Die Bosniaken in der österreichisch-ungarischen Monarchie: eine nationale und religiöse Minderheit. Von Damir Saracevic

Ausgabe 206

(iz). Auf dem Berliner Kongress im Jahr 1878 beschlossen die damaligen Weltmächte die Besatzung Bosnien-Herzegovinas durch Österreich-Ungarn, und den Rückzug des Osmanischen Reiches aus dem Land. Das geschwächte Osmanische Reich verließ Bosnien-Herzegovina tatsächlich nach dem Berliner Kongress. Die selbstorganisierte bosnisch-herzegovinische Bevölkerung leistete allerdings Widerstand nach der Ankunft des neuen Reiches. Dieser unerwartete Widerstand war so heftig, dass der österreichisch-ungari­sche Kaiser die Zahl seiner Soldaten verdoppeln musste, um erst nach drei Monaten langen, schweren Kämpfen, die Hauptstadt Sarajevo zu besetzten. Trotz der österreichisch-ungarischen Besatzung war das Land formell bis zur Annexion im Jahr 1908 verwaltungstechnisch dem osmanischen Sultan unterstellt. Bosnien-Herzegovina bekam in der Monarchie den Status eines Bundeslandes mit eigener Landesregierung, die dem Finanzministerium in Wien unterstand.

Bosnische Veränderungen
Nach mehr als vier Jahrhunderte ­unter osmanischer Herrschaft, das heißt, ­unter politischem, gesellschaftlichem und spirituellem Einfluss eines islamischen Reiches, erlebten die Einwohner Bosnien-Herzegovinas mit der Ankunft Österreich-Ungarns im Jahr 1878 grundlegen­de Veränderungen ihres gesellschaftlich-politischen Systems. In Anbetracht dessen, dass die offizielle Schrift des neuen Reiches lateinisch war, und sich die Bevölkerung im bosnischen Paschaluk überwiegend der Arebica (arabische, dem bosnischen Lautsystem angepasste Schrift), und der Bosancica (vor allem in Adelskreisen) bediente, wurde ein Großteil der Bevölkerung über Nacht zu Analphabeten.

Etwa vier Jahre lang brauchten die Bosniaken, um neue Regeln zu setzen: Sie übernahmen die lateinische Schrift und sprachen ihre Volkssprache, das Bosnische. Eine entscheidende Rolle spielte dabei Mehmed-beg Kapetanovic Ljubusak, Bürgermeister von Sarajevo, mit der Veröffentlichung einer Sammlung bosniakischer Sprichwörter, Geschichten und Gedichte unter dem Namen „Der Volksschatz“. Er war auch Herausgeber der Zeitschrift Bosnjak (Bosniake), an der bis 1894 namhafte bosnisch-herzegovinische Schriftsteller wie Riza-beg Kapetanovic, Edhem Mulabdic und Safvet-beg Basagic mitwirkten. Safvet-beg Basagic war der erste Bosniake, der im Jahr 1910 in Wien zum Thema „Die Bosniaken und Hercegovcen auf dem Gebiete der islamischen Literatur“ promovierte. Professor Muhsin Rizvic bezeich­net die Zeit zwischen 1878 und 1882, als „die stille Zeit“.

Nationale Bewegungen
Aufgrund der Tatsache, dass im osma­nischen Bosnien das nationale Bewusstsein weder hervorgehoben wurde noch mit der heutigen Form vergleichbar existierte, wird mit Österreich-Ungarn Raum für das Wirken größerer nationaler Bewegungen geschaffen. Dies nutzten vor allem Bewegungen aus Belgrad und Zagreb, die mittels verschiedener

Organisationen auch in Bosnien-Herzegovina an der Nationalisierung der bosnischen Orthodoxen und Katholiken, welche sich immer häufiger als „Serben“ und „Kroaten“ deklarierten, arbeiteten. Dieser Teil der bosnisch-herzegovinischen Bevölkerung entwickelte bis dahin seine nationale Identität durch die Verbundenheit mit dem Land Bosnien. Prof. Marko Vego zitiert einen Brief des Papstes Urban V. aus dem Jahr 1386, in welchem die bosnische Nation erwähnt wird, womit die Angehörigen des bosnischen Staates gemeint sind. Die Angehörigen ̈rigen dieser bosnischen Nation wurden im Mittelalter Bosnjani, und zur Zeit der Osmanen Bosnjaci (Bosniaken), genannt.

Einer der bekanntesten serbischen Aufklärer, Dositej Obradovic, schrieb in ­einem Brief aus dem 18. Jahrhundert an den Triester Handelsmann Haralampi über die Einwohner Bosnien-Herzegovinas: „(…) so wie ihre Uhrgroßväter waren, so werden auch ihre letzten Enkel sein: Bosniaken und Herzegoviner, solange Gott über die Welt bestimmt.“ Diese gemeinsame bosnisch-herzegovinische Identität findet sich heute weitgehend in der Bezeichnung „Bosnier“ wieder, so wie auch in anderen Ländern die Staatsbürger Bosnien-Herzegovinas genannt werden.

Als eine der Folgen der Nationali­sierung von außen kann auch die Anordnung der Landesregierung vom 04.10.1907 gesehen werden, die besagte, dass „die Bezeichnung ‘bosnische Sprache’ völlig verschwinden und die Landessprache ‘Serbo-Kroatisch’ heißen soll.“ Mit diesem Verbot wird vorübergehend die jahrhundertealte Tradition, die Volkssprache „Bosnisch“ zu nennen, unterbrochen. Beispielsweise erwähnte schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts der bekannte byzantinische Schriftsteller Konstantin der Philosoph in seinen Briefen die bosnische Sprache.

Alle diese großen Verä̈nderungen in der damaligen Gesellschaft und die Angst vor einem neuen Reich, waren die Haupt­grü̈nde für die Auswanderung vieler muslimischer Bosniaken in die heutige Türkei. Dort ließen sie sich vor allem in den Städten Izmir, Bursa und Istanbul nieder­.

Minderheitenschutz und Fortschritt
Die neu entstandene Situation war eine große Herausforderung für die Donaumonarchie, vor allem hinsichtlich der Integration der muslimischen Bosniaken im neuen Reich. Allein die Tatsache, dass sich die Monarchie im Artikel 25 des Berliner Kongresses verpflichtet hatte, dieser Gemeinschaft Schutz zu bieten und Fortschritt zu ermöglichen, stellt einen Präzedenzfall in der Geschichte der Menschheit dar beziehungsweise es hat sich zum ersten Mal das dominierend katholische Reich verpflichtet, eine muslimische Gemeinschaft zu schützen. Im Gegensatz dazu, im Jahr 1463, das heißt, 415 Jahre vor dem Berliner Kongress, hieß es in einem Erlass des Sultans Mehmed Al-Fatih, die bosnischen Franziskaner haben Recht auf persönliche Freiheit, Recht auf Religionsfreiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Versammlung und auf Reisen durch das gesamte Osmanische Reich. Diese Urkun­de, die auch als Modell für die universellen Menschenrechte angesehen werden kann, befindet sich heute im Franziskanerkloster „Der Heilige Geist“ (Duha Svetoga) in Fojnica (Bosnien-Herzegovina). Folglich kann man sagen, dass Bosnien-Herzegovina, parallel zu den negativen Erfahrungen, bereits seit Jahrhunderten eine Kultur des guten Zusammenlebens pflegt und all seine Unterschiede in ein einzigartiges Ganzes ­zusammenfasst.

Eigene Struktur
Im Rahmen der Donaumonarchie wurde im Jahr 1882 eine eigene Struktur der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegovina, mit dem Reisu-l-ulema (Großmufti) an deren Spitze, geschaffen. Das neue Reich erkannte auch die Scharia-Gerichte für private Streitigkeiten unter den Muslimen an, und initiierte den Bau der Scharia-Schule, der heutigen Fakultä̈t für Islamwissenschaften in Sarajevo im Jahr 1887. Die Schule wurde in einem pseudomaurischen Stil erbaut und spiegelt mit ihrem Aussehen den Islam in Europa wider. Erwähnenswert sei außerdem, dass als Vorläufer der Fakultät für Islamwissenschaften und der Juristischen Fakultät in Sarajevo die Gazi Husrev-Beg-Madrasa (islamische Hochschule) gilt. Sie wurde im Jahr 1537 gegründet und ist eine von wenigen Bildungseinrichtungen in Europa, die 474 Jahre ununterbrochenen in Betrieb ­waren. In diesem Zusammenhang sagte einer der bedeutendsten kroatischen Schriftsteller, Miroslav Krleza: „Einige der ältesten Schulen wirkten doch in Bosnien, wenn wir also die Entstehung der Universitäten rund um die Jesuiten-Schulen in Zagreb feiern, warum also die bosnischen Madrasen vergessen, die viel älter sind.“

Österreich-Ungarn kurbelte die Industrialisierung. In Sarajevo wurden in dieser Zeit das Landesmuseum und das Volkstheater erbaut. Im Jahr 1885 wurde die erste Straßenbahn am Balkan und in Zentraleuropa in Betrieb genommen. Im ganzen Land wurden noch zahlreiche Gebäude im pseudomaurischen Stil erbaut, das bekannteste jedoch ist das Rathaus in Sarajevo (später die Nationalbibliothek Bosnien-Herzegovinas), die offiziell 1896 erö̈ffnet wurde. Die Moschee Kemal II. in Kairo wurde zum Vorbild beim Bau des Rathauses in ­Sarajevo.

Anerkennung des Islam
Wegen der muslimischen Bosniaken verabschiedete die Donaumonarchie im Jahr 1912 auch das Islamgesetz. Aufgrund dieses Gesetzes wurde die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich gegründet, die zurzeit die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Österreich darstellt. Der österreichische Kaiser Franz Joseph schenkte bereits 1916 wegen der Tapferkeit und Loyalität der muslimischen Bosniaken im Ersten Weltkrieg Geldmittel in Höhe von 25.000 Goldkronen für den Bau einer Moschee in Wien. Diese Initiative dauerte bis zum Kriegsende an und wurde aufgrund des Zerfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie unterbrochen.

Im Ersten Weltkrieg
Das Attentat von Sarajevo vom 28.06.1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine schwangere Frau Sophie, das von Gavrilo Prinzip mit Hilfe der serbischen geheimen Offiziersorganisation „Schwarze Hand“ begangen wurde, war der offizielle Auslöser des Ersten Weltkrieges, der ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Bereits seit 1882 förderte als Gegengewicht zur serbischen und kroatischen Nationalisierung der bosnisch-herzegovinischen Bevölkerung und der Verbreitung der Idee vom Panslawismus, der österreichisch-ungarische Gouverneur von Bosnien-Herzegovina, Benjamin Kallay, die Idee vom Bosniakentum beziehungsweise von einer einheitlichen bosniakischen Nation – unabhängig von der Religionszugehörigkeit. So gingen die Bosniaken aller Glaubensbekenntnisse als eine gemeinsame Nation in den Krieg und werden aufgrund ihrer Unerschrockenheit und ihres Mutes zur Eliteeinheiten der Österreichisch-Ungarischen Armee. Nur den Bosniaken wurde in der kaiserlichen Armee das ­Tragen eines besonderen Kennzeichens – des Fez – erlaubt. Den Muslimen unter ihnen wurde ermöglicht, ihre Gebete zu verrichten, sie hatten ein eigenes Gebetshaus in der Wiener Kaserne, für sie ­wurde das Essen ohne Schweinefleisch zubereitet usw.

Andererseits erwiesen sich die Bosniaken als gute Kämpfer, die tapfer die Donaumonarchie verteidigten. Sie wurden während des Ersten Weltkriegs mit 35.613 Tapferkeitsmedaillen ausgezeich­net und waren damit das am meisten ausgezeichnete Regiment der gesamten österreichisch- ungarischen Armee. Demzufolge heißt einer der bekanntesten Kriegsmärsche dieser Zeit „Die Bosniaken kommen“. Wenn wir über die Bosniaken als militärisches Wunder sprechen, so Prof. Alfons Dalma 1987 in Graz bei einer Jahresfeier zum Gedenken der Schlacht um Monte Meletta, ist eine historische Erklärung dieses Phänomens nur in dem Maße möglich, wie die größten menschlichen Leistungen und Tugenden überhaupt veranschaulicht werden können. Auf dem Sol­datenfriedhof von Lebring bei Graz, wo im Ersten Weltkrieg der Ersatztruppenkörper des bosnisch-herzegovinischen ­Infanterieregimentes 2 stationiert war, sind 805 Bosniaken begraben. Eine kleinere Zahl von ihnen liegt auf dem Militä̈rfriedhof in Innsbruck. Sogar auf dem Waldfriedhof in Linz/Urfahr ruhen 13 Bosniaken aus dem Ersten Weltkrieg. Die Donaumonarchie zerfiel nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1918.

Gelungene Integration
Trotz der Tatsache, dass die österreichisch-ungarische Monarchie als Siegermacht nach Bosnien-Herzegovina kam, und dass die starke Industrialisierung, gefolgt vom Ausbau der Straßen und des Schienennetzes vordergründig der Ausbeutung der bosnisch- herzegovinischen natürlichen Ressourcen diente, kann man sagen, dass zur Zeit der Monarchie in Bosnien-Herzegovina die Integration von Minderheiten besonders gut gelungen ist, und dass dieses historische Beispiel in vielerlei Hinsicht für die heutigen ­Staaten Westeuropas als Vorbild dienen kann.

Der Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen, basierend auf gegenseitigem Kennenlernen, Anerkennung und Wertschätzung, sowie die Ermöglichung des Fortschritts, waren die Hauptgründe für die Loyalität der Bosniaken, die sich am besten in ihrem Einsatz für die Donaumonarchie – ihrer Heimat im weiteren Sinne – während des Ersten Weltkrieges äußerte.