endabsicht, nämlich die Näherung des Subjektes an die Objektivität; oder mit anderen Worten, die Näherung eines Individuums an ein Ideal, zu ähnlichen Ergebnissen führt und sich im Alltag, trotz der verschiedenen Begrifflichkeiten, stark ähnelt.
„[J]eder Mensch trägt eigentlich, wie gut er sey, einen noch besseren Menschen in sich, der sein viel eigentlicheres Selbst ausmacht (…).“ Diese Aussage Humboldts steht für die hohen Ansprüche, die er an den Menschen stellt. Das Individuum ist nicht nur an sich als Mensch, als vernunftbegabtes Wesen, gut. Sondern es wohnt ihm die Fähigkeit inne, sich selbst auszubilden. Diese Aussage beinhaltet eine Reihe von Annahmen über den Menschen. Ihm wird damit die Freiheit des Willens zugeschrieben, die Humboldt jedoch nicht tiefer erläutert.
Die Frage ist hier, wie sich der Mensch zum Besseren entwickeln kann und was er tun muss, um diese Entwicklung voranzubringen. Dazu müssen wir wissen, dass der Mensch für Humboldt der Mittelpunkt der Welt ist. Alles, was existiert, existiert, um dem Menschen zu dienen. Und des Menschen Lebenssinn fasst er wie folgt zusammen: „Die Entwicklung aller Keime aber, die in der individuellen Anlage eines Menschenlebens liegen, halte ich für den wahren Zweck des irdischen Daseyns, nicht gerade das Glück.“
Der Mensch ist nicht dazu da, um den Genüssen zu frönen und sich dem Verlangen seiner Triebe zu fügen, „(…) sondern sein Schicksal zu vollenden und alles Menschliche auf seine Weise zu erschöpfen“ ist sein Zweck. Sein Schicksal ist es, sich zu bilden. Diese Bildung soll so beschaffen sein, dass sie den Menschen – der Subjektivität und Individuum ist – dem Idealen, also dem Objektiven, näher bringt. Denn die Objektivität im humboldtschen Sinne ist das, was die Ansichten und Perspektiven aller Subjekte in sich fasst. Die Totalität allen möglichen Wissens. Der Sinn des Lebens ist es, sich diesem anzunähern.
Doch bleibt die humboldtsche Bildung nicht auf das Theoretische beschränkt. Ein Wissen, welches das Individuum im Kopf hat, sich jedoch nicht auf das Wesen, auf den Charakter auswirkt, ist fruchtlos. Das Wissen nur, das den Menschen zu einem besseren, also idealeren Menschen ‘bildet’, ist von Nutzen. „Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.“
Die Notwendigkeit der Bildung hin zu einem Ideal ist demnach erläutert. Nun stellt sich die Frage, wie dieses Ideal aussieht und wo es herkommt. Humboldt greift dabei auf die Griechen zurück. Ziel sei es, sich mit dem Geist der Griechen zu bekleiden, um eine Renaissance der deutschen Gedankenwelt zu bewirken. Bloße Imitation sei unmöglich, da für ihn die Griechen eine einmalige Erscheinung in der Welt darstellen. Doch mit dieser Erscheinung, so die humboldtsche Auffassung, ist der Welt ein Geschenk gemacht worden, das allen Zeiten ein Vorbild biete: „Ihre Kenntnis ist uns nicht bloß angenehm, nützlich und notwendig, nur in ihr finden wir das Ideal dessen, was wir selbst seyn und hervorbringen möchten; wenn jeder andre Theil der Geschichte uns mit menschlicher Klugheit und menschlicher Erfahrung bereichert, so schöpfen wir aus der Betrachtung der Griechen etwas mehr als Irdisches, ja beinah Göttliches.“ Wenn Humboldt jedoch Griechen sagt, so meint er nicht alle Griechen. Der Laie mag an Sokrates, Plato und Aristoteles denken, doch diese sind seinen Gedanken fern, ja Letzterer ist ihm gar „ungriechisch“. Den griechischen Geist stellen für Humboldt Homer, Sophokles, Aristophanes und Pindar dar. Es geht ihm lediglich um Autoren und Dichter, die Ideales abbilden. Dieses Ideale wirkt durch die bloße Beschäftigung bildend für den Geist, nämlich dadurch, dass es begeistert.
So wie den Griechen nur Wert beigemessen wird, wenn sie zur Bildung beitragen, so erhält auch alles, dem der Mensch begegnet, dann nur Wert, wenn es dem Zweck, sich zu bilden, dient. Und alle Facetten der Welt dienen diesem. Was Humboldt unter Welt versteht, fasst Clemens Menze prägnant zusammen: „Humboldts Weltbegriff ist nicht naturwissenschaftlich zu fassen. Welt bedeutet für Humboldt Kunst und Wissenschaft, Geschichte, Gegenwartsgeist, Persönlichkeitsbilder, Sprache und beschränkt sich nicht auf Dinghaftes. Welt ist für Humboldt primär der Inbegriff alles Kulturellen in der Welt.“ Neue Perspektiven sollen also erarbeitet werden. Denn der Geist der Menschheit ist die Summe aller Perspektiven und sich diesem anzunähern, ist nur mit mannigfaltigen Erfahrungen möglich. In diesen Erfahrungen lernt der Mensch sich selbst kennen und entwickelt seine Persönlichkeit hin zum Ideal: „Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: ‘Ich habe so viel Welt als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt’, der hat sein Ziel erfüllt, der kann nicht wünschen, wieder anzufangen, um nun das erst Rechte zu ergreifen. Er hat getan, was im höheren Sinne des Worts Leben heißt (…).“
Das Leben in den verschiedensten Situationen, das Lesen verschiedenster Bücher und das Kennenlernen verschiedener Menschen eröffnen dem Menschen seinen Horizont. Es wird ihm möglich, zu lernen, wann er wo wie zu handeln hat, nämlich so, wie es dem Ideal – der Idee der Menschheit – am nächsten kommt. Doch Humboldt erkannte womöglich die Schwierigkeit, die sich daraus ergab: Was ist, wenn jemand etwas mitteilt, doch das Gesagte falsch aufgenommen wird? Wenn jemand etwas völlig anders meint als das, was verstanden wird? „Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre (…).“ Dies ist ein Schlüsselzitat, das wir anhand eines zeitgenössischen Beispiels erörtern möchten: Ein Muslim benutzt das Wort Religion und sagt: „Ich bin religiös und deshalb bin ich aufgeklärt.“ Dies stößt bei einem nicht-muslimischen Europäer auf Verwirrung. Dieser sagt: „Ich bin aufgeklärt, aber das hat nichts mit der Religion zu tun.“ Und ein Mancher sagt gar: „Weil ich keine Religion habe, bin ich aufgeklärt.“ Einen Hinweis darauf, weshalb alle diese Aussagen wahr sind, obwohl doch alle denselben Begriff, „Religion“, benutzen, gibt der Humboldt-Spezialist Menze: „Die Sprache ist der Ausdruck einer Nation, und durch die Sprache gewinnt der Menschenbeobachter Einblick in den Charakter einer Nation und eines Volkes und darüber hinaus in den Charakter einer Individualität, die dieser Nation und diesem Volke angehört. Dieser Einblick aber ist die Voraussetzung für Bildung.“
Wir können die Erkenntnisse also wie folgt zusammenfassen: Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er spricht und da der Zweck der Sprache die Bildung ist, wird das Menschsein erst dadurch bestätigt, wenn man sich bildet. Sich zu bilden bedeutet, neue Perspektiven zu gewinnen und seinen Charakter durch den Einfluss der Perspektiven zu bessern. Wie der Charakter auszusehen hat, wird durch die gewonnenen Perspektiven deutlich, wobei die Griechen eine besondere Rolle spielen. Ihre Methode, die Welt aufzufassen, gilt es nachzueifern. Ihr Ideal kann zwar nicht erreicht werden, doch im Versuch, es zu beleben, erhält die Gegenwart eine derartige Begeisterung, die Kraft gibt und die Richtung weist, um sich und die Welt zu bessern.
Kommen wir nun zum Vergleich der humboldtschen Lehre mit jener des Islam. Geschichtlich weist „das Ideal“ den Hauptunterschied zwischen der islamischen Lehre und dem Denken Humboldts auf. Muhammad, seine Gefährten und deren Nachfolgegeneration gelten Muslimen als „das Ideal“ der Geschichte, als die Idee der Menschheit, die durch den Qur’an so festgelegt wird. Der Weg ähnelt sich jedoch sehr. Wissen aneignen und anwenden: intellektuell als auch charakterlich. Intellektuelles Wissen ist völlig unnütz, wenn es sich nicht positiv auf den Charakter des Menschen auswirkt.
Die Grundannahme über den Menschen stimmt überein: Der Mensch ist in der Lage, sich selbst zu verbessern. Er wurde von Allah so erschaffen, dass er sowohl das beste aller Geschöpfe als auch das schlechteste aller Geschöpfe sein kann: „Wir erschufen den Menschen in vollendeter Gestalt, alsdann machten wir ihn zum Niedrigsten der Niedrigen.“
Eine Erklärung dieser Worte bietet der muslimische Dichter und Denker Rumi: „Wahrlich, Gott schuf die Engel und legte in sie den Intellekt, und Er schuf das Vieh und legte in sie die Begierde, und Er schuf die Kinder Adams und legte in sie Intellekt und Begierde. Der, dessen Intellekt seine Begierde überkommt, ist höher als die Engel, und der, dessen Begierde seinen Intellekt überkommt, ist niedriger als das Vieh.“ Es liegt demnach beim Menschen, ob sein Intellekt oder seine Begierde stärker ist.
An einer Stelle im Qur’an sagt Gott über die Gefährten Muhammads: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die jemals für die Menschen geschaffen wurde. Ihr gebietet das Rechte, verbietet das Schlechte und glaubt an Gott!“ Aus diesem Grund sind sie für die Muslime das, was die Griechen für Humboldt sind. Das Ideal in der Geschichte, das bereits Realität geworden ist. Muhammad und seine Gefährten repräsentieren die Idee der Menschheit und haben diese, was durch Allah im Qur’an bestätigt wird, ausgelebt. Johann Wolfgang von Goethe fasst die muslimische Philosophie, die sowohl ihn, als auch Eckermann an die Griechen erinnert, wie folgt zusammen: „[I]hren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß (…) ‘Ich werde dadurch’, sagte ich, ‘an die Griechen erinnert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß wie uns dieses ihre Tragödie beweiset, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruhet, indem niemand der redenden Personen etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegenteil zu sagen wüßte.’“
Um die Ausbildung des Charakters möglich zu machen, bedarf es der Gesellschaft. Deshalb sagte Muhammad: „Der Gläubige ist der Spiegel des Gläubigen.“ In einem Spiegel ist es möglich, sich selbst zu sehen. Er trägt also zur Selbsterkenntnis bei. Zu wissen, wo man steht, ist notwendig, um die Schritte einzuleiten, die nötig sind, um sich dem Ideal der Menschheit zu nähern. Weiter sagte Muhammad: „Mit wem Gott Gutes vorhat, dem beschert er einen frommen Freund, der erinnert ihn, wenn er Gott vergisst, und hilft ihm, wenn er sich erinnert.“ Ein Freund dient dazu, die Fehler, die man selbst übersieht, zu erkennen und wenn man ihn erkannt hat, hilft er – wenn möglich –, diesen zu beseitigen.
Schlussendlich kann gesagt werden, dass bei Humboldt und in der islamischen Lehre von völlig verschiedenen Standpunkten ausgegangen wird, doch das Resultat in dieser Welt starke Gemeinsamkeiten aufweist. Der Charakter soll verbessert werden, Vernunft soll gelebt werden, nach Wissen soll geforscht werden, um dieses in den +Dienst der Menschheit zu stellen.